DIESE ALLE
die toten lassen mich nicht in ruhe.
sie schreien. sie spielen
tischtennis über größere entfernung.
um atem zu holen bücken sie sich
beim aufschlag. wie kinder
zahlen sie die hälfte wenn sie raus-
gehen. oder wenn sie reinkommen.
hamlet ist keiner von ihnen.
doch er hört ihnen zu. hamlet
ist ihr größter fehlschlag.
viel lieber als ihn zeigen sie dir
ihren rücken wenn ein ball auf-
schlägt und sie mit der zunge den mund
aufsperren um ihn zu empfangen.
trotzki steht ihnen nahe weil er
schweigt wie ein roller mit den rädern
nach oben.
er macht ihnen die mutprobe vor
indem er vorm haus
auf und ab geht
und an dem engel aus essig lutscht.
kotzki ist ihr fall ohne
auferstehung ohne brüstung ohne konzept.
Die Abfolge der Texte und Sprachblätter, die dieses Buch transportiert, folgt dem Ergebnis einer Reihe von Selbstversuchen zu der Frage: Läßt sich ein durchgehender, nichtlinearer Lese-Prozeß aus Lese-Prozessen, deren jeder au fond autonom verläuft, anregen? Also experimentelles, kombinatorisches Lesen, das mit dem Schluß des Buchs nicht endet.
Franz Mon operiert diesseits von Systemautomatik natürlicher Sprache, auch dann, wenn er ihr Regelwerk benutzt. Durch willentliche Unterbrechung eingefahrener Abläufe legt er die basale Dimension in Sprachdenken, Sprechen, Schreiben, und deren Vernetztsein mit Wahrnehmungstätigkeit, das heißt Sinnesrealität, frei. Zusammenklebende, stumpfe Sensorien und Bewußtseinsschichten beginnen, sich voneinander zu lösen, kommen in Bewegung. Nicht-mehr-Bewußtes und Noch-nicht-Bewußtes springen aus den Erregungsfeldern, die Franz Mon zwischen bestimmten Worten erzeugt, um zu Bewußtsein. Unterbrochen-gleitende Bewegungen, Zusammenprall, Drehung, Wechselschaltung von Worten auf Gegenworte, fließende Wendungen schließen sich im Lesenden zu Wort-Situationen und -Verhältnissen zusammen, die unmittelbar, nämlich durchschlagend mit Sinneserfahrung, gesellschaftlichen Prozessen, Existenz zu tun haben.
Sein erstes Buch – artikulationen – ist Rückblick, mikroskopisch durchstrukturiertes, nach vielen Seiten hin offenes Fundament, und Antizipation. Startbasis.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entwickelt Franz Mon mit transzendierender Energie ein Werk, dessen Aktionsradius selbst das sich selbst Fremde, das Gegenstands-, das Selbst-Bewußtsein heißt, bestimmbar Unbestimmbares, Differentes in Mikro- in Makro-Prozessen erfaßt. Und das durch die ihm immanente Wechselwirkung zwischen Innovation und Reflexion unaufhörlich neue starting points entstehen läßt.
Carlfriedrich Claus, Vorwort, Mai/Juli 1991
ist ein opulentes Sprachbilder- und Lesebuch, das zwei Klassiker experimenteller Literatur und Kunst vorstellt: Carl Friedrich Claus hat Texte von Franz Mon aus 40 Jahren ausgewählt (darunter zahlreiche bisher unveröffentlichte) und zu seinen Sprachblättern (und Notaten) in Beziehung gebracht. Ein Kritiker schreib 1968 zu einem Buch Mons, daß es eine „Musterkarte aller experimentellen Tendenzen unseres Jahrhunderts“ sei. Erst recht träfe solches Urteil für den vorliegenden Sammelband zu. Unmöglich, all die Wort-Konstellationen und Permutationen, die Textlabyrinthe und –flächen, die Schrift-Bild-Collagen, die Verlautbarungen der Sprache im Sprechen und die theoretischen Erörterungen Mons hier darzustellen und auf ihre Ergiebigkeit hin zu befragen. Ebenso unmöglich ist es, die Vibrationen und Impulse der Schrift-Bilder und Bildschriften Claus’ auf den Begriff zu bringen. Beide Künstler erforschen die Sprache als sinnliches Geschehen und leibhaftigen Prozeß, um zur materialen Erfahrung von Sprache zu kommen.
Gilt für das Alltagsleben, daß Sprache ihre Funktion dann erfüllt, wenn sie in ihr verschwindet, so wird bei Mon ihr Funktionieren derart hervorgekehrt, daß die Bedeutungen zur Nebensache werden – zu werden scheinen. Denn der Historizität der Wörter ist nicht nur nicht zu entkommen, Mons poetische Orientierung richtet sich vielmehr darauf, diese Geschichtlichkeit in den Redewendungen und -windungen aufflackern zu lassen. Man wird also bei der Lektüre seiner Texte – die Anleihe bei der Computersprache ist so abwegig nicht – häufig die Escape-Taste betätigen müssen, um zwischen dem Betriebssystem Sprache und einem auf Sinnsuche eingerichteten Anwendungsprogramm zu wechseln.
Nicht wenige Sprach-Spiele mons, erst recht seine Betrachtungen zu modernen Kommunikationsweisen, über nach wir vor geistigen Reiz aus. Andererseits bleibt das Ausgereizte und Überreizte von „Letteratur“ nicht verborgen. Auch experimentelle Literatur altert, und ihre Fortsetzung gelingt nur als Fort-Setzung. Das Spiel ist die Regel.
Jürgen Engler, Freitag, 8.5.1992
− Arbeiten von Franz Mon und Carlfriedrich Claus in einem Band des janus press Verlages. −
Alte Freunde haben in vertrauensvoller Zusammenarbeit ein Buch ihrer Arbeit in der Kunst der letzten vierzig Jahre geschaffen. Carlfriedrich Claus, der 1930 in Annaberg/Erzgebirge geborene und immer noch dort lebende Schriftsteller und Grafiker, hat mit größtem Respekt eine Auswahl von Texten Franz Mons getroffen und sie zueinander und seinen Sprachblättern gegenüber in Beziehung gesetzt. Der 1926 in Frankfurt/M. geborene Franz Mon ist seit den späten 50er Jahren als Autor experimenteller Poesie einer kleinen Schar Eingeweihter europaweit bekannt. Er hat wesentlich die Konzepte der konkreten Poesie mitgeschrieben und immer wieder mit überraschenden Ideen, Bild- und Wortlösungen vorangetrieben. Die erste Begegnung zwischen beiden liegt noch in der Zeit vor dem Mauerbau.
Franz Mon hält sich konsequent und ausschließlich im Experimentierfeld der Kunst auf, will und braucht keine Kompromisse einzugehen, da er sein Brot als Lektor verdient. Claus war durch einige wenige Ausstellungen und Editionen in kleinen Editionen in der DDR und BRD (schon 1964!) hervorgetreten, Kunstwissenschaftlern, Künstlern und Sammlern durchaus ein Begriff. Beiden kam die Konzentration auf den Gegenstand ihrer Kunst, jenseits von Moden und Trends zugute.
Die Ergebnisse werden in diesem Buch stellvertretend und chronologisch vorgeführt. Mon ist mit dem gesamten Spektrum seiner Arbeiten vertreten. Es finden sich Texte unter anderem aus den Büchern artikulationen (1959), lesebuch (1967), fallen stellen (1981) und Knöchel des Alphabets (1989). Dabei wird die Entdeckungsreise beim Umgang mit dem Wortmaterial nachvollziehbar. So ist die Entwicklung der Wort- und Bildsuche über die ihn in den 50er Jahren beschäftigenden Konstellationen von Wörtern und Wortgruppen zu erleben. Ebenso Mons Verformung von Textsequenzen und –fragmenten zu Textsplittern und –collagen, angeführt sind die damit auftretenden Bild- und Schriftkontaminationen. Die Arbeit mit den Buchstabenformen und den Fragmenten davon folgt darauf. Der Leser und Betrachter lernt sogenannte Streifentexte und Preßtexte kennen. Diese haben sich bis zu den sogenannten Fensterbildern entwickelt, als Collagenuntergrund genutzten alten Fensterrahmen in Mons Werk. Zu diesen poetischen Bildlösungen reihen sich Filmmanuskripte, Hörstücke sowie theoretische Texte zur Sprache, Poetik, Philosophie, Kunst und Architektur.
Claus’ Sprachblätter stehen dazu in hervorragender Weise. Illustrationen sind sie nicht, sondern selbständige, den Texten gegenüberstehende Grafiken. Sie sind einzigartig – und auch vorzüglich reproduziert. Es sind nicht nur die beidseitig bemalten transparenten Blätter sehr gut wiedergegeben, sondern sogar zwei solcher Blätter auf transparentem Papier bedruckt und lose dem Band beigelegt.
Der Verleger des Buches, Gerhard Wolf, ist ein Freund von Claus seit Ende der 60er Jahre. Zitate aus Texten und Briefen, mit Hinweisen auf die Entstehungszeiten belegen die Querverbindungen zwischen den Autoren und dem Verleger. Diese nicht zufällige Konstellation, Arbeitsteilung, Freundschaft und Respekt, macht es möglich, so ein Unternehmen wie dieses Buch in dieser Qualität zustande zu bringen.
Der Vorzugsausgabe liegen eine Original-Grafik von Carlfriedrich Claus und eine Original-Collage von Franz Mon bei.
Uwe Warnke, Berliner Zeitung, 8.4.1992
− Ernst Jandls deutscher Kollege: Texte von Franz Mon aus 40 Jahren. −
Franz Mon, 1926 in Frankfurt am Main geboren, war einer der prominentesten Vertreter der deutschen „konkreten poesie“ der fünfziger und sechziger Jahre. Mon verfasste auch mehrere theoretische Schriften und Essays, die zu programmatischen Schriften der konkreten und visuellen Poesie wurden. Während in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich der sprachexperimentellen Literatur bis vor kurzem nur noch in kleinen Zirkeln und Freundeskreisen gehuldigt wurde, erlebten ihre wichtigsten Repräsentanten von einst in der DDR eine ungeahnte Renaissance.
Die Texte von Eugen Gomringer, Franz Mon, Helmut Heißenbüttel, aber auch ihrer Wiener Kollegen (besonders jene von Ernst Jandl) wurden in den achtziger Jahren von den jungen Dichtern Ost-Berlins studiert, diskutiert und nicht zuletzt – für die eigene Arbeit geplündert. Eine richtige Epidemie erfasste die Literatenzirkel. Die ausführliche Beschäftigung mit der jüngsten Literatur der DDR verstärkte das Interesse an ihren Vorbildern auch im Westen.
Der Schriftsteller und Graphiker Carlfriedrich Claus, 1930 in Annaberg im Erzgebirge geboren, inzwischen berühmt geworden durch zahlreiche Ausstellungen seiner „Sprachblätter“, hat unter dem Titel das wort auf der zungen eine Auswahl von Gedichten, Dialogen, poetischen Reflexionen und Schriften Franz Mons zusammengestellt.
Einige Texte Mons werden hier zum ersten Mal veröffentlicht. Strukturiert wird der Band durch Graphiken und Collagen Mons sowie durch ausgewählte Sprachblätter von Claus, denen kurze Kommentare beigefügt sind. Die Assoziationen von Carlfriedrich Claus zu den Texten Mons lassen sich leicht nachvollziehen, und so ergibt sich im nachhinein tatsächlich so etwas wie ein gemeinsames Werk, das zugleich auch Neugier auf jeden einzelnen Künstler beschert.
Beide Autoren dieses Bandes erproben Sprache nicht als funktionales, sondern als sinnliches, materiales Geschehen, als sichtbaren, zeichenhaften Prozeß, hinter dem sie ein eigenständiges Reich der Zeichen erforschen.
Die Worte hüpfen von der Zunge herab – und führen ein wildes Eigenleben. So führen etwa die „5 beliebigen fassungen eines textes aus einem satz“ aus dem Jahr 1966 Varianten der Satz- und Sprachzerlegung vor, die übrigens auch Autoren wie Thomas Kling, Jan Faktor oder Werner Schwab für ihre Arbeit studiert haben könnten.
Anderes in diesem Band hat ohne Zweifel inzwischen etwas Staub angesammelt, besitzt sozusagen eher dokumentarischen Wert. Die aufstörende Provokation von einst (fünfziger Jahre!) ist zwar noch zu erahnen, aber sie stellt sich heute nicht mehr ein. Hingegen bleibt aber zu sagen, dass dieser große, weiße Band aus Gerhard Wolfs Berliner janus press, Kunstband und Lesebuch zugleich eines der schönsten und aufwendigsten Bücher ist, das in meinem Regal deutschsprachiger Literatur zu finden ist.
Klemens Renoldner, Die Presse, 4.7.1992
Indem Gerhard Wolf in seiner janus press nun Franz Mon vorstellt (und im nächsten Jahr womöglich mit einer Werksausgabe beginnt), schafft er ein produktives Spannungsfeld zwischen der Generation der Konkreten Poesie und der der jungen Schriftsteller, die in den letzten Jahren mit einer das Material Sprache reflektierenden Literaturauffassung auf sich aufmerksam machen konnten und gelegentlich als neoexperimentell rezipiert werden: Ihre ostdeutsche Fraktion wurde und wird von Gerhard Wolf gefördert und gedruckt. Der Rückgriff auf einen Beinahe-Klassiker ist auch eine Gelegenheit, sich mit einem Autor wieder zu beschäftigen, der im Literaturbetrieb keine grosse Rolle mehr spielt.
das wort auf der zunge ist ein ungemein schön gemachtes Buch: Carlfriedrich Claus, dessen Denklandschaften in Schrift-Bildern 1991 in der Retrospektive „Erwachen am Augenblick“ in mehreren Städten zu sehen war, hat Mon-Texte aus vierzig Jahren ausgewählt (17 davon werden hier erstmals veröffentlicht) und zu seinen Sprachblättern in eine sehr subtile Wechselbeziehung gebracht. Von Mon sind auch visuelle Arbeiten im Buch, und von Claus Fixierungen seiner den grafischen Prozess ermöglichenden intellektuell-sprachlichen Überlegungen. Auch dadurch wird ein Kunstkonzept verdeutlicht, das nicht Spezialistentum anstrebt, sondern eine umfassende Sicht möchte, die sich bei Gattungsgrenzen nicht aufhält. Wie unverbraucht dieser Ansatz ist, sieht man beispielsweise an den Programmen der jungen Ost-Berliner Verlage: Text und Bild gehören hier zusammen, und so mancher Prenzlauer-Berg-Dichter versucht sich auch in anderen Kunstgattungen.
Lässt sich ein durchgehender, nichtlinearer Lese-Prozess aus Lese-Prozessen, deren jeder au fond autonom verläuft, anregen? Also experimentelles, kombinatorisches Lesen, das mit dem Schluss des Buches nicht endet.
Diese den aktiven Leser stimulierende Fragestellung stellt Claus an den Anfang des Buches, im Verlauf plädiert Mon für einen „erschwernis der lesbarkeit“: „die lesedauer verändert auch die qualität des aufgenommenen es ist daher berechtigt sie durch die entsprechende darbietung des textes zu regulieren“. Also ein „gebremstes, aufgerauhtes Lesen“, denn: „Dem konventionellen sitzt ein kombinatorisches Lesen auf“. Der Leser wird also nicht unterhalten, er wird eingeladen zur Arbeit. Wer etwas macht, kann etwas verändern. Wer etwas geboten bekommen will, geht immer leer aus.
Mon lockt den Leser nicht durch Reize, er verzichtet auf jegliche Entertainment-Oberflächenstruktur, die bei den jungen Schriftstellern bevorzugt wird. Temposchübe oder expressive Passagen wird man hier nicht finden: kein Glamour-Drive, kein Slang, kein Rotwelsch, nichts Anarchisch-Schrilles. Auf die zunehmende Beschleunigungen im Alltag reagiert Mon nicht dadurch, dass er rhythmisch komplexe Geschwindigkeiten in die Struktur der Texte installiert, die Reizfluten konfrontiert er nicht mit subversiven. Er ist auf andere Weise subversiv: Er mutet dem Leser die Kraft zu, immer wieder für Stunden aus den ihn allseits umgebenden Betäubungsangeboten der Beschleunigung herauszukommen und sich auf ganz Weniges intensiv einzulassen. Das erfordert Geduld und Opfer. Die lauteren, mit üppigeren Strukturen arbeitenden jungen Sprachinstallateure hingegen setzen viel stärkere Oberflächenreize ein und machen es dem Interessenten leichter, sich auf Texte einzulassen. Beide Wege führen zum gleichen Kern: so wie es auch Meditationstechniken gibt, die die körperliche Verausgabung voraussetzen, um zur Stille zu kommen.
„Antikontemplative Meditation“ heisst ein Sprachblatt von Claus, und eine Notiz betitelt er mit „Vom Tod her leben“. Auch Mon geht es, zumindest im umgangssprachlichen Sinn, um eine meditative Sicht. Er versenkt sich, beispielsweise im Filmexposé „Erwartung“, in Erfahrungen mit der Mikrostruktur der Dingwelt. Seine mikroskopische Perspektive führt zum Alphabet, für ihn eine abstrakt-konstruktive Leistung, zu den kleinsten Teilen, die die Strukturen prägen, die wiederum die Inhalte lenken. Aktives Lesen als eine Form von Selbsterfahrung:
aus den entfernungen, die zwischen den eckwörtern und den hinzugefügten wörtern bestehen, kannst du schlüsse ziehen auf dein eigenes wohlbefinden, deine vorlieben, deine organisationskraft, deine geschicklichkeit im vermeiden unliebsamer konstellationen.
Carlfriedrich Claus führt den sehr vielseitigen Mon, der Lyrik, experimentell-surreale Prosa, Hörtexte, visuelle Gedichte, mediale Texte, Collagen („dinge und wörter ein kaum mehr trennbares konglomerat“) und theoretische Darlegungen (darunter auch „Notizen zu einer labyrinthischen Architektur oder über ein automobiles theater“) als Formen nutzt, als jemanden ein, der Erregungsfelder zwischen bestimmten Worten erzeugt, aus denen Nicht-mehr-Bewusstes und Noch-nicht-Bewusstes in Bewusstsein umspringen.
Und selbstverstänlich ist „das wort auf der zunge“ auch ein politisches Buch. Die Position von Mon geht über das hinaus, was die „Inhaltstölpel“ (Peter Sloterdijk) als engagiert-humanistische Etiketten zwischen ihre Schutzumschläge kleben:
Die Unversöhnlichkeit zwischen experimenteller Kunst und einer Gesellschaft, die im ganzen konformistisch sein muss, weil der zivilisatorische Existenzapparat nur so in Gang bleibt (…) ist konstitutiv.
Literatur sieht er „in einem eigenwilligen Bezug zu dem zivilisatorischen Verschriftungs- und Vertextungsprozess“, er registriert – und ist hier den jungen Sprachkünstlern sehr nahe – eine „gestisch verlaufende sprache“:
unmittelbar an der artikulationsschwelle, wahrnehmbar im genauen, kauenden bewegen der sprechorgane, liegt die schicht von ,kennworte‘, die diesseits der bildhaftigkeit schon uns unter die haut gehen.
Wörter als „reizgestalten einer wirklichkeit, die wir oft nur mit ihrer hilfe zu erreichen vermögen“. Einem seiner Essays stellt Mon ein Zitat von Krucenych und Chlebnikov voran.
Wir hingegen denken, dass die Sprache vor allem Sprache zu sein hat, und wenn sie an irgend etwas erinnern soll, dann am ehesten an eine Säge oder an den vergifteten Pfeil des Wilden.
Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 4.6.1993
Mein nun schon traditioneller Tip für all jene, die sich pro Jahr gerade ein Lyrikbändchen zulegen, und der perspektivisch so angelegt ist, dass mit den Jahren auch diese verhärteten Herzen mit einem Breitenspektrum von Spitzenqualität in ihrem Bücherregal renommieren können, ist diesmal auf ein dickes Abenteuerbuch und ein ganz schmales unscheinbares Bändchen gesplittet, was weniger einem inneren Kompromiß oder einer Ratlosigkeit entspringt (ich hätte Achleitner auf die Topposischn geschupft), als der Furcht, der Leser und Käufer könnte nach Erwerb dieses Bändchens wegen Mangelwirtschaft frustriert sein.
Das Abenteuerbuch, ein Buch zum Vor- & Zurückblättern, zum An- & Wiederlesen, zum Durcharbeiten und einfach auch Schauen, versammelt Texte des „Avantgardisten“ Franz Mon aus vierzig Jahren. Mon, als Franz Löffelholz 1926 in Frankfurt geboren, ist ein Vertreter der „Konkreten Poesie“, der zeichen und Worte als Material benutzt, durch Collagieren und Schnittechniken vorgefundenen Sprachmüll verarbeitet und in neuen Konstellationen Reibung, Befremden, Erkennen erzwingt, aber auch einen fabelhaften Unterhaltungswert garantiert. Das Gedicht „das hirn abbalgen“ ist komponiert wie ein exzellentes Stück Minimal-Musik. Er legt gewaltige Wortvorräte an und webt daraus summende, brummende Teppiche, er vertauscht Verben und Adjektive listig in brisanten Texten und evoziert damit beim Leser unwillkürlich die richtigen, die der vielleicht schon lange nicht mehr hinzugedacht hat, aus Stumpfheit oder Selbstschutz. Er spiegelt Texte, er spiegelt Bedeutungen so, dass wir sie durchschauen als sei’s das erste Mal. Er macht Ausflüge in die visuelle Poesie, es gibt Ausschnitte aus Hörstücken & -spielen und Überlegungen auf dem Weg zu einer „Theorie der modernen Künste“. Bei aller vollentfalteten Spiellust und Experimentierfreude, bleibt er beim Bewusstsein davon, dass unsere Sprache nicht ohne ihre Transport- & Kommunikationsfunktion gedacht werden und aus ihren Bedeutungen nicht entlassen werden kann. Er drückt das, Lehrstück für so manchen Zeitgenossen und sofort überprüfbar für den Leser, in folgendem (hoffentlich) ironischen Vers aus:
VON FALL ZU FALL
afghanistan: ist nur ein wort
eben emael: ist nur ein wort
sonderfall ist nur ein wort
zubereitet ist dieses wort
aufgedeckt liegt wort an wort
fortgesetzt wird wort für wort
Und immer noch nicht genug: Mon steuert auch einen Illustrationsteil bei, Collagen und Schriftbilder, die nostalgische Erinnerungen an die Schnipselkunde der Dadaisten oder der Futuristen wecken. Ein Schatten, der auf dieses gewichtige und schöne Buch eines neuen, offenbar mutigen und zu allen entschlossenen Verlags fällt, sei nicht verschwiegen. Ein Carlfriedrich Claus hat den Band durchgehend illustriert, durchaus ansprechend. Leider musste er sich auch noch wichtig machen und jede seiner Illustrationen kommentieren, zum Teil mit wichtigen Passagen aus wichtigen Briefen an ungeheuer wichtige Briefpartner. Und was sich da entfaltet ist unsere Hochkulturhochstapelei, getürmte Scheiße bis zum Anschlag. Was soll das in einem Buch Franz Mons?
Wilhelm Pauli, aus: „Wo Frosch war, soll Prinz werden“, Kommune, Mai 1992
Mit dieser deutsch-deutschen Retrospektive von poésie concrète und skripturaler Graphik ist den Autoren und der von Gerhard Wolf betreuten janus press ein bemerkenswert schönes Buch gelungen. Franz Mon gilt seit der Veröffentlichung seiner artikulationen im Jahre 1959 als Pionier der visuellen Poesie im deutschen Sprachraum. Schon früh konfrontierte er seine konkreten Gedichte mit geschliffenen Essays über die historische Konstruktion des Alphabets und die piktographische Vergangenheit der Zeichen. Handschriftliches spielte bei seinen Arbeiten nur selten eine Rolle, dafür liebte er seine Schreibmaschine und die Zeitungslettern.
Ganz im Gegensatz zu Carlfriedrich Claus, der die Texte von Franz Mon für diesen Band ausgewählt und in Beziehung zu seinen eigenen „Sprachblättern“ gesetzt hat. Als Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungen – die von der offiziösen Kunstkritik der DDR anfangs als Verfallsprodukte des westlichen „Formalismus“ denunziert wurden und späterhin weitgehend unbeachtet blieben – nehmen sie eine Zwischenstellung zwischen Literatur, bildender Kunst und wissenschaftlicher Annäherung ein. Der weitgesteckte Horizont dieses Eremiten aus Annaberg-Buchholz in Sachsen, der in der Unbedingtheit seines Kunstwollens fast einem Flaubertschen Künstler-Ideal entspricht, reicht von der Philosophie über die Psychologie bis in Tiefenstrukturen historischen Wissens. Das Verfließen der Grenzen zwischen Graphik, Sprache und reduktiver und reproduzierbarer moderner Linguistik scheint mir das eigentlich Originäre dieser Arbeit zu sein. In seinen skripturalen Graphiken – meist beidseitig auf transparentem Papier ausgeführt – überlagern sich Räume unterschiedlichster Dimensionen und Perspektiven und erzeugen so eine Dynamik, die den Betrachter in ihren Bann zieht, auch wenn er mit der Sprachphilosophie von Claus nicht vertraut ist. Anders als Paul Klee, Wolfs oder Altenbourg – der andere große Einzelgänger der Kunst aus der DDR – versteht Claus seine Arbeiten in einem direkten Sinne als Erkenntnisinstrumente. Doch wie schon gesagt: Man muß seinen Theorien über nichtlineare Lese-Prozesse nicht unbedingt folgen, um von der graphischen Qualität dieser Blätter begeistert zu sein. Zur japanischen Kalligraphie oder der skripturalen Kunst der arabischen Buchmalerei schlagen sie allenfalls formale Brücken, ihre geistige Welt ist die der europäischen Moderne.
Daß die stummen geometrischen Zeichen die Vielzahl der miteinander konkurrierenden Sprachen aussöhnen könnten, bleibt heute ebenso eine Hoffnung wie zu Velimir Chlebnikows Zeiten.
Andreas Kühne, Süddeutsche Zeitung, 16.9.1992
− Franz Mon zu Gast in Niedlichs Literarischem Salon. −
„Wir leben in einer Welt, die ununterbrochen neue Bedeutungskomplexe hervorbringt“, formuliert der Literaturtheoretiker, Lyriker, Hörspielautor und Prosaist Franz Mon eine seiner poetologischen Grundüberzeugungen.
In den 50er und 60er Jahren traf der gebürtige Frankfurter, der auch heute noch in Frankfurt lebt, mit dieser Erkenntnis auf wenig offene Ohren. Denn obwohl er gemeinsam mit anderen Vertretern der sogenannten Stuttgarter Schule (der Kreis um Max Bense und Helmut Heißenbüttel), die experimentelle Literatur zum wichtigen Wegbereiter der Gegenwartsliteratur machte, prägte bis in die frühen siebziger Jahre weitgehendes Unverständnis die Literaturrezeption. Für Wendelin Niedlich ein Anlaß, bei der Matinee im Kleinen Haus aus alten Zeitungskritiken zu zitieren; augenzwinkernd und mit dem Hinweis darauf, dass die beste Möglichkeit zum Verständnis dieser Texte eben doch die eingehende Lektüre derselben sei.
Trotzdem ließ die direkte Begegnung mit dem inzwischen einundsiebzigjährigen Franz Mon, dessen drahtige Präsenz so manchen Dreißigjährigen alt aussehen lässt, mehr entstehen als jedes Studium. Es war das pure Vergnügen. Aus bislang unveröffentlichten Texten der 90er Jahre sprach Mon von Dingen, die jenseits des Alltäglichen liegen und die durch die Vokalfärbung seines Frankfurter Dialekts einen eigentümlichen Charme gewannen. Ein Sprachfanatiker, dem sicher nicht zu Unrecht ein erotisches Verhältnis zur Sprache nachgesagt wird. Und ein sensibler Forscher, der seine Hörerschaft umsichtig in Welten entführt, die so noch nicht bestanden hatten.
Es ist wie ein Kick in die Virtualität: Das Sprachmaterial – Phrasen, Laute, Silben, Buchstaben, scheinbar ungeordnet und beliebig – gewinnt durch „äußere“ Zuordnungskriterien (mal ist es das Alphabet, mal sind es andere, klar formulierbare, niemals jedoch semantische Zuordnungen) eine neue Struktur und eine neue Bedeutung. Mon experimentiert mit feinfühligem Humor und hintergründigem Witz. Seine Lust, neue Begriffe zu schaffen, scheint unerschöpflich. Selbst Redewendungen und anderen semantischen Unrat nutzt er zur Erschließung neuer Wirklichkeiten, die so spannend und vergnüglich, so aufrührerisch und anrührend sind wie der berühmte Traum, dem das harsche Klingeln des Weckers ein jähes Ende setzte…
Eine vierbändige Ausgabe der Werke von Franz Mon liegt jetzt bei der janus presse Berlin zum Preis von 138 Mark vor.
Hanna Mainzer, Kulturmagazin, 21.10.1997
Gerhard Wolfs janushaftes ,Duo-Prinzip‘ war es, was mich zu seinem Verlag gelockt hat. In einem Brief vom 6.11.1990 skizzierte er den Entwurf eines Buches, in dem Carlfriedrich Claus verbale und visuelle Texte von mir mit eigenen zu einem Lesebuch zusammenstellen wollte. Der Gedanke gefiel mir sehr, unsere Arbeiten seit den 50er Jahren in ihrer Nähe und ihrem Abstand wahrnehmbar zu machen und dabei ein Exempel unserer Freundschaft zu erhalten, die über die Jahrzehnte ebenso Nähe und Ferne aufzuweisen hatte. Unter Carlfriedrichs weitgreifend ordnenden Händen entstand ein Buch von weit ansehnlicherem Umfang, als der Verleger zunächst im Auge hatte. Janushaft hat es eine Außenseite, die jedermann ablesen kann, und eine Innenseite, die nur wir kennen: das wort auf der zunge. Es erschien zur Buchmesse 1991 und wurde von uns beiden, abwechselnd daraus lesend, während einer Veranstaltung der Ostberliner Akademie am 13.12.1991 vorgestellt.
Doch das Buch rief alsbald ein weiteres Duett herauf. Gerhard Wolf hatte für den März 1992 eine Lesung daraus in der Brotfabrik an der Prenzlauer Promenade verabredet, bei der Claus jedoch nicht mitwirken konnte, und so schlüpfte er in dessen Leserolle. Wir lasen, mal der eine, mal der andere, quer durch das Buch. Gerhard Wolfs ganz trockene, nah am Wortlaut sich bewegende, von winzigen Pausen gesprenkelte Stimme, mit der er Carlfriedrichs Passagen las, ist mir noch heute im Ohr. Wir gaben wohl ein eigentümliches, in seiner Unwahrscheinlichkeit doch auch wieder zutreffendes Paar ab.
Die Konstellation wiederholte sich noch einmal, als wir – nun schon aufeinander eingespielt – während der Leipziger Buchmesse im Mai 1992 abermals mit verteilten Rollen aus dem Buch lasen. Wir waren zu zweit zu dritt.
Franz Mon, 1998 aus: Peter Böthig (Hrsg.): Die Poesie hat immer recht, Janus press, 1998
unsere erste Begegnung – ich taste mich zurück zum „Erwachen am Augenblick“: Carlfriedrichs gloriose Ausstellung im Juni 1990 in Karl-Marx-Stadt. Es war ein unauffälliges Türöffnen, für Carlfriedrich im Besonderen, aber ganz unerwartet auch für uns. Da war wohl bereits der seit alters geübte Türöffner Gott Janus im Spiel, dessen Doppelantlitz du dir zielgewiss zum Inbild des Büchermachens gewählt hattest, das du jetzt im eigenen, Experimenten geöffneten Verlag betreiben wolltest. Im Sinn hattest du schon ein durch und durch janusgemäßes Buchprojekt, in dem unterschwellig Zusammengehöriges beim Wort genommen und offensichtlich werden sollte. Während der Ausstellungseröffnung tipptest du es an: Carlfriedrich sollte ein Lesebuch zusammenstellen mit Texten von mir und seinen Sprachblättern. Mich reizte daran ungemein die Vorstellung einer „Duo-Edition“ (Janus lässt grüßen) „als eine Art Manifestation unserer so viele Jahre dauernden, nahezu lautlosen Schwingungs-Symbiose“, schrieb ich an Carlfriedrich und an dich.
Es wären mir bislang gar nicht gedachte Konnexionen, Berührungen über riesige Entfernungen hin vorstellbar zwischen unseren verbalen und visuellen Arbeiten. Einem solchen Projekt würde ich mit vollem Herzen zustimmen.
Und auch Carlfriedrich ließ sich von einer solchen „Duo-Edition“ verlocken und antwortete:
Der Gedanke an deren Realisation erzeugt in mir ein nicht minder starkes Lustgefühl.
Also machten wir uns ans Werk. Die Auswahl der Texte und ihre ,Komposition‘ war ganz Carlfriedrichs Sache, von dir durch Zugaben ergänzt und aufmerksam begleitet. Von seinen Sprachblättern wählt Carlfriedrich 24 aus, die er in das Ensemble einpasst und mit poetologischen Reflexionen (zum „Laut-Schwerefeld, zur „Gesprächs-Verflechtung“, zur „Schrift-Materie“ u.a.) sekundiert.
Von deinen Texten bewegt […], stelle [ich] Verbindungen her, sehe jähe Wechselwirkung mit Sprachblättern.
Einzig von seinem „subjektiven“ Blick- und Sinnsensorium bestimmt, kombiniert er die Nachbarschaften, wechselt er die Textsorten, nutzt er die Simultaneität von Textschrift und Bildschrift.
Zu schaffen war das Ganze nur dank deiner großzügigen Entschiedenheit, bis an die Grenze des verlegerisch Machbaren zu gehen – und wohl auch noch einen Tick darüber hinaus, wenn du die ursprünglich angedachten 120 Seiten Umfang auf sage und schreibe 252 anwachsen ließest, gewiss nicht ganz ohne Bauchschmerzen. Denn es war ja eine deiner ersten Verlagspublikationen, ohne fremden Schutzschirm. Und es hat ja auch geklappt. Die trocken kalkulierte Auflage von 2.000 Exemplaren hat ihre Abnehmer gefunden. Erinnerst du dich, wie wir uns mit der Findung eines treffenden Titels abmühten? Du warst es, der mit der Formulierung das wort auf der zunge dann dem Buch auch den Türöffner gespendet hat.
Für uns Betagte ist es rückblickend ein beglückendes Erinnerungsmal für das, was wir drei an Gemeinsamkeiten hatten, was wir auch füreinander sein konnten und geblieben sind. Unvergessen ist für mich auch, wie warmherzig und teilnehmend Christa all dem nahe war, was wir damals begonnen und all die Jahre hindurch unternommen haben. Ich hoffe und wünsche innig, dass du heiter und mit klarem Kopf noch lange mit dem leben kannst, was dir lieb und wichtig ist.
Dein Franz Mon
Franz Mon aus Friedrich Dieckmann (Hrsg.): Stimmen der Freunde. Gerhard Wolf zum 85. Geburtstag, verlag für berlin-brandenburg, 2014
Carlfriedrich Claus (1930–1998), bekannt vor allem durch seine Sprachblätter, gehört zu den deutschen Avantgarden der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hat, dem Literaturbetrieb bisher fast völlig entgangen, als Lyriker seine erste größere Schaffensphase. Hauptsächlich in der 50er Jahren entstand ein umfassendes und bis heute noch nicht zu überschauendes Konglomerat an Gedichten, die Claus selbst als klang-gebilde bezeichnete. Nur wenige sind bisher in Ausstellungskatalogen und kleineren Editionen publiziert. Die hier vorliegenden Texte der klang-gebilde möchten deshalb den Blick vor allem in einen Bereich weiten, der Claus als ebenso wichtigen Beiträger der Lyrik ausweist. Die Zusammenstellung präsentiert eine kleine Auswahl, die sowohl subjektiven Präferenzen als auch dem noch nicht vollständig erschlossenen Archivmaterial Rechnung tragen muß.
Folgt man der Einteilung durch Eugen Gomringer für die verscheidenen Spielarten der experimentellen Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts, sind die Arbeiten von Carlfriedrich Claus als visuelle Werke zu bestimmen. Das gilt vor allem für die ab 1961 entstandenen Sprachblätter. Claus schafft mit ihnen handschriftliche Signaturen auf Transparentpapier. Dabei nutzt er die durchscheinende Eigenschaft des Mediums konsequent und beschreibt nach der Vorder- auch die Rückseite. Es ergeben sich eigenwillige Blätter auf denen beide Seiten miteinander in Wechselwirkung, in Kommunikation treten. Derartige Schriftblätter werden nicht nur von Gomringer dem Bereich der Visuellen Poesie zugeordnet.
In seiner Dichtung, den klang-gebilden, die hauptsächlich in den 50er Jahren entstanden, sind Arbeiten von Claus jedoch im Bereich der konkreten Poesie zu verorten. Mitte des ersten Nachkriegsjahrzehnts kommen weltweit Tendenzen auf, die ursprünglich auch im Dadaismus und russischem Futurismus liegenden Wurzeln aufzugreifen und das Poetische anders zu verstehen suchen. Der freie Vers, der Laut und das sprachliche Zeichen werden neu begriffen und mit ihnen experimentiert. Künstler wie Franz Mon, Ilse und Pierre Gamier, Alian Arias-Misson unterziehen das Wort- und Lautmaterial ihren Exerzitien. Claus stand, obwohl isoliert in der DDR lebend, zu allen genannten in Kontakt. In seinem postalischen Austausch werden Fragen der Poesie ausführlich diskutiert.
Die experimentelle Umsetzung in den klang-gebilden läßt erkennen, daß Claus auf die Bedeutung der einzelnen Worte und ihren gemeinsamen Gedankenfluß Wert legt. Die in typographischer Hinsicht präzis gesetzten, auf dem Blatt klar verteilten Verse, zeigen den Anspruch die Schreibfläche in die Textfigurierung einzubeziehen. Dabei wird die lineare Zeilenfolge aufgehoben, es entstehen chiastische oder vertikale Strukturen und dennoch bleibt die Rezeptionsfähigkeit der Texte durch den Leser gegeben. Gleichzeitig wird ein optischer Ausdruck vermittelt, denn ohne die Worte zu entziffern gibt der Text bereits Information in seiner Ansicht preis. Körperhafte Textgebilde oder Wahrnehmungsvorgänge sind durch eine typographische Sinngebung in den Raum gestellt.
Zu einem Phänomen der konkreten Poesie gehört es, daß aus singularisierten Lettern Textgebilde kreiert werden. Auch solche Beispiele lassen sich bei Claus finden. Doch die Bezeichnung klang-gebilde vermittelt zugleich das, worauf diese Dichtung ebenso Wert legt – den Klang. Von nicht wenigen dieser Klangtexte sind Mitschnitte auf Tonbandkassetten überliefert. Die phonetische Komponente der Sprache ist schon dem Schaffensakt der Texte immanent. Später folgen in konsequent fortgesetzter akustischer Arbeit die Lautprozesse. Dabei handelt es sich um performative Sprechexerzitien. Am bekanntesten dafür ist die Bewußtseinstätigkeit im Schlaf von 1980/81. Die klang-gebilde zeichnen sich somit durch eine doppelte Ausprägung aus; in graphischer als auch akustischer Form, was die zuerst etwas befremdlich anmutende Bezeichnung eindeutig macht.
Christian Baumert, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 3, Juni 2008
– Fast vierzig Jahre lang waren die Künstler Franz Mon und Carlfriedrich Claus einander freundschaftlich verbunden. Eine großartige Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz würdigt diese einzigartige Freundschaft in Briefen und Bildern. –
Wie ein ganz besonderer Ort aus Denkgebäuden stehen sie da, die dick in Plexiglas gefassten, transparenten, von beiden Seiten anzuschauenden Grafiken von Carlfriedrich Claus. Gleichsam um diesen wegereichen Ort fügt sich eine offene, durchlässige Stadtmauer aus Franz Mons Grafiken und visuellen Texten.
Schon äußerlich ist die aktuelle Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz etwas Besonderes, lädt ein zu einem konzentrierten Spaziergang durch ein keineswegs immer leises Laboratorium zweier Wort- und Sprachforscher, zwischen denen eine „nahezu lautlose Schwingungs-Symbiose“ – so der Ausstellungstitel – bestand, das freundschaftliche Band zweier Gleichgesinnter, die die Kunst in der Bundesrepublik maßgeblich prägten.
Franz Mon, Jahrgang 1926, nahm Traditionen des Dadaismus und Surrealismus in seinen wortarmen Lautgedichten und Schrift-Bildern kritisch und wertschätzend auf, während Carlfriedrich Claus, der von 1930 bis 1998 lebte, Kunst als „Selbstexperiment“ und „Selbsterkundung“, wie er selbst schrieb, jedoch nicht zum Selbstzweck betrieb. Claus wollte dem Wesen der Dinge, der Sprache als einer der Grundlagen natürlicher und sozialer Entwicklung auf die Spur kommen. Franz Mon interessierten vor allem „künstlerische Methoden und Verfahren“ statt missbrauchbarer Inhalte, wie Brigitta Milde in dem umfangreichen, informativen Katalog zur Ausstellung schreibt. Während der Frankfurter Mon in Westdeutschland jedoch aktiv an den künstlerischen Auseinandersetzungen in der jungen Bundesrepublik teilnehmen konnte, war Carlfriedrich Claus in seinem Annaberger Kunstlabor über dem Kino Gloria jahrelang nur einigen wenigen Interessenten bekannt, durfte kaum ausstellen und publizieren. Daran erinnert originellerweise die Abschrift eines Briefes im Ausstellungskatalog von einem gewissen Klaus Werner aus dem Kulturministerium der DDR, der Claus ermahnte:
… Ihre Experimente erscheinen uns unwissenschaftlich und subjektivistisch. Sie sind mit dem realistischen Wesen der Kunst unvereinbar und tragen zur Zersetzung ihres humanistischen Gehalts bei. Wir hoffen, dass sich Ihre Experimente… bald einem fruchtbareren Gegenstand zuwenden.
Klaus Werner machte sich später sehr verdient um das Werk von Claus, richtete 1975 seine erste Personalausstellung aus.
Umso wertvoller war für Carlfriedrich Claus hinter dem Eisernen Vorhang jedoch die Bekanntschaft mit Franz Mon, wie aus den 315 Briefen der beiden aus knapp 40 Jahren hervorgeht. Diese bisher kaum veröffentlichten Briefe sind der eigentliche Schatz der Ausstellung, die klug von grafischen Arbeiten beider Künstler begleitet, nicht nur illustriert werden. Sie sind auch ein weiterer Schritt bei der aufwändigen Bearbeitung des Claus-Nachlasses, der allein 22.000 Briefe umfasst.
In der Ausstellung erleichtern die größeren, auf den ersten Blick plakativeren Arbeiten von Franz Mon den Zugang zu beider Werk. Wenn er zerrissene Zeitungen zu Collagen fügt, das Plakative zerstört, um es neu zu bauen, zur „Syntax der Risse“ etwa, die Bildzeitung zum „Bloomsday“ verformt, mit Worten spielt: „aus der traum aus den augen“, oder „MACHT SCHULE KUNST“ in „Draufsicht der Wörter“, dann lässt die Kunst aufscheinen, dass sie keineswegs außerhalb der Zeit entsteht, lässt sie die Tür einen Spalt offen, durch die man auch in tiefer liegende Räume eindringen kann. So, wie es auch bei Carlfriedrich Claus gelegentlich derartige Fingerzeige gibt – wenn etwa ein Blatt aus dem Jahr der Niederschlagung des Prager Frühlings nur „Schweigen“ heißt. Viele der Claus’schen Sprachblätter erscheinen selbst wie Briefe, in denen sich der Verfasser eines Problems und der Lösung bewusst zu werden sucht.
In den oft eng beschriebenen Briefblättern, die mal häufiger, mal über Jahre gar nicht zwischen Frankfurt und Annaberg oder später Chemnitz wechseln, spiegeln sich nicht nur die Umstände der Zeit – die kulturelle Enge in der DDR kurz vor und nach dem Mauerbau, die langsame Öffnung.
Oft gehen Briefe oder mitgeschickte Bücher „verloren“: „Es muss doch da einer sitzen, den die moderne Literatur brennend interessiert“, kommentiert Franz Mon den Verlust eines Buchpakets an Carlfriedrich Claus, dem wiederum sogar die Belegexemplare seiner eigenen Kataloge vorenthalten oder die Ausfuhr seiner eigenen künstlerischen Texte verboten wurden. Woraufhin er bei den Staatsorganen anfragte, was denn wohl das Gefährliche daran sei. Immer wieder diskutieren die beiden Künstler ganz konkrete Werke, Vorhaben, Veröffentlichungen, Ausstellungen bis hin zur Stellung einzelner Buchstaben in ihren Texten. Dies mit einer Intensität, die heute, im Zeitalter schnell hingetippter E-Mails und knapper SMS kaum noch vorstellbar ist. Der letzte Satz im letzten Brief Franz Mons an den schon erkrankten Carlfriedrich Claus ist:
Wir sind Dir nahe, wünschen Dich…
Ein paar Worte nur, eine winzige Buchstabenverschiebung – aber allein dies wirft sein besonderes Licht auf diese einzigartige Künstlerfreundschaft.
Man muss für die Ausstellung einige Zeit mitbringen, sich auf den Rundgang durch einen Ort voller ungewöhnlicher, aber wohl geordneter Gedankengebäude einlassen. Wer es tut, wird reich belohnt.
Matthias Zwarg, Freie Presse, 13.11.2013
Wenn ich die Wörter suche, in denen sich die Person Carlfriedrich Claus fokussiert, dann sind es zuerst die Wörter Schreiblust und Sprachlust. Dann drängt sich mir das Wort Eigen-Sinn auf, mit Bindestrich zwischen den Wortteilen: Eigen / Sinn. Darin enthalten ist die Unbeirrbarkeit, mit der er sein singuläres Dasein bestritten hat, und der Mut, allen Widrigkeiten zum Trotz an seiner Sache zu bleiben, in der Gewißheit, daß sie in einem souveränen Sinn die richtige, für ihn die richtige ist.
Daß ihn unterwegs Bedrängnisse äußerer und innerer Art befallen und zum Zittern gebracht haben, bezeugen seine als „Sprachblätter“ und im Tagebuch fixierten Äußerungen. In seinem Nachlaß befinden sich, wie ich höre, rund 20.000 Briefe, die er geschrieben oder erhalten hat. Der Eremit von Annaberg, der es liebte, saisonweise abzutauchen und unerreichbar zu sein, wenn er am Schreiben war, war kein Einsamer, sondern ein Kommunikant mit vielen Fern- und Nahestehenden. Doch wir stoßen dabei auf das Paradox, daß Claus das, was er mitteilen wollte, in Ideogrammen kodiert hat, deren Klartext verrätselt ist und die dennoch, so sein dringender Wunsch, gelesen und verstanden werden sollen. Die Vergrößerungen von Sprachblättern, die er in den späten Jahren veranlaßt und zugelassen hat, dienen seiner Absicht nach auch dazu, ihre Schwer- oder Unlesbarkeit zu mildern, gar aufzulösen.
Doch die Verrätselung ist gerade das Faszinosum der Sprachblätter. Sie ist Moment seiner Botschaft und bewirkt, daß der Betrachter sich auf das „Exerzitium“ einläßt, wie Claus es formuliert, das im intensiven und genauen Wahrnehmen zu einer ihm, dem Betrachter eigenen, eigen-sinnigen Lesart führt.
Das Paradox wird komplett und komplex, wenn man sich vorstellt, die zielbewußt von Claus verrätselten Schriftzüge mit apparativer Hilfe wenigstens passagenweise auf ausgewählten Sprachblättern zu entziffern. Denn es bleibt natürlich auch die Neugier auf die Aussagefäden, die Reflexionen und die poetischen Nervenstränge, die er versprachlicht hat.
I.
Es beginnt in den 50er Jahren minimal mit der Selbstbezüglichkeit der kleinsten semantischen Einheit:
jedes wort strömt wächst ist organ des folgenden wortes
sprach-organologie
atemrinde atemgewächs atemwesen
hauch-morphologie
hauchbaum hauchhall hauchrand
Die Hand schreibt – hält fest, was flüchtig ist: Atemhauch des Sprechenden; erfindet Wörter, die es noch nicht gibt: Hauchbaum, Hauchhall, Hauchrand. Es gibt sie jetzt – auch noch nach 50 Jahren, obwohl sie nur einmal benutzt wurden. Schon hier sind beide Artikulationsbereiche der Sprache im Spiel: die Stimme und die Hand. Beiden gehört das Wort „wort“ – der Nukleus von Stimmlaut und Wortbild. Claus treibt sie zielsicher auseinander. Die schreibende Hand befreit er von der Bindung der Wörter an die Zeile und besetzt mit den Schriftlinien die ganze Fläche. [Abb. 1]
Damit holt er nicht nur die Raumgestik in den Text, sondern entläßt auch die Zeile aus ihrem Dienst an der korrekten Lesbarkeit ins unkontrollierbare, scripturale Agieren – das seitdem die Grundhaltung aller Sprachblätter ist.
Gleichzeitig – er hat im Juni 1959 ein Tonbandgerät erwerben können, das mit einer Tricktaste die Manipulation der Aufnahmen erlaubt –, gleichzeitig destruiert er das Klangbild der Stimme, indem er zunächst die Vokale isoliert, so daß der Ausgangstext verschwindet und ein neuer Klangtext entsteht. Claus beschreibt das Ergebnis:
Herausstellen der jedem Laut eigentümlichen Gestalt, gegen das allgemeine Sinn-Timbre, Zerlegung der Worte, Kreisung in sich jedes Lautes, d.h.: Elimination des Stimmungsnebels, der meist über einem Satz oder gar über einem ganzen Gedicht lagert.
So verfährt er mit dem Gedicht „Turmdohlen“.
Das Tonband wird ihm von da an zum anderen Sprachfixiermedium neben dem Papier. Damit werden Stimmtexte möglich, die ihr eigenes souveränes Revier abseits der Wortsprache besetzen. Beispiele sind die „Konstellative Artikulation“ von 1955/59 und die „Dynamische Koartikulation“ von 1959.
Claus dringt damit in Schrei-, Klage-, Trotz- und Aggressionsbereiche ein, die nur der oralen Expression zugänglich sind. Doch wird er methodisch nach Wegen suchen, diese Ausdruckskomplexe auch visuell zu artikulieren.
Zunächst aber testet er die scripturale Reduktion bis ins Extrem aus, indem er die Schreibmaschine mit ihrem punktgezielten Letterndruck einsetzt. Wenn man die disziplinierte Präzision der Buchstabenkonstellationen mit ihren minimalen Bewegungsphasen betrachtet und die asketische Geduld bedenkt, die zum konsequenten Durchführen nötig ist, dann vermutet man nicht denselben Urheber wie den der Stimmexpressionen der gleichen Zeit. So gibt es eine als „Durchgang durch sich“ bezeichnete Folge von 52 Einzelblättern, auf denen Letternfelder aus den Vokalen i – e / ee / ie / ai / i mit jeweils minimalen Veränderungen durchwandern.
Claus bemerkt dazu: Für den Betrachter tritt alles „bei genauerem Hinsehen auf der Stelle, bleibt an Ort und Stelle: die gesamte Konstellation. Sie zittert; jede Letter zittert, knistert. In fast jeder brennt die eine Tendenz: weiterzuticken, in ihre Richtung weiterzuschreiten. In der Zeit. Raumbildend. Ihr Schicksal an und mit anderen zu bilden. Oder zu lösen. Zeitbildend. Hat man dieses Drängen nach Weiter-Fortbewegung gespürt und gibt ihm nach, so gerät man hinein in die Buchstaben, ihren Triebmechanismus.“
Die Schreibmaschine erlaubt Claus, beim Experimentieren mit der Einzelletter ihre stille Symbiose zwischen dem lesenden Auge und dem hörenden Ohr zu entdecken. Er registriert, was sich dabei abspielt:
Jede einzelne Letter hat ihren bestimmten Richtungswert, ihre spezifische optische Tendenz (,z‘ z.B. strebt – vom Betrachter her gesehen – nach links, ,s‘ nach rechts). Der nächste Augenblick aber zeigt diesen visuellen Reizimpuls als bis ins Hörsystem ,durch dringenden‘; die Erregungswelle pflanzt sich über das optische Erinnerungsfeld hinweg in das akustische fort, löst da die Laut-Erinnerung aus. Jetzt zurück auf das Lautzeichen, die lateinische (oder hebräische, oder kyrillische) Letter blickend, hört, sieht man die Differenzen in der erlernt verknüpften lateinischen (oder der hebräischen oder der kyrillischen) Letter-Lautung. Laut-Letterung; die Spannungen, Risse, Zusammenfälle. Man nimmt das dissonante, teils aber auch harmonische Verhältnis zwischen Laut und ,seiner‘ Letter wahr; wie, man möchte sagen, verschiedenfarbige, unterschiedlich geformte akustische Auren oder Aurealen bewegt sich jeder Laut mit oder ohne Abstand um seine Letter herum, steht über, neben ihr, berührt, sengt sie, möchte sie aufsaugen, ausstoßen…“
Die Sorgfalt und Intensität, mit denen er die Materialität der autonomen Lettern beobachtet, zeigen, wie dringlich ihm solche elementaren Vergewisserungen sind. Die Schreibmaschinenexperimente schließt er zwar 1960 ab. Doch wird die symbiotische Qualität des Verschriftens und des Sprechverlautens nicht in Vergessenheit geraten.
Indessen hat er auch die scripturalen Transformationen mit der Schreibfeder weitergeführt. In Blatt-Titeln schwingen die Lyrismen der früheren Jahre nach. Es gibt das „Azurgedicht“, das „Grasgedicht“, das „Farngedicht“, das „Kleine Gedicht“. Dieses etwa sieht so aus: [Abb. 2]
Dieses Blatt kann man lesen als Konstellation von Artikulationsformen, deren Nacheinander auf der Fläche geronnen ist. Die mikrosensible Tuschefeder zeichnet Winzwörter, die in Spannung zueinander Liliputsätzchen anbieten, die in feinen Strichbündelungen koartikulieren. Die Fläche besorgt statt der Verszeilen und Strophenform die Formation. Es ist ein visuelles Gedicht in Reinkultur.
Mit derselben Mikrosensualität ist das Blatt „Wortstamm“, ebenfalls aus dem Jahr 1960, gebildet [Abb. 3].
Die langgezogene Form dieses „Wortstammes“ mit ihren Ästen, Ausblühungen und Ablegern könnte den Betrachter unmerklich dazu verlocken, statt die splittrigen Wörtlichkeiten, die hin und wieder sich anbieten, zu entziffern, das Ganze als stimmreizende Partitur zu lesen: eine Laut-Letterung im Sinn von Claus, die als Vorlage für eine phonetisch geführte, averbale Sequenz dienen könnte.
Noch unmittelbarer bietet sich das Blatt „Wortfamilie“, das 1961, im Jahr darauf, geschrieben wurde, zur phonetischen Umcodierung an [Abb. 4].
Das Blatt hat eine geradezu musikalische Komposition. Man liest von links nach rechts seine von oben nach unten schwingenden Zeichenverläufe: links eine Introduktion, in der Mitte die Ausführung in vielgestaltigen, miteinander tanzenden Bewegungen nach allen Seiten und danach die verklingende Kadenz am rechten Rand. Das Timbre der girlandeförmigen Strichelungen wechselt vom leichten Berühren der Fläche bis zur schwärzlichen Verdichtung.
Es reizt, dieses Blatt einer trainierten Stimme auszuliefern.
Für das folgende Blatt kann man sich nur Carlfriedrichs eigene radikal gepreßte, zerrende, avokalisch grassierende Körperstimme als Verlautorgan vorstellen: aber man kann es durchaus. Es gehört in den Komplex der „organischen Vibrationen“. Sein anregender Titel lautet: „Der Kehlkopf wird Landstreicherrede“ – genau so! [Abb. 5]
In dem gestrichelten Schattenkopf eines borstenstachligen Kopfes gibt es nichts mehr zu lesen. Doch auch hier zeichnet sich eine Feinstruktur ab. Die Federstriche tendieren nämlich zur kreisenden Bündelung. Sie greifen damit ein Motiv auf, das Claus schon ein Jahr zuvor – 1959 – in dem Blatt „Lichensatz II“ zum Thema gemacht hat: die Kreisform, die ihn noch öfter beschäftigen wird. [Abb. 6]
Das kleine Format in Postkartennähe öffnet seine Ränder dem Ausstrahlen der Kreissonnen nach allen Seiten. Wörtlich Lesbares ist 1959 noch durchgängig da. Claus kommentiert selbst:
Archetyp mit jetzt stellenweise phosphoreszierenden Bedeutungsrändern, mit Phonem- Signal-Überlagerungen, d.h. etwa mit Algen-, Pilz-Silben, Silben-Flechten, die sich ansetzen.
Das silbische Moment ist der Stimmsprache als Artikulationsreiz näher als die Wörter. – Lichen sind Flechten, so daß die Natursymbolwelt, etwa des geschätzten Pölbergs, hier mit ins Spiel kommt.
Nicht einmal Spuren von Schrifthaftem dagegen vertragen die feinstvernetzten Haarstriche der Feder, die auf dem folgenden Blatt mit dem Titel „Kreisig“ zu spiralig dichten Kreisflächen versponnen sind [Abb. 7].
Die Kreisflächen werden von ebenfalls geribbelten roten Netzen locker überzogen. Beide Schichten werden stellenweise von Schattenflecken geschwärzt. Alle vier Ränder schneiden die äußeren Kreise, so daß die Textur in ihrer Gleichförmigkeit als endlose Erstreckung denkbar ist. Ihr eignet akustisch etwas vom Schweigen des Weltraums. Man kann sich diese Hand-Arbeit nur von einem lautlosen Autor gefertigt vorstellen.
Das Kreismotiv taucht auf den Sprachblättern bis in die Spätphase immer wieder auf als sinnträchtige, dabei extrem wandelfähige Zeichenform. Im Unterschied zu den Claus’schen „Real-Symbolen“, wie dem Auge, der Hand, der Schlange, besitzt der Kreis weniger an kulturell beladenen, oft mythisch imprägnierten Bedeutungshöfen. Seine abstrakt-geometrische Form vermag beliebige Inhalte aufzunehmen.
So zum Beispiel auf zwei kontrastierenden Blättern des Aurora-Zyklus von 1977. Da erscheint als Blatt 10 eine leuchtend gelbe Radierung mit vier lichten und einem verdichteten Kreis [Abb. 8].
Die Netzstruktur der Fläche ähnelt der des „Kreisig“-Blattes von vorhin.
Die fünf Kreise tragen das Thema des Titels, der lautet: „Frage nach kommunistischer Kosmologie“. Im Druck kombiniert ist es mit den Strichzeichen des vorangehenden Blattes: den Linien, den Spiralformen, den Strahlen und Schriftfragmenten. Sie vermitteln visuell „Zwischen Makro- und Mikrokosmos“, wie der Titel lautet. Es ist ein heiteres, schwebendes Zeichenensemble, das seine Gewißheit spüren läßt.
Vier Blätter weiter jedoch taucht als vorletztes Blatt des Zyklus „Aurora letalis“: „Aurora: tödlich“ auf [Abb. 9].
Die Kreisformen sind drastisch ins Ovale verschoben. Die Figuren überdecken sich zum Teil störend und verstörend. Sie wirken wie aus der Bahn geratene Flugobjekte. Die feinen Haarstriche verdichten sich in den Körpern bis zur Schwärze. Schwingen jedoch auch außerhalb wie Spinnennetze und schneiden über die Blattränder ausgreifend hinaus. Die Darstellung vermittelt in dem von Claus so hochgeschätzten Aurora-Bereich kurz vor dem Ende des Zyklus einen Anhauch von Desperation. Diese „tödlichen“ Gebilde sind stumm. Ihnen entspräche allenfalls die Stimmlage der Claus’schen Lautprozesse.
II.
Wie sehr für Claus die Tätigkeit der Schreibhand von Anfang an Lust und Nötigung ist, hat er an einer Stelle seiner „Notizen zwischen der experimentellen Arbeit – zu ihr“ von 1964 festgehalten. Da heißt es:
Lust- und Unlust-Gemische in jeder Mikro-Aktion. Triebe. Gier des Weiß. Der erwachte Hunger des Weiß im Augenblick der Erregung. Weiß-Subjekt. Die hypersensiblen Randzonen der Leere. Durst. Das Weiß plötzlich aktiv. Operationen der Leere. Mit mir: Berührungen. (…) Ausgriff der Leere in die mit diesem immer neu ansetzenden Ausgriff sich vor-bildende ,Fülle‘. Spezifischer Appetit. Spezifische Fülle. Differenzierung der ,Fülle‘ um die Leere herum. Leere in Fülle. ,Nicht‘. ,Noch-Nicht‘. Hunger des Blatts.
Doch auch: die Schrift, das Trieb-Ziel des spezifisch-erregten, hungrigen Weiß, ist, als ,Subjekt‘, gleichfalls hungrig, grundhungrig, sie verzehrt den weißen Grund, gierig. Scheidet ihn aus: dann völlig Neues, als Effloreszenz, Ausblühung am Schluß aus; hat ihn sich eingekörpert.
Damals sprach Claus noch von „Schriftblättern“. Feder, Pinsel, Tusche und das leere Weiß des Papiers sind die Artikulationsmittel. Doch im Kontext spricht er schon vom „Sprech-Denk-Schreiben“ als komplexer Handlung. Sie läßt sich mit ihren feinsten Fasern wahrnehmen auf dem 1960 entstandenen „Regenblatt“ [Abb. 10].
Es enthält Handschrift pur, lose über die Fläche laufend, fleckenweise dem Rhythmus im Moment gehorchend, leicht gestaut, ab und zu nach einer Drehung des Blattes um 180° umgekehrt dazwischengesetzt. Es gibt Stellen, wo die Feder im leisen Berühren des Papiers die Schrift verliert und nurmehr Spuren hinterläßt. Claus beobachtet, was da passiert:
Schärfung der Achtsamkeit: auf jene winzigen Nebenbei-Bewegungen an und in einem (und anderem), mit denen nicht selten Tiefsteckendes aus seinem Traum-Ei schlüpft. Beim Sprech-, Denk-Schreiben dies oft. Die kaum merkliche Zickzackzuckung der Hand eben, bei eben dem ,ö‘ jetzt, als sie zum ,r‘ weitersollte, – wie ein Pferd vor einer Spukstelle erstarrte sie kurz, wich aus. Einer Spukstelle, die in eben dem Augenblick sich zusammenschloß: vor dem ,r‘ nach dem ,ö‘… Vielleicht Trieb-Berührung, Raschbau einer Sperre vor dem ,r‘ vielleicht auch blinkte in dem Moment Vergrabenes aus der Fuge auf – – Denn: das ,r‘ wurde nicht ,r‘, sondern ,m‘, und dieses greift sich drehend ein in die phonetische Operation, modifiziert das gesamte Lautgedankenensemble, stört. Entweder das Gleichgewicht entsteht durch rasch folgende Doppelbelastung wieder, oder aber das gesamte Ensemble rutscht mit ab in das wesentlich schleichendere ,m‘, in das sich einschleichende, hypnotisierende Gesumm. (Vielleicht war gerade dieses herzustellen das Ziel der mit List plötzlich so scheu gewesenen Hand –)
Das Ganze soll im Prinzip, trotz des Eigensinns der Hand, lesbar sein: in deren Mit- und Nachvollzug. Für den Leser ist es ein außerordentlich stiller Text, der wegen seiner scripturalen Fragilität kaum zur Sprechbegleitung reizt. Was nicht ausschließt, daß Claus beim Tun mit der Schreibfeder die Wörtersätze, die zur Hand waren, die einfielen, die dahin geschrieben wurden, auch bei sich sprach, lautlos oder stimmlich. Denn das „Regenblatt“ liest sich doch auch wie ein ,Redeblatt‘: unaufhörlich – Rede wie Regen, der Sprache entsprechend, die noch im Traum redebedächtig und redebedürftig ist.
Das Konzept der „Sprachblätter“ mutiert 1962, zwar nicht plötzlich, aber doch nicht vorhersehbar, von der Wörter-, Lettern-, Silbenphase in die ganz anders verfaßte der „Denklandschaften“. Die Titel werden inhaltlich gewichtiger und gelten als Türöffner beim Eindringen in die komplexer gewordenen Kompositionen. Vor allem die intensive Lektüre von Ernst Blochs Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, dessen 1. Band 1954 im Aufbau-Verlag erschienen war, vermittelt Claus Denklinien, die seine mentale Tätigkeit beim Schreiben durchziehen. Es sind jetzt im emphatischen Sinn Texte, die entstehen, auch wenn sie oft genug auf den ersten Blick wie Bilder aussehen. Denn er reichert das Schriftrepertoire erfinderisch durch allegorisch zu lesende Bildzeichen an. Bei denen dominiert das ,Auge‘ wie eine Art Signet. Es erscheint seit 1962 in nahezu jedem zweiten Blatt – an den „Augen-Blick“ als meditative Gelegenheit erinnernd und ihn vergegenwärtigend. Die Bildzeichen entstehen handschriftlich, oft mit den Schriftlinien verwoben oder aus ihnen entspringend.
Dabei werden die Eindeutigkeiten, die dem Textmaterial, aber auch vielen Titeln eignen, durch den methodischen Kunstgriff aufgehoben, als Schreibfläche nur noch transparentes Papier zu benutzen und es auf beiden Seiten zu beschriften, so daß die jeweils andere Seite durchscheint und in das Textbild mit eingeht. Es gibt daher keine Vorder- oder Rückseite mehr. Beim Umwenden des Blattes steht, was rechts war, links und umgekehrt. Die durchschimmernden Schriftzeilen erscheinen in Spiegelschrift – unleserlich, doch als Spurrealität im Kontext vorhanden.
Wie man sich den Schreibprozeß bei den „Denklandschaften“ vorzustellen hat, beschreibt Claus in seinen „Notizen“ wie folgt:
produktions-beginn eines blattes ist entweder ein willentlich gefaßtes, mit sprachdenken genauestmöglich begriffenes und formuliertes thema, – oder das jeweilige chaos (bzw. die automatismen) des vom willen ungesteuerten ,inneren dialogs‘. die also überlegte oder aber automatische niederschrift gebiert ihren (den handschrift-eigenen) widerspruch, der mit der situation im inneren und im äußeren milieu rückgekoppelt ist, und weitertreibt: zur fortführung der anfänglichen denkfigur, bzw. zur herbeiführung einer klärung und figurbildung im anfänglichen tohuwabohu, bzw. zum untergang. das blatt wird im produktionsprozess schauplatz, grenzberührungsfeld von sprachlosem und sprachdenken in seinen verschiedensten stufen und modi. in, mit, zwischen, gegen werkzeugdenken, halbautomatischen assoziationen, wortfetzen, präzisen textbildungen, logischen schaltsystemen, zahlenoperationen treten triebe, empfindungen, vorstellungsschübe, gefüllte affekte, emotionen, negative und positive erwartungsaffekte im schreibprozess auf. es wird versucht, sie zu fassen, zu benennen, oder/und zu graphisch arbeitenden gruppen zu verbinden, und mit dem gedankensystem des beginns rückzukoppeln. in diesem prozess spielen die jeweils methodisch (aber teilweise auch aleatorisch) hergestellten feed-backs zwischen vorder- und rückseite und zwischen mehreren blättern eine wesentliche, z.t. syntaktische rolle.
Wie das aussehen kann, wenn es fertig ist, zeigt die „Historische Allegorie: Prag“ von 1963 – eine Inkunabel der „Denklandschaften“ [Abb. 11].
Angesichts der unglaublichen Fülle der scripturalen und bildlichen Einzelheiten vermutet man, da das Original ja nicht zugänglich ist, das Format eines Tafelbildes. Tatsächlich hat Claus ein Blatt im DIN-A4-Format benutzt. Das beschränkte Papierangebot in der DDR ist der eine Aspekt; doch muß er die mikroskopische Kleinheit der Zeichen gewollt und im Gedanken-Darstellungskonzept bedacht haben.
Er schrieb programmatisch ein Leseblatt für Leser, die sich auf das Ausgesagte einlassen sollen – und die verrätselte Textur durch die Allegorisierung auf der einen Seite und drastischer noch durch die minimalisierte und fragmentarisierte Faktur der Zeichen, nicht zuletzt der Schreibzeilen, auf der anderen.
Claus hat in Tagebuchnotizen seine Reflexionen über die historischen und politischen Bezüge zu Prag, die ihn bei der Produktion des Blattes berührt und motiviert haben, festgehalten. Sie erhellen perspektivisch die Textzeilen. Doch je länger ein Betrachter sich in das Textbild vertieft, desto gewisser entsteht seine eigene, seine eigentümliche ,Denklandschaft‘: die seinem Augen-Blick entspringt und entspricht; auch und gerade, wenn er beim Umwenden des Blattes (etwa durch das Umdrehen des Dias) entdeckt, daß der beherrschende, spitzschnablige Vogelkopf mit dem großen Auge (!) am oberen Rand nicht mehr nach links, also gegen die gewohnte Leserichtung in Rückwärtiges, Vergangenes blickt, sondern gemäß der Leserichtung nach rechts ins Offene gewendet ist. Was von der Zickzackformation der dort erscheinenden Schriftzeilen noch dynamisiert wird.
Sprache ist dabei stimmzurückhaltende, mentale Innenrede – Schreibrede, Stunde für Stunde, nicht nachvollziehbar.
Die Schreib- und Schriftfassung eines Sprachblattes liegt für Claus am Ausgang eines anspruchsvollen, vorweglaufenden, mentalen und körperlichen Prozesses, den er „Exerzitium“ nennt. In seinen „Notizen zwischen der experimentellen Arbeit – zu ihr“ beschreibt er, in welchem Maße das anstehende Sprachgebilde Körpersprache werden muß, ehe die Hand zum Schreiben kommen kann. Er sagt dort in seiner eindringlichen Diktion:
Stille, auf jeden Fall aber: weckt mit dem jeweils anders quellenden Sprachgebilde latente Impulse, Potenzen, Distrikte in sich, – so viele, wie Punkt um Punkt möglich. Oder anders gesagt, chassidisch: Man versucht, mit allen Gliedern einzugehen in den Satz; dabei wird man, indem man sich in ihn hineinbewegt, von ihm bewegt, bewegt bis in die feinsten und gröbsten Leib-Endigungen und -Beginne; durch und durch, bis ins Skelett endlich, ist man von ihm, den man durch sich erregt, erregt. Dieses Exerzitium, eine antikontemplative Meditation, eine Meditation aus und in raumsprengenden und -bildenden Tanz aller Glieder, Knochen im Wort, leitet das eigentliche Experiment ein: den Start, dann Austritt des leibhaftigen Informationsvehikels aus dem semantischen Schwerefeld in freie Zwischenschwebung, mit Beobachtungs-, Les-Möglichkeit von verschiedenen Sinn-Warten aus; oder auch: Austritt, Schwebung, und Eintritt: in das purgraphische oder das Laut-Schwerefeld. – Aber während des Exerzitiums noch, nach hypnotischer Starrheit, Katalepsie, brach die motorische Sprachfigur antizipierend auf: als Wirklichkeit, die, wirklicher als die ungebrochene, nun potenziert fast, zerfällt, noch mehrmals bricht. Die Fugen-, Gang-Welt der Sprache, eine psychische und, an Wänden, in Höhlen, anderer Windungen, mentale Fauna – Tier an Tier aus giftschillernder, dünner Verbalreizhaut, aus Sinnschleim, aus schlierigen, halbzersetzten Bedeutungsfetzen kriechend – erscheint. Höllisch Starrendes, Stockendes jetzt das sonst so schlanke und bewegliche zweite Signalsystem, – Magnet der ,anderen Seite‘; er zieht in brackige Teiche, Trägherde unmittelbar hinter den Augen; hunderte weiche Schlingwurzelarme streckt jedes Wort, einschläfernd monoton einander gleichend, aus.
Diesen „Tanz aller Glieder“ und die „Knochen im Wort“ strukturiert Claus in einem Blatt, dessen Titel „Antikontemplative Meditation“ offensichtlich ein Zitat aus der Passage ist. „Antikontemplativ“ heißt hier: gegen bloße Beschaulichkeit und passives Versenken zu Gunsten aktiven, nachdenkenden Vollziehens [Abb. 12]
Das Motiv des Blattes ist die Abfolge des Rückgrats mit seinen Wirbeln und weiteren mit ihm verbundenen Knochen und Knöchelchen. Sie schweben im „Laut-Schwerefeld“, das sich in den Schriftzeilen und der Strichzeichnung zeigt, die von der Rückseite des Blattes durchscheinen. Die aufsteigende Sequenz der Wirbelknochen mit ihrer Ausgestaltung im Höhepunkt und dem einer grau getönten Variante auf der Rückseite zur Kadenz bietet sich zum Erproben, zum „Exerzitium“ silbisch-phonetischer Artikulationen an. Sie können in mehrfachem Aufsteigen und Absteigen „in freier Zwischenschwebung“ ertönen.
3.
Seit dem Konzeptionssprung zu den „Denklandschaften“ erwächst den reinen Bildzeichen eine eigene, zusätzliche Aussagequalität. So war es eben mit der Skelettfiguration. So wird Claus in einer bedrängend-lähmenden, depressiven Phase zu Bilderfindungen greifen, die sich nicht mehr versprachlichen lassen und doch aussageintensiv sind. Das existentielle Problem, mit dem das folgende Blatt zu schaffen hat, spricht schon der Titel an: „Durchbruch durch acedia“ [Abb. 13].
Auch dieses Blatt ist auf transparentem Papier doppelseitig beschrieben. Seine Vorderseite ist hier abgebildet:
Acedia bedeutete im alten Mönchsleben die lähmende geistig-geistliche Trägheit und war eine der acht Hauptsünden. Claus notiert damals in seinem Tagebuch: „Titel des Acedia-Blattes etwa: Acedia, Trägheit, erkannt als Aspekt von – Sucht (…). Wenn man ein experimentelles Leben zu führen versucht, in Einsamkeit, wird einem das höllische Starren von acedia bewußter als in ,Geselligkeit‘. Durch Trägheit (auch Passivität, süchtiges Konsumverhalten dem TV und Funk gegenüber) wird das Nicht im Nicht-Haben wesenlos. Acedia zehrt am Nicht. Nichts entsteht.“ Und zwei Tage später, am 14.10.1973, reflektiert er:
Durch acedia. Sich-Nicht-Rühren tritt fortschreitende Selbstvergiftung, Zersetzung ein. Machtübernahme der ,anderen Seite‘. Der Eros der Materie zur Verwirklichung der in ihr angelegten Möglichkeiten wird durch acedia verraten: an das Wesenlose: an das Wesenlose, an das Nichts, das immer mehr Distrikte besetzt.
Der bildschriftliche Prozeß hilft, die offenbar bedrohliche Krise zu bannen. Die Bildzeichen beherrschen die Gestaltung. Geschriebenes erscheint nur in wenigen bruchstückhaften, kaum leserlichen Zeilen. Es sind Krümel in dem beängstigend aggressiven ikonischen Ereignis. Auf der Vorderseite des Blattes tritt ein auf zwei Augen gestütztes, maskenhaftes Gesicht hervor, das ein großer, grauer Vogelkörper mit der Schnabelspitze berührt. Zwischen die Augen stößt aus der Vogelbeuge eine lange, dünne Zeichenfeder, das Requisit der tätigen Schreibhand. Zusammengehalten wird die Figurenkonstellation durch feine Liniengespinste. Undurchschaubar ist das handartige Gebilde links unten mit seinen ausgefransten Fingern. Gesicht und Band durchziehen rote Streifen, die einem pupillenlosen, leeren Auge am oberen Rand links entströmen. Auch sie wirken undurchschaubar – besser: der Betrachter weiß, was sie heißen, ohne es definieren zu können.
Die andere, die Rückseite spiegelt die vordere und mutet dabei völlig andersartig an [Abb. 14].
Der Vogelkörper mit seinen übergroßen, gewinkelten Beingliedern ist auf dieser Seite gezeichnet und präsentiert sein schwärzliches Bedrohungspotential unverkürzt, während er auf der Vorderseite grau abgetönt durchschimmert. Von dem Gesicht ist jetzt nur das eine Auge sichtbar, mit zerlaufener Pupille zwischen die Vogelglieder geklemmt. Alle übrigen Teile der Figurenkonstellation sind hier nur die grauen Schatten der Vorderseite.
Sprachliches ist auf den beiden Seiten, wie gesagt, auf wenige wacklige Wörter geschrumpft. Keine selbstgewissen, vernetzenden Letternverläufe, wie sonst gewohnt. Das, was sich zeigt, ist nicht still, sondern stumm, im Binnenbereich anrainend an Sprachlosigkeit.
Wer sich dem Blatt in seiner Zweiseitigkeit nähert und ihm nahekommt, könnte in sensibler Empathie mit dem andrängenden Seelenbefund die der verbalen Deutung letztlich nur vordergründig zugängliche Chiffrierung mit seinem Stimmatem angehen, aufsagen, auffangen, aushauchen. Wie auch immer –
4.
Eine direkte Beziehung zwischen seinen visuellen und seinen akustischen Arbeiten hat Claus, meines Wissens, nur einmal angezielt: in dem Komplex um das Thema „Bewußtseinstätigkeit im Schlaf“. Die Beschäftigung damit zog sich von 1968 durch die frühen und späten 70er Jahre bis 1984 hin. Sie schlug sich einerseits in elf Sprachblättern nieder, andererseits komponierte Claus 1981 mit Bezug auf dieses Thema einen „Lautprozeß“. Es geht ihm um Versuche, die Tiefendimension des Schlafes mit seinen frappierenden Denk-, Bild- und Gefühlshervorbringungen mit den manuell-scripturalen und den auditiv-artikulatorischen des Tagesbewußtseins zu vernetzen. Die emotionale Spannung des Vorhabens wird in den Bemerkungen spürbar, die Claus zu den ersten Blättern notiert hat. Es heißt da:
starting point des oberen Teils des Sprachblattes war ein Schlaferlebnis des Grauens; starting point des unteren Teils ein im gleichen Schlaf traumenergetisch vollzogener Vorstoß in noch nicht Bewußtes, das Aufleuchten radikal neuer Wachheit.
Während die fünf Blätter der ersten Phase mit wenigen Schriftfragmenten auskommen, dafür aber graphisch vielschichtig und mehrfarbig mit Feder, Pinsel und Handverwischungen gestaltet sind, ist das Blatt, das 1980 zeitnah mit dem Lautprozeß entstanden ist, nur mit der Feder geschrieben und durch und durch scriptural verfaßt. Es trägt den Titel „Klärungsprozeß im Vergessenen“ [Abb. 15].
Die Schrift ist streckenweise lesbar. Ihr unabsehbarer Verlauf mit seinen winzig verzitternden, oft zerbröckelnden Schriftpartikeln teilt die somnambule Gestik mit, die sich wie ein Schatten zu einer vielarmigen, menschen- oder tierförmigen Figur verdichtet. Es ist ein unermüdlicher, zweifelnder, andringender „Klärungsprozeß“ in Gang, den der Leser mitlesen, mitdenken soll.
Zur selben Zeit, 1981, widmet Claus dem Versuchsgebiet einen Lautprozeß auf vier Magnettonbändern, die simultan montiert zu hören sind. Das Stück ist aus averbalen Stimmgeräuschen komponiert und wirkt mit seiner radikalen Reduktion im Rhythmus und dem phonetischen Material als Widerlager dieser nahezu entmaterialisierten scripturalen Textur. Beide Arbeiten haben Titel und Entstehungszeit gemeinsam, doch jede bewegt sich auf ihrem besonderen, mit der anderen nicht kompatiblen Terrain.
Daß Claus beide Bereiche in dieser Zeit zusammengedacht hat, legt ein Sprachblatt nahe, das 1981/82 gezeichnet wurde und direkt „Lautprozeß-Feld“ heißt. Mit dem Tuschepinsel sind Konsonanten schwarz und blau kakographisch in Gruppen locker auf der Fläche verteilt. Schriftzüge mit Pinsel, Bleistift und Kugelschreiber durchziehen unregelmäßig den Fond. Man kann es lesen als Notat stimmlicher Äußerungen. Daher ließe es sich auch mühelos als Partitur für das eigene lautpoetische Sprechen gebrauchen.
Die Möglichkeit, ein Blatt als stimmimpulsgebende Notation zu lesen und zu nutzen, bietet Claus selbst mit seiner grundsätzlichen Aufforderung an die Empfänger an. Wiederholt spricht er vom „Exerzitium“ als Mitvollziehen der experimentellen Vorgaben, die er macht, auch und gerade im Bereich der Lautprozesse.
Es gibt Sprachblätter, die vermuten lassen, daß die wortverwehrenden und schriftnegierenden Arbeitsverfahren – etwa der Tuschepinselflächen oder der Handverwischungen – mit den „Lautaggregaten“ vergleichbare Artikulationsimpulse und Motive haben. Dazu das folgende Beispiel [Abb. 16].
Der Titel dieses Blattes lautet „Vergessen der Erinnerungen“. Er ist oben rechts geschrieben als Bestandteil der Textur. Es ist 1977/79 entstanden, gehört also in das Umfeld der Beschäftigung mit der „Bewußtseinstätigkeit im Schlaf“ und darin, wie der Titel besagt, in die Nähe des vorhin betrachteten Blattes „Klärungsprozeß im Vergessenen“. Im Gegensatz zu diesem, das ein Leseblatt ist mit sensiblen, scriptural gefaßten Reflexionen auf nur einer Textebene, werden hier die visuellen Aussagen von Pinselstrichen und manuellen Tuscheverwischungen versperrt und zerstört. Mit der entschieden, ja wüst eingreifenden Hand kommt Körperlichkeit als Ausdrucksmotor ins Spiel. Sie ist so körperlich wie die Stimme, deren Organe die drastisch averbalen Lautprozesse hervorbringen, von denen im Komplex „Bewußtseinstätigkeit im Schlaf“ die Rede war. Hand und Stimme sind hier Komplizen.
An diesem Blatt ist übrigens die für Claus nicht ungewöhnliche Dialektik der Titelgebung zu erkennen. Den Titel „Vergessen der Erinnerungen“ als Bestandteil der zudeckenden Handlung in die vorderste Bildschicht gesetzt. Er ist deren Botschaft. Das intensiv blickende Auge darunter, auch dies vom Pinsel gezeichnet, widersteht jedoch der Botschaft – als ein wissendes Auge; und es verweist auf die feinen, konzentrischen Strichstrahlungen in der desavouierten Tiefe. Das „Vergessen“ ist, so deutlich es auch dasteht, nicht das letzte Wort.
5.
In der langen Reihe der Schrift- und Sprachblätter seit den 50er Jahren läßt sich wie an einem roten Faden die allmähliche Emanzipation der schreibenden Hand von den Regulativen der nutzbaren Schreibwege und Schriftnormen verfolgen. Das begann damit, daß die Schreibfeder die Syntax der Fläche entdeckte und der Rechtshänder Claus auch linkshändig gegen den Strich schrieb. Es führte zur mikromotorischen Verformung der Letternlesbarkeit und zu Figurationen, die allenfalls allegorisch deutbar waren. Dazu gehört seit 1962 auch das Fünffingerzeichen als eine Art Selbstreferenz der Schreibhand, die es durch ihre scripturalen Verhäkelungen darstellt – und alsbald auch die ganze Hand.
Deren Verwendung häuft sich in den frühen Jahren der „Denklandschaften“. In der intuitiven Gewißheit ihrer Überempfindlichkeit und sensorisch-neuronalen Vernetzung spricht Claus auch von „Hirnfingern“ und „Handbewußtsein“. Ihre ikonische Relevanz ist vielsinnig je nach Textzusammenhang. In dem Blatt mit dem Titel „Verbaler Tagtraum an der oberen Schwelle“ [Abb. 17]
erscheinen die Fünffingerzeichen fünffach. Das Verbale des Tagtraums vermitteln die langen, dünnen Schriftzeilen, die die Rückseite wie auch die untere Vorderseite durchziehen. Die Figur des Berggebildes hat, genau besehen, Körpermomente und wird bewachsen und berührt von den fünf Händen mit ausgestreckten Fingern. Da dieser Tagtraum verbaler Natur ist, dürfen die Hände als Schriftsprachorgane die abwesende Stimme vertreten. Sie sind es, die hier die Rede des „verbalen Tagtraums“ mit ihrer gestischen Wanderung über das Zeichenensemble artikulieren.
Das folgende Blatt [Abb. 18]
zeigt Auge und Rand in einer magischen Verdoppelung, die der Titel zwar in einen sehr rationalen Zusammenhang stellt, doch die eindrucksvolle Augenblicksbannung läßt sich nicht entzaubern.
Die Verwendung des Hand- und Fingerzeichens beschränkt sich auf die Jahre zwischen 1962 und 1970. Das Auge rückt als ideographische Konstante an seine Stelle. Die tätige Schreibhand selbst jedoch dehnte ihre Präsenz dadurch aus, daß Handfläche und Finger neben Pinsel und Feder zu Artikulationsorganen wurden. Erstmals werden manuelle Abdrücke auf einem unbetitelten Blatt von 1966 (Z 406) bemerkt. Es folgen Verreibungen der Tuschfarbe mit der Hand (z.B. Z 421, o. Titel). Sie sind seitdem graphisches Verfahren bei zahlreichen Sprachblättern. Oder es übernehmen Finger direkt die Leistung des Pinsels wie in dem folgenden Beispiel [Abb. 19].
Mit Fingern, Pinsel und Tusche wird die Fotoverkleinerung eines vorliegenden Schriftblattes übermalt. Dessen Titel lautete „Versuchsgebiet von Subjekt-Kernexperimenten: K“. Es stammt aus dem Umfeld des Konvoluts des „Aggregat K“. Die aggressiven Tuschestöße und -stränge negieren die Textur der darunter befindlichen „Kernexperimente“ des Subjekts. Es ist ein in die emotional geladene Tiefenspannung reichendes „Hand-Handeln“, wie Claus es nennt.
Die Artikulationen der Lautprozesse, die für Claus bewußt parallel zu denen der Schreibhand geschehen, weisen analoge widerständige, von Emotionalem zerklüftete Impulse auf. Man könnte bestimmte Blätter geradezu als atonale visuelle Musik wahrnehmen, so zum Beispiel das folgende Blatt, das von drei Druckplatten auf Transparentpapier gedruckt ist [Abb. 20]:
Die übereinander gedruckten drei Strukturen ergeben Zufallsmischungen, deren Schichten das Auge zunächst simultan als komplex gebändigtes Chaos wahrnimmt. Alsdann ertastet es die deutlicheren Momente: die fragmentarische Hand links oben und die begleitenden schwarzen Senkrechten daneben. Das Kompakte zergliedert sich, wird leichter und wird zart, bis die Fäden ganz unten den Blickweg abschließen.
Der Titel des Blattes lautet: „Solarplektisches Hand-Bewußtsein“. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Körperwertigkeit des Handabdrucks, die Claus mit der vegetativen Wirklichkeit des Sonnengeflechts verbunden weiß.
6.
Im aneignenden Erkunden der japanischen Meditationspraxis des Kara-te-Schlages – der blitzartigen Bewegung der „leeren Hand“ –, der Claus sich in den frühen 80er Jahren zuwandte [Abb. 21],
wächst der Hand eine neue Organqualität zu. In seinem Tagebuch notiert er am 23.1.1983:
Karate-Experimente weitergetrieben. Mit starkem muskulären Gegendruck knapp über der Schreibfläche rasante Bewegungsfiguren, zwischen den Polen Affekteruption und Denkkristallisation, dabei die sichtbaren Spuren aufnehmende Fläche nur kurz, nebenbei, diskontinuierlich berührt. Rasante und langsame (kräftestauende) Bewegungen. Schrift, durch die Unterschwelliges aktiviert wird und aus-, nach ,oben‘ bricht. Die Spuren auf der Schreibfläche durch abruptes Aufsetzen und Abheben. Der komplexe Bewegungstext geschieht im leeren Raum, aus ihm, in ihn hinein.
Im Konvolut der großen Komposition des „Aggregat K“ gibt es einen Faszikel (der Seiten 49–58), der sich den ,Handlungen‘ der Hand widmet: in den Abdrücken der Handkanten und der geschlossenen und der fingerspreizenden Hand. Letztere zeigt das folgende Bild [Abb. 22]:
Die beiden Handabdrücke, die man sieht, erfolgten als Kontaktkopie auf der Offsetdruckplatte. Dabei zeichnen sich genau die Papillarlinien ab, die für Claus seit eh und je großes Symbolgewicht hatten. Der Blatt-Titel deutet auf den Augenblick des Karateschlags hin. Er lautet: „Handeln: an augenblicksgenau anschließender Raum-Zeit-Kontaktstelle:“.
Ein Doppelpunkt hinter dieser Formulierung weist auf die Beziehung dieses Blattes zum folgenden hin, das auf der Rückseite gedruckt ist. Dessen Titel lautet fortsetzend: „Mit Wechselbeziehungen zwischen Stirnhirn und Sonnengeflecht“ [Abb. 23].
Das „solarplektische Hand-Bewußtsein“ des vorvorigen Blattes taucht hier wieder auf. Das ideographische Ineinanderfügen von Auge und Sonnenstrahlung verifiziert die innige Verbindung des Handorgans mit den neuronalen, geist- und gefühlstragenden Zentren des menschlichen Leibes. In dieser Sicht rückt die Hand vom instrumentalen Dienstleister auf zum bewußtseinsempfindlichen Prozessor der Sprachpotenz. Sie befindet sich damit gleichauf mit dem Organ der Stimme. Deren Lautprozessen entsprechen ihre Sehprozesse. Mit beiden gelingt es, in singuläre Sprachbereiche jenseits der wohlbehüteten Normalitäten vorzudringen – für Claus mit dem ins futurische Offene weisenden Blickwinkel.
In einem solchen Sehprozess hat Claus im Zusammenhang des Konvoluts des „Aggregat K“ mit dem Tuschepinsel ein Blatt gezeichnet, das dicht besetzt ist von den Motiven Auge und Sonnengeflecht. Dieses Blatt hat Claus in drei Varianten permutiert und aus den vier Blättern eine Sequenz gebildet. Sie erscheint so [Abb. 24]:
Das linke Basisblatt ist auch, um 180° gedreht, der Fond der drei anderen. Es wird dort jedoch durch Schablonen, die aus seinem Bildkomplex geschnitten sind, collagiert und variiert: „Bewegung im Stillstand“ lautet der Titel. Das Labyrinth der Tuschestriche bewahrt die Spuren der Handgestik. Die Großfigur aus den aneinandergesetzten Augen- und Sonnenformen schwankt von Blatt zu Blatt, bis sie auf dem vierten mit einer Drehung nach unten zur Ruhe kommt. Der Betrachter hat die Wahl, die Abfolge als konzertanten Sehprozeß zu verfolgen oder sich verharrend einzulassen auf den Augen-Blick im Wortsinn, der ihn in jeder der vier Phasen mit einem anderen Ausdruck trifft.
Als der Kopf eines „Aufbrechenden“ – so der Titel – erscheint die Großfigur ein weiteres Mal [Abb. 25]
An den Schluß des vielgliedrigen, mächtigen Werkes „Aggregat K“ setzt Claus ein Zitat aus einem Brief, den er dem Initiator und Herausgeber Rudolf Mayer während ihrer gemeinsamen, intensiv betriebenen Arbeit am 5. Dezember 1987 geschrieben hat. Es ist ein intimes Resümee der Erfahrungen und Einsichten, die ihm seine „experimentelle“ Existenz erbracht hat:
5. 12. 87
Ebenso wichtig, vielleicht noch weittragender, ist neben der Kraft, einem Realitätsaspekt nicht zu verfallen, die andere: an der Stelle, von der her Bewußtsein als Verhängnis erscheint, zu verharren, solange zumindest, bis es gelingt, im Erfahren des Grauens, beginnenden Erstarrens eine Verwandlung einzuleiten: vom solarplektischen Strahlungsgebiet im Dunkel selbst her. Eben das: daß Wirklichkeit zahllose Gesichter hat, von denen keines alleingültig, keines ganz wahr ist, doch daß von einigen ein Sog ausgeht, der den Wahrnehmenden verschlingt (wodurch sie im Innersten Herausforderung sind), hat bereits in urkommunistischen Schamanentums noch eine andere Bedeutung von Arbeit geschaffen. Der Realität, die vernichtet, nimmt man sie nur wahr, nicht ausweichen – in ihr tätig sein, handeln, auf andere Wahrgebung hin.
Gerade auch im – dem Intensitätsgrad nach – abgeschatteten alltäglichen Leben. Ihr Carlfriedrich
Franz Mon, Neue Rundschau, Heft 4, 2009
– Beim Betrachten einiger Sprachblätter von Carlfriedrich Claus. –
Fünf Augen blicken uns aus der Finsternis an: sehr einsame, vom Körper abgetrennte Sinnesorgane, weiße zitternde Flecken auf schwarzem Grund. Diese Augen sind Irrläufer in einer immerwährenden Dunkelheit, in einer Blickbewegung ohne Aussicht auf Erkenntnis. „Karate – Introspektion“ nannte der Experimentalpoet, Schriftkünstler und Zeichnerphilosoph Carlfriedrich Claus (1930–1998) dieses „Sprachblatt“, eins jener dunklen und verstörend schönen Traumprotokolle, in denen der vollkommen isoliert arbeitende Künstler aus dem Erzgebirge einst seine Selbstbeobachtungen „innerer psychischer Felder“ aufgezeichnet hat. Die DDR hat mit dem Universalpoeten Claus, der seit den 1960er Jahren mit seinen Traumarchitekturen und seinen Bildern einer utopischen Kosmologie aus den Schablonen realsozialistischer Kulturpolitik ausbrach, wenig anfangen können. Als junger Bauhilfsarbeiter hatte sich Claus einer Mitgliedschaft in der FDJ entzogen, woraufhin man ihm die nötige Arbeitskleidung verweigerte, so dass er 1952 an Tuberkulose erkrankte, die ihn zeit seines Lebens beeinträchtigte. In seinem späteren Leben als Schriftkünstler wählte er die Daseinsform als Einsiedler. In Annaberg im Erzgebirge lebte Claus bis zu seinem Tod 1998 im Hinterhaus eines Kinos in selbstgewählter Klausur und freiwilliger Armut, gänzlich der Arbeit an seinen magisch schönen Sprachblättern hingegeben.
Was Claus dort in dreißig Jahren einsamer Produktion schuf, ist ein in Deutschland einzigartiges Werk visueller und akustischer Poesie auf den Grenzlinien von Dichtung, Philosophie und Malerei. Nach ersten Gedichten rückte Claus immer stärker den visuellen Aspekt seiner Poeme in den Vordergrund und versuchte Lautbildungsprozesse und semantische Felder in kryptischen Schriftbildern aufzuzeichnen. Zuerst entstehen Sprachblätter mit Feder und Tusche auf Konzeptpapier, später Offsetlithographien und Radierungen. Viele Arbeiten zeichnen filigran verästelte Linien nach Art der Papillarlinien der menschlichen Innenhand und verdichten sich zu akribisch montierten Buchstaben-Agglomerationen in Mikroschrift. Ein graphomanisches Buchstabengewimmel, das sich zu bizarren Strukturen fügt. „Diese ungemein fein und bewegt schwingenden Papillarlinien“, schreibt Claus im Juli 1962 an Ernst Bloch, „ich glaube, sie sind, als uns unverwechselbar stempelnde Signen, Figuren – und auch Aufforderungen…“ Die Begegnung mit dem ketzerischen Philosophen Bloch, der trotz gelegentlicher Ergebenheitsadressen an Stalin und an die SED nie zum Staatsphilosophen der DDR wurde, erwies sich als Urszene im Leben des experimentellen Universalpoeten. Denn den Schriften Blochs verdankt Claus seinen ebenso einsamen wie wagemutigen Weg zum mystischen „Existenz-Experimentator“. In einem berühmten Brief vom 8. Juli 1960 bezeichnet Claus seine Lektüre von Blochs Opus magnum Das Prinzip Hoffnung als „Einverleibung“, in deren Verlauf der Leser als „zweiter Alchymist“ tätig wird, der das Fremde mit dem Eignen mischt und sich in „brennendes Salz transmutiert“.
Die künstlerischen Wirkungen solcher alchemistischen Prozesse zwischen zwei Künstlern hat kürzlich eine Ausstellung im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen dokumentiert, die der ästhetischen Wechselwirkung zwischen Bloch und Claus gewidmet war. In fünf thematischen Abteilungen hat man hier die unterschiedlichen Denkbewegungen untersucht, die Carlfriedrich Claus aus Blochs philosophischen Schriften entnahm und sie in gewaltige Sprachblätter und Botschaften aus dem „Nachtmeer“ umsetzte. In der Gliederung der Exponate wurde fast unfreiwillig deutlich, dass Claus zwar stets der expressionistischen Bildsprache Blochs folgte, wenn es um das Imaginieren eines utopischen Kommunismus ging. Aber die intensivsten Arbeiten von Claus sind Traumarchitekturen und Transformationen innerpsychischer Visionen, die fernab jeder politischen Prophetie liegen. Gewiss: Es gibt das wuchtige Geschichtepathos des 1966 entstandenen Sprachblatts „Nach der Schlacht bei Frankenhausen, nach Thomas Münzers Tod; die Idee aber der kommunistischen Revolution lebt weiter“, diese faszinierende geschichtsphilosophische Parabel. Und es gibt auch den in Ludwigshafen und vor Jahresfrist in der Berliner Akademie der Künste zu sehenden „Aurora“-Zyklus, der auf Blochs Antizipationen eines künftigen freien Sozialismus zurückgeht. Aber in den 15 Blättern des „Aurora“-Zyklus, obwohl sie in ihren Titeln den „frühen politischen Vormittag“ oder den „realen Beginn universaler Veränderung“ beschwören, vibriert doch eine Traumkraft und Wahrnehmungs-Energie, die das politische Richtungssignal weit übersteigen. In den drei Blättern, die ein „Prozessuales Verwirklichen neuer Beziehungen zwischen Frau und Mann“ zeigen wollen, lässt sich in den graphomanischen Aktionen viel eher das erkennen, was Claus die Verknüpfung „papillarliniger Ströme“ und „erotischer Erregungsfelder“ genannt hat. Diese „imaginativ im Herz erzeugten und bewegten Zeichen“ kommen weniger aus gesellschaftstheoretischen als vielmehr aus mystischen Quellen. Carlfriedrich Claus, obwohl er zeitlebens immer wieder den Sozialismus in seinen „Notizen zwischen der experimentellen Arbeit“ favorisiert hat, war in seiner künstlerischen Praxis doch weit mehr Mystiker als Marxist.
Die Sprachblätter des „Aurora“-Zyklus sind denn auch weniger Vorschein einer „kommunistischen Kosmologie“, wie es denn das als einzige gelb grundierte Blatt 10 avisiert, sondern Erfahrung mystischer Zustände. Dabei wird Claus nicht nur durch die Naturphilosophie Blochs inspiriert, sondern auch durch die Schriften von Paracelsus und Jakob Böhme. Im „Experimentalraum Aurora“ will er „schwebende Gedanken“ Gestalt gewinnen lassen, eine „utopisch aufgeschlagene Landschaft“:
… Hier, in dem Mikro-Spannungsfeld zwischen Innen und Augen, das zugleich Triebkeimreich ist, der Ursprung jeder Weiterung. Das eigentliche, blutbildende Knochenmark da: in der Mikro-Dramatik der Existenz.
Sprache erscheint bei dem Zeichenphilosophen nicht als klassisches Kommunikationsmittel oder als funktional handhabbarer Bedeutungsträger, sondern, wie es in einem poetologischen Notat heißt, als „zauberkräftige Materie, Kontaktstoff“, der in die als beseelt empfundene organische und anorganische Natur einzugreifen vermag. „Am Morgen“, so hat der Dichter Johannes Jansen kürzlich über die elementaren Schrift-Exerzitien des Sprachzeichners Carlfriedrich Claus geschrieben, „erscheinen die alten Texte wie Leuchtstoff und ihre nackte Klarheit überzeugt.“ Das Werk dieses Grenzgängers zwischen Philosophie, Poesie und Bildender Kunst, das die Ausstellungen in Berlin und Ludwigshafen vierzehn Jahre nach seinem Tod so eindrücklich wiederbelebten, zieht uns auch heute noch mit eigentümlicher Kraft in die ungesicherten Grenzzonen von Schlaf, Traum und Vor- und Unbewusstem, in denen sich Sprache überhaupt erst konturiert.
Michael Braun, Ostragehege, Heft 67, 2012
– Zum Briefwechsel zwischen Carlfriedrich Claus und Franz Mon. Rede zur Verleihung des Petrarca-Preises an Franz Mon am 14. Juni 2014 in München. –
Ist’s nicht etwas Merkwürdiges, daß die Gestalten, die Gestalter, die Menschen, die Gestalter-Menschen, welche mich in der letzten Zeit in einer, in ihrer Weise dahin begeistert haben, mich auf meine Weise über sie zu äußern, ein jedesmal mir als Paare vor’s Leser-Auge getreten sind?
So war’s vor einem Jahr mit dem gemeinsamen Tagebuch von Sophia und Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1842, einem Paar, als Mann und Frau, wie’s nicht allein im Buche steht. So ist’s mir geschehen vor mehreren Monaten mit dem Briefwechselband, konzentriert auf die vier Jahre des Großen Kriegs 1914–1918, zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig, einem Menschenkinderpaar wie nur je einem, anhand des geteilten Entsetzens und sanft-energischen Widersprechens. Und ebenso hab’ ich’s in den vergangenen Wochen erlebt mit der Korrespondenz – dieses Wort bekommt da wieder einen eigenen Klang –, der fast vier Jahrzehnte umfassenden, von 1959 bis 1997, zwischen Carlfriedrich Claus in Annaberg/Erzgebirge, während dreißig Jahren noch Deutsche Demokratische Republik, und Franz Mon in Frankfurt am Main, damals wie heute Bundesrepublik Deutschland. Und ist’s bei diesem dritten mich begeisternden Gespann, der „fast lautlose(n) Schwingungssymbiose“, wie Franz Mon den zweifachen Austausch über die Jahrzehnte in einem Brief einmal nennt, nicht auch schon merkwürdig, wenn es mich drängt, eingangs, in einer Andeutung von Reverenz, einerseits die ständigen, wohl des Rhythmus wegen, Apostrophe des Carlfriedrich Claus nachzubilden – „ist’s“, „so war’s“, „wie’s“, „so hab’ ich’s“ –, und andrerseits, frei nach Franz Mon (dieser da im Gegensatz zu seinem Mitlebenden jenseits der Staatsgrenzen), das gesamt- oder gar altdeutsche „scharfe ß“ zu üben, als eine Art von, wenn vielleicht auch nur wenigen was bedeutendem, Weltkulturerbe.
Was ich versuchen möchte, zu Franz Mon und ebenso Carlfriedrich Claus, zu der beiden Schwingungssymbiose, zu äußern, soll nicht, zumindest nicht ausdrücklich, als eine Laudatio, ein Lobpreis, eine Preisschrift oder -rede, ertönen. (Sollte es antönen – recht so, vielleicht.) Meine Weise, in diesem fall, da ich als Leser wie auch als Schreiber kein Mitstreiter oder dergleichen, -ielmehr ein entschieden Außenstehender – „ich bin so frei!“ – sein kann, hat, in erster und letzter Linie und Zeile, die des Zu-Wort-Kommenlassens der beiden, jetzt des Franz Mon, jetzt des Carlfriedrich Claus zu sein, des Ahnenlassens vom Wörtlich – wie Schriftbildlich – wie Laut – wie Lautloswerden der zwei Helden, ja doch, Helden des Gestaltens, und überdies, und wenn auch nur nebenbei, die Zeit, die Historie mit ihren Kalamitäten, ins Spiel zu bringen, welche das, wiederum ja, Heldentum des Paares Claus/Mon wider deren Natur, Struktur, geschweige denn Willen auf die Sprünge, auf die Expeditionen zu all den unentdeckten Formen, und sei es des scheint’s Bekanntesten, der Buchstaben, der Selbst- und Mitlaute, gebracht hat. „Zeit“? Franz Mon würde dieses Wort für die geschichtlichen Umstände und Unheile mißbraucht finden, wie jede gemessene, meßbare Zeit, er, der in einem seiner Briefe sich nach einer „maß-losen Zeit“ sehnt und allein die Sekunde als real empfindet, siehe auch die vielen „plötzlich“, „unversehens“, „auf einmal“, „ruckhaft“, „abrupt“ usw. in dieser Korrespondenz, evoziert, ausgerufen von den beiden Seiten, ohne Unterlaß, über die fast vier Jahrzehnte.
Es ist nicht meine Sache, die Poetik, die poetische Methode der beiden zu umreißen, gar zu definieren. Im übrigen könnte ich es auch nicht, habe zwar momentan, unversehens, ruckhaft einen Blick dafür, mehr noch ein Gehör, und, in der unmittelbaren Folge, ein Gefühl dafür, ein umfassendes, ein umgreifendes, etwas wie eine Hörvision. Doch es fehlen mir die Worte, und mehr noch die Begriffe. (Michael Lentz, der bei S. Fischer 2013 das Franz-Mon-Lesebuch Zuflucht bei Fliegen herausgegeben und kommentiert hat, verfügt über das eine wie das andere, und das ist, wie man einmal gesagt hat, „verdienstvoll“, hilfreich beim Einordnen – sofern einem Leser dergleichen nottut, und ist, zum Glück, auch noch ein anderes, und mehr.) Das einzig Wörtliche, das mir Leser-Betrachter-Hörer zur Poetik des Carlfriedrich Claus und des Franz Mon je in den Sinn gekommen ist, war, und zwar zu wiederholten Malen, was ich als ein Zeichen von Stichhaltigkeit nahm, ein Vergleich: Der mit dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach, insofern als Bach da, wenn ich das richtig verstanden habe, ausschließlich ausgeht von den verschiedenen Tonarten und deren Entwicklungsmöglichkeiten auf diesem bestimmten Instrument und dessen besonderer Klangmaterie und einzig und allein auf diesem Weg, des Experimentierens mit dem Material, jeweils ins Spielen gerät, ein Spielen freilich, das ganz und gar nicht „so ohne“ ist. Und solcherart Spielen und Experimentieren mit dem Material, mit dem „Motiv im Material“, wie Franz Mon das 1959 in einem der ersten Briefe an Claus einmal nennt, ist mir unversehens auch als Vergleich der Poetik Mon/Claus mit den Finger-und-Ohr-Expeditionen des Wohltemperierten Klaviers erschienen. Erschienen? Kann ein Vergleich „erscheinen“? Ja doch: Nur so, kommt mir vor, ist er am Platz und es ist zumindest was dran an ihm.
„Poetik“, habe ich gemeint, im Singular, so als ob die zwei, Franz Mon wie Carlfriedrich Claus, und umgekehrt, ein und dieselbe Poetik praktizierten. Das trifft einerseits zu für den gemeinsamen Ausgangspunkt, oder eher Aufbruchsmoment, siehe das „Motiv im Material“ aufsuchen und weiterspielen. Andrerseits sind die beiden grundverschiedene Gestalten wie Gestalter, und solche Grundverschiedenheiten können nicht umhin, mitten in der Material-Expedition jeweils voneinander abzuzweigen, ein jeder auf seinem Form-Weg, ein jeder anhand seiner dem anderen Expeditionsmitglied vielleicht sogar entgegengesetzten Poetik. Es handelt sich also, aus dem Briefwechsel noch um einiges klarer als aus Claus’ und Mons Werken herauszulesen, zwar in der ersten Bewegung um eine einzige, gemeinsame Poetik, welche im Verlauf aber unversehens, wie ein einziger Fluß, aus dem – Bifurkation – plötzlich zwei werden, zu zwei Poetiken „bifurkieren“ und in ganz verschiedene Richtungen, womöglich gar Ozeane tendieren. Ahnbar wird das schon in einem der ersten Briefe Mons an Claus, worin der leise ermahnt wird, die „Neoromantik“ aus dem Spiel, d.i. aus dem Text, aus den Texten und Schriftbildern zu lassen, und gleichsam klipp und klar, wenn auch inzwischen ohne jede Kritik an dem, der inzwischen längst ein oder überhaupt der Text-Bild-Abenteuer-Partner schlechthin geworden ist, schreibt das Franz Mon in einem der letzten Briefe an Claus vor dessen Tod und sagt es zugleich sich selber lautlos vor: Seine Arbeit, sein lebenslanges Tun sei nicht „kontemplativ2 (oder heißt es „meditativ“?), sondern „diskursiv“, also auf Dialog, Gespräch, Antwort aus. Eine Poetik, die mitten im Flußlauf auseinanderdriftet zu zweien, wie der Orinoco in Südamerika, und zuletzt, anders als der Orinoco, zur Einzahl, zum Einssein zurückfindet.
Wie das geschieht, ist nachzulesen als eine Art von Wunder, freilich als ein „natürliches“, von dem wir einst im Religionsunterricht gelernt haben, das Wunderbare daran sei einzig, daß es sich, als natürliches, der Vernunft zugängliches Geschehen, in dem einen besonderen Moment, unversehens, plötzlich, ereignet. Und auch dafür, für das Wunder dieser Korrespondenz, das selbst heute, fast zwanzig Jahre nach seinem Ausklingen, weiter seinen Moment hat, seine Plötzlichkeit, stärker vielleicht als zuvor, fehlen mir die Worte. Das heißt, sie fehlen ganz und gar nicht, denn sie steigen einem, mir nichts, dir nichts, auf und entgegen aus der Folge der Briefsätze, welche ab jetzt ohne Kommentar, höchstens da und dort mit einem Ausruf, das Lebensexperiment, das experimentelle Leben des Franz Mon wie des Carlfriedrich Claus nachvollziehbar und vor allem miterlebbar machen.
Die Lebensumstände der beiden gehören dazu und seien, sozusagen im Vorübergehen, hier angedeutet, ein wenig ausführlicher bei Carlfriedrich Claus, bei dem sie sich stärker aufdrängen. Franz Mon hat 1955 dissertiert über Wirklichkeitserlebnis und Gottesvorstellung Barthold Heinrich Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott, sein Brotberuf fast all die Zeit des Briefwechsels war Schulbuchvertreiber in dem von seinem Vater gegründeten Frankfurter Hirschgrabenverlag, und er wurde über die Jahrzehnte gleichsam der Ahnherr einer zahlreichen Familie – dreimal Zwillinge, wenn ich mich nicht irre –, mit Umzügen von einer Einzimmer- in eine Zwei- und Mehrzimmerwohnung und dann in ein Haus mit Garten. Carlfriedrich Claus dagegen, vier Jahre jünger als Mon, mußte mit dem Tod des Vaters, der in Annaberg/Erzgebirge eine Bürowaren- und Kunsthandlung betrieb, das Gymnasium verlassen, um der Mutter zur Seite zu stehen. Den Laden aufzugeben, mit dem Einverständnis der Mutter, war ein Wagnis und zugleich eine Erlösung. Claus hat dann lange Jahre sein Leben, jedenfalls das äußere, buchstäblich „gefristet“, indem er, dem das, wohl auch kraft seiner Text-und-Gebilde-Arbeit, halbwegs von der Hand ging, alte Musiknoten, aus dem Barock, auch Vivaldi, kopierte. Er hauste zusammen mit seiner Mutter, welche zu des Sohnes Traumformen und Formenträumen zeitlebens gläubig aufsah, in einem Kino, in der Etage zwischen dem Kinosaal darüber und dem Heizraum darunter, von oben mit den Spielfilmgeräuschen beschert, aus dem Untergrund mit dem Maschinendröhnen und -vibrieren, was beides Claus eher inspiriert zu haben scheint, zusammen mit dem Namen des Kinos: GLORIA. Carlfriedrich Claus war, bis auf die Mutter, ohne Familie, ohne sonst je eine Frau, und ist so allein geblieben nach dem Muttersterben, von dem er dann so unvergleichlich offen, ergriffen-ergreifend seinem „Iieben Franz“ im Brief erzählt, als dem einzigen, an den er sich, seit je, hat wenden können, auch als den, wie übrigens in allen Briefen, einzig ihm Notwendigen. (Von dem Brief später.)
Das im besten Sinn lehrreiche, zugleich dramatische, manchmal auch (tragi-) komische Hin und Her der Briefe hebt an zu Beginn des Jahres 1959 und hat seine unübertroffene Intensität in den ersten zwei Jahren, während derer die beiden zu frischen Formen aufgebrochenen Ritter einander persönlich noch nicht kannten. Claus bildete mit dem, was er „Artikulationen“ nannte, weit hinten dort in der DDR eine Ein-Mann-Expedition, wie im ratlosen, dabei energischen Zickzack auf der Suche nach einem Auf gehen in mehrköpfige Unternehmungen. Mon dagegen sah sich schon umgeben, eher eingemeindet zwischen Mitstreitern, eher Mitspielern (etwa Eugen Gomringer in der Schweiz, Pierre Garnier in Frankreich), und sein Interesse an Claus war, wenn auch sicher nicht in erster Linie, eins an „unserem Mann hinter dem Eisernen Vorhang“, ohne freilich, auch nicht mit einem einzigen Wort, aus zu sein auf so etwas wie eine Gefolgschaft; höchstens da und dort ein leiser Rat für den so offen Ratlosen. Jedenfalls zeigt sich Franz Mon in den Briefen der ersten Jahre als ein (stiller) Sprecher für ein „wir“, während Carlfriedrich Claus, trotz des „Gloria“-Filmpalastes, erst einmal nur für und von sich, dem Textsucher, dem Artikuliersehnsüchtigen, in der Einzahl spricht. Und doch dann, nach immerhin etwa zehn Monaten Austausch, nach z.B. Mons: „Uns beschäftigt das hier sehr“, auch bei Claus: „… die Arbeit, das Experiment, das Handeln im Nicht-Handeln… man ahnt etwas von dem Quellreich… ich glaub’ (Apostroph!], das ist unser[!] Weg der ,Großen Befreiung‘… All das was einen da plötzlich [!] anblickt – das ist unser Weg zum SATORI“ (Ich stelle mir dazu ein leises Stirnrunzeln, ein belustigt-begütigendes, Franz Mons beim Lesen dieser Annabergbriefe vom Oktober 1959 vor, wenn auch einzig wegen des Wortes „Satori“, der japanischen „Erleuchtung“, selbst nach Mons Erfahrung mit Brockes und dessen irdischem Gottvergnügen… )
Ganz zu Beginn der Briefe: Ein gegenseitiges Sich-Vorstellen, nicht als Personen, vielmehr als ästhetische Fragesteller, Fragespieler: Auf was bin ich aus im Formensuchen? Und auf was ich? So anfangs Franz Mon: Er ist aus auf das „plötzlich mehr“ (in einem Wort, in einer Verbindung), auf das „Plötzlich mehr… als im Kranz des Bewußtseins vorhanden sein kann“. Und so dann anfangs Carlfriedrich Claus, der aus ist auf „asemantische Artikulationen in der freien Natur, im Dialog mit ihr…“, auf seine „Kehlwelt-Versuche“, auch das „plötzliche Hauch-Universum“ im Ein- und Ausatmen, und Mons formbrüderliche Antwort, ja, „die Nuancen des anderen“, „der Tanz der Sprechorgane“, und dazu gleich (fast) ein Bekenntnis zu seinen Reiß-Collagen der Plakatwelt: Es drängt ihn, an ihr leidend, diese zu demontieren, und sich selber auf dem Weg der Zerstörung „ins Gleichgewicht“ zu bringen, in einem „rituellen Vorgang“, aber nicht das „Resultat“ dabei zähle, sondern allein der „Vollzug des Experimentierens“, und darauf Claus’ Antwortbekenntnis, wie er beim Lesen, Beäugen, Hineinhören in die Texte Mons eine „griechisch-antike Klangtektonik“ empfinde, ein neues „Lesen“, das auch „Sache der Hände“ sei, „der Finger besonders, der Fusssohlen“, der „Papillarlinien“, und wenn es im ersten Brief noch scheu hieß: „Ich würde mich freuen, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen“, so heißt es im nächsten schon „wie ich mich freu’“, und zugleich stocken und bleiben und auch verschwinden bereits diese und jene Brief- und Texte-Sendungen aus Frankfurt wie Annaberg im Postministerium der DDR, mit dem Verdacht, es handle sich um „geheime Konstruktionspläne“, womit die Zensoren damals gar nicht so daneben formulierten, Konstruktionspläne ja, wenn auch ein Gegenteil von „geheim“: geheimnisvoll, unentschlüsselbar, und das bleibend.
In jenen zwei ersten Jahren ist Claus mehr der Werbende, anders gesagt, einer der das im selben Atemzug ihm Vorschwebende und zu Machende dem fernen Franz Mon als dem endlich, nach Jahrzehnten der Eingeschlossenheit im auch inneren Erzgebirge, erschienenen Vertrauten mitteilt, zugleich vorerzählt, vorsprudelt, hinstammelt, in dem Sinn, wie der Komponist György Kurtág nach seinen eigenen Worten als Sprecher wie als Musikmacher gleicherweise ein Stammler ist. Allein dem Franz Mon konnte Claus, zum Beispiel, schreiben, wie er bei seinem immer einsamen Gehen, das für ihn, umgekehrt, eine Weise des Lesens und Hörens war, die Unterschiede jeweils des Bodens unter seinen Füßen erlebte, die Sedimente als Gesprächsaufforderungen. „Neulich in Dresden… im Boden dort wimmelt’s geradezu von Kostbarkeiten“, und „seltsamerweise ist das Gros der Bewohner“ dafür unempfindlich, als „schlössen sich die Dresdner von den Edelsteinschwebungen ab, die unter ihren Füßen kreisen, verschlössen sich… diesem Regreich“. Und weiter, im selben Brief zu Mariä Himmelfahrt 1959: „Hier bei uns im Erzgebirge ist in dieser Hinsicht fast nichts, aber in anderer wieder mehr. Basaltflüsse; nadelige Kristallreiche“, aus denen „in feinsten Vibrationen Dicht-Reiche“ wachsen sollen, zu „,Spuren‘ künftiger Dichtung“.
Dazu das im besten Sinn Anhimmeln, ein waches, scharfäugiges, hellhöriges, wie sonst nur Kinder anhimmeln können (ja, können) der „Gebilde“ – so nennt sie Claus – Franz Mons. Solches zu lesen, „das aktiviert einen – auch gegen sich. Damned, wie weich und pappig bin ich dagegen. Mir fehlt das romanische Element… die Texte wackeln noch.“ (Dazu dann Mon als der stille Mahner: Ja, Claus’ Buchstabengedichte, sie „zweigen sich noch nicht hart und elastisch genug“.)
Durchgehend aber des im Studierlesen der Gebilde Franz Mons Lernenden, Dazu- wie Weglernenden, „mächtige Freude“ (immer wieder das Wort „mächtig“), kraft derer sich Claus sich aufschwingt zu solch enthusiastischen Aufrufen wie dem nach einer Woche des Streunens und Spurens allein, in Weimar, dann Naumburg, wo ein „guter Boden zum Arbeiten ist, vor allem um die Domfreiheit herum, ganz toll im Kreuzgang… hier hat man Gedanken, die einem woanders… nicht einfallen… in diesem süddurchfluteten… entrückten Muschelkalkgang“. Und da-dort erhofft er, zu Mon hin, „in einem einigen Deutschland mal ein Wandelgespräch, durchsetzt von dem… hellen Grau des Steins“, da-dort „im Wandelgang“, und „der Affe grübelnd auf dem Dach des Südseitenschiffs, ich glaub’, er wird in das Gespräch hineindenken“.
Nur scheinbar reserviert antwortet Franz Mon auf diese „persönlichen Spuren aus Ihrem Leben“. Denn er hat zugleich einen „Arbeitsauftrag“ an den Annaberger: Einen „Vibrationstext herzustellen, so, daß das Artikulieren des ganzen Organismus mit ins Graphische eingeht, und in dieser Weise ein ganzes Blatt zu(zu)schreiben, so daß dieses am Schluß einen vibrierenden Gesamteindruck gewinnt“. Franz Mon, wenn es auch so scheint, als lenke er ab, lenkt doch ab als ein Mitgehender und Mitdenkender – lenkt ab hin zum guten Boden des Arbeitens; das Machen der Poesie, um das Wort „Kunst“ zu vermeiden – Claus, nachdem er einmal „Künstler“ gebraucht hat: „ich könnte mich ohrfeigen“ – die poetische als die wesentliche Ablenkung.
Die Nüchternheit des einen (Mon) behindert keineswegs die Aufschwünge des anderen (Claus). Im Gegenteil: Das lakonische Verhältnis beflügelt diese eher, gibt ein „mächtiges“ Vertrauen. „Urplötzlich, beim Gang durch’s Herbstreich“ – so viele Reiche wie Zeiten und Orte bei Claus – „fiel mir eine Möglichkeit ein, meine Beobachtungen des Klangreichs zu erweitern… Herausstellung der jedem Laut eigentümlichen Gestalt, gegen das allgemeine Sinn-Timbre… Blick auf das Schriftreich… einem luftigen akustischen Kosmos entgegen… wenn aus den Linienverläufen… plötzlich einen Buchstaben anblicken, oder wenn Schriftzüge jäh, ohne Pfiff, losfahren… Und plötzlich tauchte rechts das letzte e wieder auf! Mein Gott, ging mir dabei viel auf“, Antwort aus Frankfurt: „Ist mir durch und durch verständlich.“ Und dazu als Anregung (keine Mahnung): „Identischwerden der Vibration mit dem Leeren und mit der Farbe… Auch der Moment der Drehung, jetzt noch ein wenig unmethodisch, wäre noch zu behandeln.“ Und Claus, der immer wieder befürchtet, aus seinen Schriftbildversuchen würde bloße Graphik, „Geästel“ statt „Vibration“, dann einmal, von Mon bekräftigt: „Man bewirkt etwas auf dem Papier, und es bewirkt während dieses Bewirkens etwas viel Mächtigeres in einem.“ Aber dann wieder, wer wohl?, zu den „Vibrationsstudien“: „Mir erschien das Schwarz an einer Stelle zu dicht, ich wollte’s mit Weiss abdecken, das Weiss deckte nicht, ward bunt, ich tupfte’s mit Wasser ab – und aus war’s, alles verwischt. Ich dacht’, ich stürb’.“ Was Claus wieder aufhilft, ist dann das Zugehen, -schreiben auf die Instanz des anderen: „Ihre Poesien sind Durchblicke in helle ferne Räume – und zugleich… Ja, in der Transparenz der höchsten Augenblicke, der hellsten, ist der Tod gegenwärtig – ich erfuhr’s wieder in Ihren Texten.“ (Brief an Mon Ende Dezember 1959)
Dazu dann einmal jenes leise, gutherzige „Maß-Regeln“ durch den Frankfurt-Mann: „Statt es zu sagen, müßte das Motiv im Material da sein. Ich glaube, nur die… illusionslose Wendung zum ,Material‘ wird Sie von den neuromantischen Reminiszenzen befreien.“ Aber ist die Fortsetzung des Briefs dann noch ein Maßregeln?: „Trösten Sie sich mit mir, ich bin auch nicht viel weiter. Ich finde es geradezu beglückend, daß noch so viel zu tun ist…“ (22. Januar 1960)
Die Antwort aus Annaberg? Zwar ist Claus für die „Gehirnwäsche“ dankbar. Aber wie sich von den Illusionen befreien? „Auch jetzt noch ab und zu neuromantische Anwandlungen… Gerade das, gegen das ich immer angehe, es überwältigt mich oft noch: das undisziplinierte Nebel-Brodeln. Und dabei: die Klarheit im Nebel draußen! Ja, die Mikrostruktur des realen Nebels, die unzähligen, prägnant in sich kreisenden, stark schimmernden Gebilde, die diese Klarheit… hervorrufen, sie muß ich bedenken… Gegenoffensive gegen mich.“ Dazu der Gedanke meinerseits: „Hoffnungslos romantisch“? Nein, hoffnungslos und romantisch.
Und doch scheint Franz Mon sich, immer auf seine Weise!, von dem Stammeln Claus’ wenn nicht gerade anstecken, so im Guten gehen zu lassen: „Wie aufregend ist es, wenn auf Blatt U / … das i plötzlich aus dem Leeren zurückkommt… plötzlich aus einem Fleck eine neue Welt entsteht, elementares Theater“, und dazu der Ordnungsruf an sich selber: „Das Schwierigste… die angemessene Beziehung zwischen Sprechcharakter und Bild eines Buchstabens… Suche nach Gesetzlichkeit… warum eben diese und keine andere Konstellation?“ Und, als eine Art Synthese: „Der Eintritt ins Unterschwellige“ – Claus würde es „Quellbereich“ nennen – „geschieht nicht gegen, sondern mit dem Bewußtsein auf Wegen höchster Wahrheit – die sich den Schlaf einverleibt hat.“
Ein, zwei Sätze lang könnten die Briefe dann sowohl von dem einen wie dem anderen stammen, zu verwechseln und dann doch wieder ganz und gar nicht, so wie Carlfriedrich Claus im folgenden Sommer, gleichsam gelehrig nah am poetischen Manifest wie sonst zeitweise Franz Mon: „Verschriftung des Augenblicks, in der aber der Augenblick total anwesend sein soll.“ Und wie jedoch weiter?: „der Augenblick, der im Atemgefälle, der winzigen Brandung, der Kehlküste, den ihr vorgelagerten Riffen… DA IST und sich über Hand, Pinsel dem Papier ,mitteilen‘ kann – vorausgesetzt, man selbst IST DA… Dazu der chinesische Pinsel das empfindlichste Element, reagiert auf kaum wahrnehmbare Pulswellen… Andrerseits kann man leicht alles versossen.“ (DDR-Verb?) Jedenfalls, auf das Lesen von Mons Zeitschrift movens bezogen – viel m’s übrigens bei Franz Mon: „Motiv“, „Methode“, „Materie“, „movens“ –: „Die helle Lust, die des Taudenkens, Tautuns, die schon im Hineinschauen aufschimmert – wie erst im Eindenken, gar Mit-Tun.“ Und dazu der zarte Dank des derart gelesenen Franz Mon: „… selber gefangen in der eigenen Taterinnerung, erreichen mich durch Ihr Medium die eigenen Dinge, als wären sie nicht von mir.“ Und als Zugabe, einen Brief später, auf das Echo des anderen: „Das Ohr ist ein labyrinthisches Ding, viel später (als das Auge), absonderlicher, ja abtrünniger, verflixter, vielleicht gar gespaltener.“
Darauf einer der vielen Nachtbriefe – „der Morgen graut, der Brief soll fort“ –, meist mit der linken Hand geschrieben, ein besonderer, mehr als bloß zutraulicher: „… nach langer Zeit wieder auf dem Pöhlberg gewesen, quer aus dem Schwebgrau kam ich, halb bereits Basalt, halb dieser harte, felsgerüttelte Sturm, fand Ihren Brief… Wo ich da ging, wann, es paßt in unser [sie] Ohr-Denken… die Spät-Spanne jenes spezifischen Dämmerns zwischen Basalt… Ich ging da, blickte, äugiges, gehendes Ohr, Blickraum Ohr… Bis – ich erstarrt’… In diesem Moment klickte’s mich an. Der Basalt-Grund Luft. Schwebte ich. Der nächstnotwendige Schritt wäre Aktion.“
Und im nächsten Brief von Carlfriedrich Claus – kurz vor dem ersten Treffen mit Franz Mon 1960 in Berlin, bei, vereinfacht gesagt, Walter Höllerer, wonach die unerhörte Dringlichkeit einer leibhaftigen Begegnung, vor allem von Seiten Claus’, fürs erste jedenfalls gestillt scheint – jene Bemerkungen des Mon-lesenden Erzgebirglers, welche mich an Bachs Wohltemperiertes Klavier gemahnt haben, Carlfriedrich Claus’ Vergleichen der Franz-Mon-Texte mit denen Raoul Hausmanns, einem Form-Ahnherrn wie andrerseits der Joyce von Finnegans Wake, oder einer Form-Ahnfrau wie Gertrude Stein: „Ihre Klangtexte… sind in dem Artikulationsraum drinnen. Hausmann benutzt ihn“, „H. benutzt die Phonotionsorgane als MEDIUM, Sie lassen die Klangtexte sich entwickeln vom Alpha aus: der wachen Wahrnehmung einer… Laut-Wesenheit im Atem… Sie gehen in diesen Raum. Nachdenklich. In diesem Zögern ab und an öffnen sie ihn… Und, ja, es wird Raum aus Tanz… Hausmann beginnt sofort mit sich. Er drückt sich… mittels des Phonotionssystems aus. Sie drücken das Phonotionssystem… aus – und kommen zu sich.“ Wohltemperiertes Klavier? Nichts da von „wohltemperiert“ (übrigens auch bei Johann Sebastian Bach keinen Moment oder Takt lang): Vibration, Schwingung. Und zuletzt in diesem Brief noch Claus’ Bemerkung zum Tonband von Franz Mons Klangtext:
… ihr kontemplativer Grund… von ihm her wohl tönt das Rätselhaft-Tragische, unser Dasein… Ich freue mich schon sehr auf unsere Stunden!
Und auch wenn der erklärt „diskursive“ Franz Mon jetzt staunen sollte: Auch ich, hervorrufend das Unterschwellige in mir, das Quellreich, die umwandelnde, schaffende Erinnerung, habe das, als vielleicht Einundzwanzigjähriger, beim einmaligen Vortragen damals Franz Mons im Forum Stadtpark von Graz – Einlader: Alfred Kolleritsch – so empfunden, oder empfinde es so, jetzt.
Der Bau der Mauer im August 1961 und auf andere, begütigende Weise auch die eine, für Jahrzehnte dann einzige Begegnung im Dezember davor im Berliner Colloquium mögen dazu beigetragen haben, daß das Wunder dieser poetischen, beständig intensiv fragenden Satz für Satz Schreib-, Mal- wie zugleich Tonprobleme ans Wortlicht hebenden Korrespondenz eine Zeitlang seinen Moment zwar nicht ganz verlor – wie man von einem Sportler sagt, er habe „seinen Moment verloren“ –, aber doch in den Hintergrund treten, nein, weiterhin, dort schwingen und vibrieren ließ, schön sporadisch. Und, bei all der Publikationstechnik aufgrund des zunehmenden übereuropäischen Rufs der beiden Schreiber einerseits, der zusätzlich mauernden Zensur und sich häufenden Werke-Beschlagnahme andrerseits als Vordergrund, leuchten diese sporadischen Hintergründe um so energischer, oder stiller energisch, vergleichbar dem „Hintergrundleuchten des Universums“. Hinter und zwischen etwa den von Claus, dem Betroffenen, an Mon weitergegebenen Sätzen des „DDR-Ministeriums für Kultur, Abtlg. Bildende Kunst und Museen“: „Ihre Vorstellungen von der Rolle der Graphik sowie Ihre Experimente erscheinen uns unwissenschaftlich und subjektivistisch. Sie sind mit dem realistischen Wesen der Kunst nicht zu vereinbaren und tragen zur Zersetzung ihres humanistischen Gehaltes bei“ – dazwischen und dahinter leuchten beständig ganz andere Worte und Wortfolgen wie „Grass und Rühmkorf sprechen von Realität und nochmals Realität und leben in einer Hirnwelt, wie sie irrealer nicht sein kann“ (Claus); „wir kommen von allen Seiten in die Fragestellung hinein. (Habe mir heute eine hethitische Grammatik geholt!)“ (Mon); „Texte, die in den Zwischenräumen poltern“ (wer?); „nicht in die reine Graphik oder Malerei abgleite(n), sondern das kalligraphische Problem, gesteuert durch die Kategorien Vibration, Annäherung an Null scharf im Auge behalte(n)“ (wer?); „ich weiß, was ich will, und werde mich nicht von meinem experimentellen Ich abbringen lassen“; „Dich vor einer Selbstvergiftung bewahren“; „So und nun muß ich mich in meine Noten stürzen – aber schnell erst noch die Hände ausstrecken, Dir zuwinken“; „Werk als Prozeß: Vorgang und Gericht, nur daß die Spuren des Vorgangs oft nicht mehr ablesbar sind… und wir in der Regel das Urteil nicht erfahren“; „sitze wieder über dem Vivaldi, lass wieder Notenschemen vor der Traumschwelle stehen“; „Niederschriften…, die nichts anderes wollen, als ein anderes zur Äußerung zu veranlassen“; „Ach ja, wie schön wär’s… Zusammensitzen und -gehen, straßauf, straßab, im Innern eines irregulären Hohlraums dann sprechen über unsere Arbeit“; „ich merke, daß dies Spiel allmählich zum letzten Mal vollzogen sein muß… der Punkt, wo man die Ordnung zu verderben beginnt“; „weil unsere Experimente unauflöslich mit unserem experimentierenden Existieren verknüpft sind“; „der Gedanke an… die Unwegsamkeit ist mit starkem Lustgefühl gekoppelt“; „Am Abend des 27. Mai entschlief meine liebe Mutter… hatte soviel Verständnis für meine… experimentelle Existenz. Wir lebten alle die Jahre als Freunde zusammen; hier in Annaberg waren wir völlig isoliert… Wir verabschiedeten uns voneinander. Trotz der entsetzlichen Atemnot ging sie… mit vollem Sprachbewußtsein in das Dunkel“; „er [das Kleinkind namens Jörg] erzählt vor sich hin, ich verstehe zwar nicht, was er meint, aber er versteht’s offensichtlich“; „Schreiben an den Rand geraten, doch bleibt die Erwartung des auf einmal Möglichen… die wilde Selbstverständlichkeit des Tuns ist dahin… die Wörter sind so merkwürdig ,glitschig‘“; „[die Kinder] begleiten alles spielende Tun… verbal, setzen es in Worthandlungen um“; „dieser Brief liegt zwischen Tag und Abend. Ich fahre jetzt nach Hause, schaue, was dort der Tag angerichtet hat, komme vielleicht zu später Stunde an meinen Tisch, wo eine angefangene Collage liegt“; „es ist mittlerweile 3 Uhr morgens; heftiger Wind prallt am Fenster ab; das Schweigen im Raum wird kompakt, umschließt mich; Gestein“; „die Utopie der maß-losen Zeit… Nur in Sekunden können wir sie messen, ihre Blitze, ihre Nebeltropfen, die uns ins Gesicht wehen“; „Wien schlafend erkunden, wie damals Prag“; „Dein Traum berührt mich… Ich zweifle an allen Interpretationswegen, die sich mit unseren Träumen befassen… völlig rätselhaft die… Figurationen, Physiognomien, Konstellationen… die nie eine Konstellation in unserer Lebenserinnerung hatten… vor allem die träumend uns aufsuchenden Personen… Nichts wissen wir über die Traumseite, nichts“; „eilig, eilig geht alles dahin, es mehren sich die Toten“; „der experimentell Lesende“; „ich sehne mich zur Zeit nach viel Schlaf. Aber durch die Müdigkeit werden die Ränder teilweise unterbrochen, als wären an den offenen Stellen die Brunnen der Märchen“; „ich sehe [die Kinder] davonlaufen und im Davonlaufen kleiner werden. Es ist in diesen Jahren für sie fast das Wichtigste: davonzulaufen.“
Viel muß, soll, darf, kann an der beispiellos-beispielhaften Schwingungs-Symbiose zwischen den zwei Künstlern – keine Ohrfeige für dieses Wort – offen bleiben. Weiß der Himmel oder wer, warum mir beim mehrmaligen Lesen und dann Exzerpieren des Briefwechsels ein Wort seinerzeit aus dem Jura-Studium in den Sinn kam und weiter im Sinn bleibt, ich glaube, ein Terminus aus der Volkwirtschaftslehre: Für jene Symbiose drängt sich mir, als anderes mögliches Wort, die „Idealkonkurrenz“ auf, was in etwa die „reine und vollkommene Konkurrenz in der Wirtschaft“ bezeichnet. Aber war denn der Austausch zwischen Carlfriedrich Claus und Franz Mon eine Wirtschaft? Mir kommt vor: ja, und zwar eine schöne Wirtschaft, eine ausnehmend und dauerhaft schöne. Und weiß wieder der Himmel, oder wer, oder was, warum mir zudem vorkommt, daß zuletzt es eher der anfangs recht wie auch rechtens Abstand haltende Franz Mon war, der von seinem Idealkonkurrenten profitierte (um im Wirtschaftstext zu bleiben), indem er – ja, wie? ja, was? – indem er, ein anderes „wir“ als zu Beginn, schenkte, und schenkte, und schenkte, oder gegenschenkte, zurückgab, zurückreichte, als „experimenteller“ Leser, als träumerischer Betrachter, als Nachspürer, wie so beispiellos-beispielhaft, gerade siebzigjährig, in einem der letzten Briefe vom 15. Mai 1996, an Claus, als Antwort auf ein Schriftbildblatt seines „Handelspartners“: „Lieber Carlfriedrich, dein Blatt… liegt in meinem Arbeitsraum, geschützt von der Folie, so daß ich in unvorhergesehenen Momenten immer wieder darauf blicken und mich mit seiner unabsehbaren [„unvorhergesehen“/ „unabsehbar“] Entzifferung beschäftigen kann. Je länger, desto stärker fasziniert mich der scriptural durchwobene Wald aus schwarzen und doch in sich völlig aufgehellten Bahnen [was an die „Schattenbahnen“ denken ließ, mit denen Kurt Badt den Bildern Cezannes nachspürte], die bewirken, daß [das scharfe „ß“ Mons längst schon halb so scharf] das eigentliche Schwarz sich in den Schrift- und Figurenzeichen kondensiert. Das größere linke Schatten-Feld ist in sich durch eine schmale, senkrechte, helle Zone gespalten, vor deren Fond nun die Schriftelemente als Luftwesen flattern [Achtung, Neuromantik?]. Es berührt mich auch, wie sich zum rechten Rand hin das Schatten-Feld ist wie zu einem weichen Stalaktit verfestigt und damit das lichte, kleinere Feld, das sich rechts anschließt, in seinem Davondrängen plausibel macht. Es erhält seine Dynamik von den Eruptionen aus dem Dunkelfeld. Bei dem Auge ganz rechts außen oben ist es wie eine Ankunft: dieses Auges, von sich her, und zugleich des Betrachtens im Innenraum des Augapfels. Hat man den Weg aus dem Schriftschattenfeld bis zu diesem äußersten Zeichen vollzogen, weiß man plötzlich, daß man nicht mehr zurückzublicken braucht. Lieber Clausfriedrich, so hat dein Denk-Vortrieb mich erreicht, ich hin sehr froh darüber und danke dir herzlich für diese Gabe.“
Helmut Färber, mit seinen Filmkritiken in der Süddeutschen Zeitung und der film-kritik, hat mich, lang ist’s her, auf die Sprünge gebracht, Dinge, die einem durch und durch gegangen sind, „Herzenssachen“, statt sie zu analysieren, einfach, oder auch nicht einfach, zu erzählen. Erzählen, das kommt bei den Briefen zwischen Franz Mon und Carlfriedrich Claus kaum in Betracht. Dafür aber ein montierendes, da und dort auch umstellendes Wiedergehen – „zur Wahrheit umstellen!“ – und Weitergehen. Schöne Pflicht.
Peter Handke, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 2014
– Carlfriedrich Claus und seine Sprachblätter. –
1
Voraussetzung: Durchbruch durch acedia
Daß es so leicht ist, nichts mehr tun zu wollen.
Daß es uns so schwerfällt, wirklich nichts zu tun.
(Ernst Bloch)
Was kann der einzelne ausrichten?
Ich weiß nicht, ob die Frage am Anfang aller Schreibbemühungen steht. Daß sie ständig gestellt wird, ist kaum zu leugnen.
Das weiße Blatt vor mir. Der Blick durch ein Fenster in gleiche, in wechselnde Land- und Ortschaften, aufs Vorhandene oder Nirgendwohin. Blick der zurückkehrt, und die Hand setzt zur ersten Zeile an, Finger tippen auf der Maschine Silben, Worte, Wortverbindungen, laut gesagt oder hingemurmelt, mit den Buchstaben gegen die Leere fixiert, Mitteilung, Nachricht, Botschaft für andere.
Immer beginnt es so. Und einmal möchte man an den Ursprung gelangen, zurück oder vorausorientiert, wo und wie es begann und immer wieder neu geübt wird, Vorgang unserer Gattungsgeschichte seit den Steintafeln der Sumerer, den wir täglich bedacht oder bedenkenlos ständig vollziehen: schreiben.
Trägheit, lateinisch acedia, der wir alle unterliegen, alltäglich, allein vor dem leeren Blatt, sie hinnehmen, uns gegen sie auflehnen. Von Thomas von Aquin bereits als Gefahr erkannt und als Todsünde gegeißelt. Zustand, den schon die alten Buddhisten reflektierten, ob Versenkung und Meditation denn auch Tun sei, oder, wie man heute sagt, Lethargie, uneffektives Verhalten, Gleichgültigkeit, die üblichen Modebegriffe. Acedia schließlich als Desinteresse überhaupt, Gegenpol zu dem Erwartungsaffekt Furcht, die als Beunruhigung doch Anteilnahme ausdrückt, Aufregung, Betroffenheit. Die Gedankenkette läuft. Vorstellungen und Bilder stellen sich ein, wollen artikuliert werden: Durchbruch durch acedia.
Das Blatt mit diesem Titel liegt vor mir: Schraffuren, mit spitzer Feder in schwarzer Tusche ausgeführt, die Figurationen entstehen lassen, Zeichen, Symbole, lesbare Sätze. Und ich sehe ihn sitzen an seinem Tischchen, blaß, müde und wach zugleich, zwischen Büchern und Briefen, Zeitschriften und Zetteln, Stapeln und Staub, anschreibend gegen Vergänglichkeit, „acedia mit dem Sog des Nichts in sich“, sagt er, „antikontemplative Meditation“ als Gegen-Satz dazu, der „Stachel der Arbeit“. Und ich kann, das Blatt aufnehmend, das Gespräch mit ihm beginnen.
Beschreibungen sind Annäherungen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie bedienen sich der Vergleiche mit Bekanntem, Überliefertem. Was aber, wenn diese versagen?
Das Blatt – ich lege es auf einen weißen Grund – wird in seinem Zentrum von einem wachen Auge beherrscht, von dem, wie in einem Magnetfeld, alle Striche und Linien auszugehen scheinen, so daß Umrisse und Substanz aller entstandenen Gebilde sich aus diesen Strichen herstellen. Das Auge blickt uns an, von ihm gehen konzentrisch gestrichelte Kreisbahnen, treffen sich in einem Fixpunkt über der Braue, genauer: über der speergleichen Schreibfeder, die ich über dem Auge als Braue sehe.
Links oben im Blatt schickt ein zweites, pupillenloses Auge einen roten Dreistrahl – einzige Farbe auf dem Blatt – durch den Körper eines zierlich sich nach unten reckenden vogelhaften, insektenähnlichen Wesens, das ein eigenes Bezugsfeld wie ein Netz gespannt hat, mit ihm verwachsen ist, selbst Instrument, dessen Saiten von seinem Kopf angerührt werden; der dreifedrige Schwanz des gespannten Körpers bis in die äußere linke Blattecke steil aufgerichtet. Im Hintergrund aber – die Bezeichnung ist ungenau – die ganze obere rechte Blatthälfte einnehmend, hockt, grau gestrichelte Masse, ein wiederum am ehesten einem dicken Vogel verwandtes, großes Geschöpf auf mächtigem, angewinkeltem Schenkelbein, den breiten, schwarzen Schnabel in den zierlich sich reckenden Körper stoßend, den roten Dreistrahl treffend.
Unwillkürlich hebt man das Blatt und kann unter dem wachen Auge im Zentrum in Handschrift lesen:
der wille
aaaaaaaaim blick
aaaaaaaaaaaaaaabewegt die trägen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaastofftrakte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader anderen seite anderer
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaablick
Die Schrift wird erst im Licht vollends deutlich. Das Blatt, zeigt sich, ist transparent und von beiden Seiten beschriftet. Was ich bisher als Hintergrund sah, ist die Rückseite, die, gegen das Licht, das hockende, große Vogeltier schwarz hervorkommen läßt, von gleicher Gewalt oder gar mächtiger als das unter ihm wachende Auge: Beide Blattseiten vereinen sich erst jetzt zu einem Bild, weil sie sich ergänzen, ihre Figurationen zueinander in direkte Beziehung bringen oder sie voneinander abgrenzen. Wachheit und Drohung, könnte man meinen, in gleicher Stärke anwesend.
Ich bediene mich, wie man merkt, herkömmlicher, von tradierter Zeichenkunst geprägter Bildvergleiche und ,sentimentaler‘ Interpretation, welche die Eigenart dieser Zeichenschrift unzureichend wiedergeben, sie ist mehrdeutig, ein anderer Betrachter kann sie anders lesen.
aaaaagewebe bewegung: gegensätzlich gerichtete sätze
entziffert man, wie als Antwort auf offene Fragen, die zwischen menschlichem Auge und Vogeltier auf der Rückseite des Blattes notierten Worte, die erst bei der Durchsicht lesbar werden. Blatt – dessen Rückseite ganz von dem nun die linke Bildhälfte einnehmenden Vogel besetzt ist, so daß das wache Auge der Vorderseite nur schwach durchdringt, der rote Dreistrahl blaß; grau sich abzeichnend, da ebenfalls Hintergrund, das zierlich sich reckende Wesen, fast verschluckt, wären nicht Segmente seines Leibes auch von dieser Rückseite her mit gezeichnet. Halte ich das Blatt – vierte Ansichtsmöglichkeit – von dieser Rückseite her gegen das Licht, vereinen sich beide Schichten wieder völlig.
Habe ich meinen Eindruck exakt wiedergegeben? Ich weiß es nicht. Schon eine veränderte Reihenfolge in der Beschreibung kann ein anderes Bild hervorrufen, andere Assoziationen und Schlüsse. Man kann darüber streiten. Der Titel des Blattes provoziert weitere Auslegungen. Man ist gereizt von der Seltsamkeit der Arbeit, auch – um es einmal so zu nennen – von der grazilen Schönheit, die sie ausstrahlt, von der rätselhaften Schrift wie auf alten Palimpsesten, den figurativen Phantasiegebilden. Und man möchte etwas über die Entstehung erfahren, über Ursache und Sinn, um es sich weiter anzueignen. Durchbruch durch acedia. Abstumpfung und Gewöhnung sind gemeint, Banalität und Konformismus, die von Blick und Bewegung, von Frage und Gegenfrage gebrochen werden – ein gedanklicher, emotionaler Vorgang, der sich zeichen- und bildhaft ausspricht, so daß man ihn mitvollziehen kann. Freilich kann das Gespräch hier schon abbrechen, braucht – ach, man weiß es nur zu gut, auch von sich selbst – gar nicht erst aufgenommen zu werden, wird man von dem Impuls nicht berührt. Wie einem eine Zeichnung nichts zu sagen braucht, wie ein Blick nicht trifft, eine Inschrift nicht beachtet, ein Brief nicht gelesen, ein Ruf nicht gehört, Kunst nicht wahrgenommen wird.
Denn, sagt Carlfriedrich Claus, nach dem Blatt befragt, „das acedia-Problem ist kein subjektivistisches. Im Konsumverhalten ist es akut, bleibt da als Gefühl des Höllischen, des Gefangenseins in Erstarrung – und aus diesem Gefühl heraus: der stets mögliche Aufbruch durch Spüren des Willens und der Konzentration, unterschwellig, oft überlagert… Nebenerscheinungen beim Durchbruch durch acedia“ (1974). In gelernter Schriftsprache kaum zu beschreiben. In herkömmlichen Bildern nur schwer zu entwerfen.
2
Ausgangspunkt – starting point
… ein Wort, mit all seinem Grün,
geht in sich, verpflanzt sich,
folgt ihm.
(Paul Celan)
Wann beginnt einer zu schreiben?
In Gedanken zuerst. Man hat das Bedürfnis, sie vor sich zu sehen in ihrer aus der Vorstellung herbeigerufenen, nun in Zeichen materialisierten Gewalt. Die Buchstaben sind vorgegeben, aber wie ich sie einsetze und kombiniere, liegt bei mir. Mein Einfall sucht sein Wort.
Ich schreibe also. Ich lese. Das Fenster gibt Auskunft oder verweigert sie. Ein Buch definiert, was ich sehe.
Ist, was mir in den Sinn kommt, Erinnerung oder spontane Eingebung, Äußerung meines Gefühls, meines Verstands? Steht am Anfang meines Schreibens ein Wort, ein Begriff, eine Vision? Ein Thema – psychisches Moment als Reaktion auf Abläufe innen, Reize von außen?
„Der Satz tritt zögernd auf“, lese ich bei Claus, „durch erlernte, objektive, doch subjektdurchsetzte Schreibbewegung der Hand, von einem der beiden Schreib,zentren‘ der Rinde gesteuert… schriftwerdende Rede… Sprach-Figur…“
Denn Arbeitsbeginn heißt hier, etwas zu Papier zu bringen, das bisher noch nicht sicht- und benennbar war: schwierige Expedition in das Grenzgebiet von Sprache und Schrift: wie Sprache beim Denken sich bildet, Schrift sich aus Sprache in Zeichen offenbart. Ein Experiment ohne Modell, ohne Vor-Bild, wenn auch von vielen Voraussetzungen motiviert, angestoßen und gesteuert. Zwischenbereich, in dem Wissenschaft und Philosophie, Psychologie und Kunst sich berühren, abstoßen, kulminieren. Schöpferischer Akt, ausgelöst von Erkenntnis oder Idee, von Traum oder sinnlicher Erfahrung. Und nicht eine der genannten Möglichkeiten interessiert ihren Autor – klassifiziert man ihn nun nach wissenschaftlichen oder künstlerischen Kriterien als Schriftsteller oder Zeichner – sondern die allen Bewußtseinstätigkeiten mögliche Erscheinungsform in der ihm vollziehbaren Struktur – ein desperates Unternehmen.
Schrift ist nicht nur Informationsvehikel, auch sie selbst… sendet Signale aus, strukturelle Informationen.
Gerät man mit Claus darüber in Disput, führt er exaktes Wissen an, belegt umfassende Kenntnisse kühl mit Quellen und Zitaten, die er nach jahrelangen Vorbereitungen und Studien sicher parat hat, ein weit gefächertes System, dessen sprachwissenschaftliche, psychologische, kunsthistorische Aspekte in seinen „Notizen“ und „Zwischenbemerkungen zur experimentellen Arbeit“ aufleuchten, weil er jeden Schritt mit strenger Akribie zu erklären und zu begründen sucht. Das Verfahren hat seine eigene, mehr wissenschaftliche denn spekulative Nomenklatur, bedient sich des oft in schwierigen Perioden verzweigten Fachjargons, gegen den man sich wehrt und doch wieder auch aufnimmt, um dem Autor auf der Spur zu bleiben.
Wie also ansetzen und wo? Bei den ersten Versuchen, „Klangtexte“ in „Schriftbildern“ festzuhalten?
Das war 1951, als Claus sich zum ersten Male mit Phonetik befaßte, er, als Kaufmannsgehilfe im elterlichen Geschäft für Bürobedarf und Kunsthandel angestellt, spricht, in der „Nachfolge der Lautgedichte“, poetische Texte auf Tonband oder sucht sie, der Artikulation gemäß, mit der Schreibmaschine ins Schriftfeld zu transponieren.
Oder geht man weiter zurück bis in die kindliche Isolation in einer deutschen Kleinstadt der Nazizeit, die ihn früh geprägt? „Unsicherheit und Angst“ begleiten ihn zur Schule, weil seine Eltern nicht mit dem herrschenden Regime übereinstimmen und alles auf die persönliche Erziehung des einzigen Kindes konzentrieren, das, während die Altersgenossen Karl May lesen oder im Kino ihre Abenteuersehnsucht stillen, schon zu philosophischen Büchern Zuflucht nimmt und in verbotener Kunst eine Gegenwelt zur wirklichen und ihrer rauschhaften Entstellung erblickt: Kandinsky und Klee, El Lissitzky und Picasso – schöpferische, kühne Phantasie und klare Konturen moderner Kunst.
Es muß eine ungewöhnliche Kindheit gewesen sein, voller geistiger Spannungen, die der Frühreife mit anderen nicht teilt, seinen Drang sich zu äußern aber in einer Weise staut und anstachelt, daß er, nur mühsam zurückgedrängt, Alltag und vorgeschriebene Verhaltensnormen sprengend, frei wird, um dem Heranwachsenden zur Identität zu verhelfen.
Ideen, Farben und Formen verursachen ihm körperliche Erregung und Erfüllung. Das auf sich verwiesene Dasein verlangt dringlich nach geistiger Kommunikation. Claus findet sie in Literatur und Kunst, die auf ihn oft stärker wirken als das Leben der Umwelt. Fähigkeit und Leidenschaft, sich einer erkannten Aufgabe hinzugeben, bis man von ihr völlig eingenommen ist, psychisch und physisch wie von Lust und Schmerz, scheinen zeitig angelegt und lassen verständlich werden, wie es ihm gelingt, völlig mit einer Sache zu verschmelzen, die er, ganz allein auf sich gestellt, unternimmt.
Als Autodidakt von üblicher Künstlerexistenz und Kunstpraxis entfernt, verbrauchter Ideologie so wenig verpflichtet wie beflissener Kunstdoktrin, sucht er nach dem adäquaten Ausdruck für seine Position in Welt und Gesellschaft. Gesellschaft, die er eher nach ihren progressiven Entwürfen und Utopien beurteilt denn nach ihrer Realität. Auf der Suche nach einem eigenen Weg ist er den meisten seiner Generation voraus.
Claus vertieft sich in die Schriften von Marx, Engels und Lenin, liest sie wie notwendige Klarstellungen, nicht wie Lektionen, liest Paracelsus und Thomas Müntzer, die lurianische Kabbalah und Jakob Böhme, Bibel und Laudses Tao-te-king. Er begeistert sich für alle Unternehmungen neuer Kunst und studiert die alten Schriftsysteme der Menschheit, die chinesische Begriffs-Schrift, das Hebräisch der Thora, die Mystik alter tibetanischer Bildwerke. Er steht in Briefwechsel mit dem avantgardistischen Experimentator Raoul Hausmann, mit dem Kunstkritiker Will Grohmann, später mit Henri Kahnweiler, dem Freund und Kunsthändler Picassos.
Entscheidend für ihn wird die Auseinandersetzung und der Gedankenaustausch mit Ernst Bloch.
Was zunächst als Versuchsreihe mit dem Instrument Sprache und Schrift – neue Sprechweisen, rindengesteuerte Letternpunktik – gestartet wurde, in Kontakt zur konkreten Poesie, wie sie sich in den 50er Jahren herausbildete, wird bei Claus zu einem Unternehmen, das sich mit Fertigkeiten und Überraschungen im Sprachlabor nicht begnügt. Der „Artikulationsspielraum“ (Franz Mon), den er durch seine „Exerzitien“ gewinnt, ist ihm nicht Ziel, sondern, wie es sich später zeigt, nur Mittel zum Zweck, seine ganze Persönlichkeit in diesen unerforschten Bereich zwischen „objektiv erlernter und subjektdurchsetzter“ Schriftsprache einzubringen und auszusagen. Eine Ausgangssituation ist die autonome Schreibbewegung selbst, die – „durch einen glücklichen auslösenden Zufall“ – nicht mehr über das Medium der Maschine (Stenotypie oder Druck), sondern direkt durch die Hand – „den experimentellen Gebrauch der Linken und der Bewußtwerdung dessen, was dadurch ins Augenlicht kam“ – aufs Papier trat, die Erregungskurve von Fühlen und Denken in ihrer Entstehung unmittelbar während der sprachlich-schriftlichen Formulierung. Starting point: „gedankengesteuertes Schreiben… innere Rede…“: sichtbar werdender Bewußtseinsprozeß.
Er läßt sich an den Arbeiten von Carlfriedrich Claus seit Ende der 50er Jahre plausibler ablesen, als ich ihn abstrakt und trocken registrieren kann, weil er Blatt für Blatt, wie nach folgerichtiger Logik – so jedenfalls kann man es von heute aus beurteilen – Stufe für Stufe anschaulich entwickelt wird.
Die kleine, verwinkelte Wohnung hinter den Gloria-Lichtspielen in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, die er von der Mutter geerbt hat und zäh verteidigt – die Möbel mit den gedrechselten Kugelsäulen erinnern an die letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts und kontrastieren merkwürdig zu den Fotovergrößerungen seiner Blätter an den Wänden –, wird zum Startplatz für ein – man soll es ruhig so kolportieren – einzigartiges Versuchsfeld, das er – „isoliert, aber verbunden mit den gesellschaftlichen Vorgängen“ – in den nächsten Jahren nach verschiedenen Richtungen hin ausmißt.
Die ersten „Vibrationstexte“ (1959) – wie habe ich sie einmal mißkannt – folgen noch linear, ein Wort oder einen Satz variierend, in wellenförmigen Zeilen verlaufend und deshalb stereotyp erscheinend, dem mehr motorischen als bewußt durchlebten Schreibakt, „sprachlicher Vorstellungsstrom, Schreibbewegung und mitlaufendes Lesen des erscheinenden Geschriebenen sind gleichzeitig und wirken aufeinander“ (D. Mahlow).
Aber die Schriftzeile führt bald über den Rand, die Begrenzung des Blattes hinaus, wird auf der Rückseite weitergeführt. „Die Leere da, rückseitig, hat bereits einen Geschmack (…) von der realisierten ,Vorder‘-Seite her (…) das isoliert gedachte und betrachtbare Einzelblatt, leer oder ,beschrieben‘, impliziert eine andere, ,räumlichere‘ Daseins-Dimension.“ Auf durchsichtigem Papier nun, zuerst auf Luftpostpapier, das gerade zur Hand war, später auf Pergaminpapier, wie es die technischen Zeichner benützen, erhält er bei den Vibrationstexten schon verschiedene Zeilenfelder, die sich im Gegenlicht, wenn auch noch deutlich voneinander abgesetzt, doch berühren.
Der Bann der Ein-Seitigkeit ist gebrochen. Die Transparenz ist gefunden.
Ich weiß nicht, ob dem sich unermüdlich an sein Werk heranschreibenden Autor die Tragweite solcher Er-Findungen mit allen Konsequenzen sogleich absehbar war. Und ich hüte mich dabei, das Wort ,bewußtwerden‘ zu gebrauchen, weil ja kaum ein Künstler wie er jede Phase seiner Arbeit, jede Fassung, jede Stufe durchdenkt.
Folgerichtig probiert er, was die Feder zu einem Begriff wie „Wortstamm“ (1959) hergibt: sich auch zeichnerisch (um es von nun an so zu definieren) entfaltende, nicht mehr nur horizontal der Zeile gehorchende Abläufe, sondern flächenhaft, sich auch in die Vertikale erstreckende Strukturen, die – wie in diesem Fall – dem Begriffsbild ,Stamm‘ nachgehen.
Es entsteht das eigentliche „Text-Blatt“ (1959), nicht mehr nur von vegetativer, wenn auch kontrollierter Emotion gesteuert oder vom Bildbegriff allein ausgelöst (wie etwa die aus einzelnen ,Gliedern‘ sich formende ,Gruppe‘ der „Wortfamilie“ – 1959), sondern von vorgefaßtem, erinnertem und assoziierendem Denken her inspiriert: der sinnbeladene, inhaltsschwere, semantische Text. Nicht mehr nur der ,wertfreie‘, mit dem Instrumentarium ,Wort‘ an sich operierende Sprachtest fasziniert („Poetische Syntax in Relation zu Prosa“, 1959. – Welche Syntax, welche Prosa?). Es treten vielmehr weltanschauliche Überlegungen mit in den Schreibvorgang ein, sind starting point oder beziehungsreich das Thema des Blattes.
Claus erläutert es später so:
Ein philosophisches Problem, ein geschichtlicher, auch tagespolitischer Vorgang, ein psychologisches Phänomen interessiert, erregt, packt mich. Ich versuche dann, es gedanklich zu durchdringen, es zu analysieren, es ideologiekritisch, parteilich zu bewerten… Ich lese also, mache mir Notizen, Auszüge, halte die Schritte der Aneignung und Durchdringung nur in Stichworten fest. Bis ich einen Punkt erreicht habe, der starting point wird…
Es ist sicher nicht möglich, aus der Reihe der Versuche die Arbeit von Claus herauszufinden, mit der er endgültig aus dem Stadium des poetischen Sprachlabors ausbricht, um mit dem Vehikel seines Schreibens auch seine Ideenwelt in ihrer ganzen Kompliziertheit ,darzustellen‘. Der selbständige Weg dorthin war unumgänglich – die Resultate werden auch später immer wieder durch ,zweckfreie‘ Kontrollversuche in Frage gestellt.
Aber schon das Blatt „Erinnertes Gedicht eines jüdischen Mädchens“ (1958/59), ausgeführt mit chinesischem Pinsel in Tusche auf weißem Papier, von großem graphischem Reiz, hält sich an Zeugnisse, die den Autor so betroffen haben müssen, sie mit seinen Intentionen noch einmal wiederzugeben.
Das „Regenblatt“ von 1959 geht den Eindrücken des Wortes ,Regen‘ nach, teilt jedoch zugleich etwas von der Konsistenz wirklich spürbaren Regens mit, wie in der Musik Hanns Eisler mit Hilfe von Tönen das Element zu beschreiben versucht. Claus will alle auftretenden Wechselwirkungen zwischen der Gegebenheit Sprache und sich selbst als schreibendem Subjekt auskundschaften, und Entwürfe intensiver Bemühungen um ein Thema wie „Beginn der Thora“ (1960) weisen schon im Titel über die bloße Selbstverständigung mit dem Objekt Sprache hinaus.
In einem ebenso impulsiven wie wissensgespeisten Schreib-Denk-Prozeß entsteht als visuelle Form das Sprach-Blatt, speech sheet, wie es Carlfriedrich Claus seitdem als seinen Beitrag zu Literatur und Kunst auf alle Modifikationen und Varianten hin durch- und ausschreibt.
Claus resümiert:
Schrift (= Sprachtextträger) ist (wie das Signalsystem Sprache selbst) zugleich Abbild; sie bildet ,ihre‘ Menschen, bildet sie aber gleichzeitig auch ab… etwa: das magische, das mythische, das rationale Welt- und Selbstbewußtsein des Stammes, der herrschenden Klasse… zum anderen den späteren subjektiven Modus darin: die rückwärtige Landschaft des Ichs, das die angenommene Schrift schreibt, sich ihrer bedient. Schriftzeichen sind so Schlüssel… wie Spiegelzeichen dessen, was als ,Ich‘ durch das Auge blickt…
Man fängt an, in eigener Sache zu schreiben.
3
Sprachdenken – Bildsprache
Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn,
das wir gelesen haben.
Die Jahre, die Worte seither
(…)
weißt du, was sich in dein Aug schrieb,
vertieft uns die Tiefe.
(Paul Celan)
Wie gelingt es mir, meine Gedanken so hervortreten zu fassen, daß sie meine Erwartungen, wenn sie ihnen schon nicht entsprechen, doch nicht enttäuschen?
Dem Schreibenden sollte der Zweifel vertraut sein.
Ich blicke auf mein Blatt, lese, was ich schrieb, verwerfe, ergänze, indem ich mich an Gelesenes erinnre – Gunst des rechten Zitats an der richtigen Stelle – schreibe weiter, weil mich die leere Seite stört, das unzureichende Wort ärgert. Dazwischen die Pausen der Schreibhemmungen. Nur der Zufriedene ist zu beneiden, oder er ist naiv.
Claus – ich erwäge, mich in seine Lage zu versetzen – ahnte wohl, worauf er sich eingelassen hatte. Sein Projekt erforderte absolute Selbstbesinnung, wie man sie heute kaum noch hat. „Für konzentrierte Arbeit und hinsichtlich meines labilen Gesundheitszustands ist dieser abgelegene Wohnort… ausgezeichnet.“ Auf die Teilnahme Gleichgesinnter – wir alle gingen unseren Beschäftigungen nach – war wenig zu rechnen, nur partiell auf Verständnis, sicher war ihm das Mißtrauen der nächsten Umgebung. „Wie ich allgemein eingeschätzt werde: als armseliger, arbeitsscheuer Kaufmannsgehilfe… kein Geld, keine Frau, kein Diplom, nicht mal ein Bauch“, kaum Gesprächspartner am Ort. Er zieht sich auf seine Arbeit zurück, beschränkt sich bedürfnislos auf das Notwendigste bis an den Rand des Zuträglichen, asketischer Liebesentzug. Er war dazu veranlagt.
Auf ausgeglichene Ernährung achtet er wenig; der Körper rächt sich für die unsachgemäßen Mahlzeiten hin und wieder mit Verstimmungen und Krankheiten (wie sie die betriebsamen Zeitgenossen auch befallen). Die Entbehrungen bringen ihm aber auch Zustände von Euphorie, wenn er sie genießt oder bei einem Essen, einem trinkfreudigen Gespräch unter Freunden plötzlich durchbricht. Er schätzt die gelegentlichen Geselligkeiten und Freuden, die anderen schon banal sind. Den Lebensunterhalt verdient er sich durch Transskripieren alter Noten zum heutigen Gebrauch, eine penible Abschreiberei, und durch den gelegentlichen Verkauf einzelner Blätter an Freunde und Sammler. Blätter, von denen er sich eigentlich nicht trennen will, da sie – nicht reproduzierbar – für immer fehlen. Aber sie öffneten ihm den Zugang zur internationalen Kunstszene der visuellen Poesie.
Oft spricht er tagelang mit keinem Menschen, lernt jedoch jede Regung seiner Sinne, jedes Reagieren zu registrieren: „Da entstehen tatsächlich Affektlandschaften, Umwandlungen vor allem von Gehör-, Tast- und Gleichgewichts-Wahrnehmungen… die mich ob ihrer Intensität immer wieder irritieren, beunruhigen, anregen…“ und die schöpferische Anwendung provozieren.
Der tägliche Weg zur Post – Selbstabholerfach – ist manchmal der einzige Ausflug aus der selbstverordneten ,Clause‘. Briefe lesen, Briefe beantworten die lebenswichtige Verbindung, das Radio sein Ohr zur Welt. „Dadurch daß meine gesellschaftlichen Kontakte mehr indirekter Natur sind, ist es wohl leichter die langsam geschehenden positiven Veränderungen zu erkennen“, Lebenshaltung als Therapie.
Offen erschließt er sich im Gespräch unvoreingenommen, arglos, möchte er sich selbst dem Unwilligsten verständlich machen, daß seine Texte weder Code noch Geheimsprache seien – ein Verdacht, dem er sich schon ausgesetzt sah –, daß er aber auf die Teilnahme, ja Mitarbeit des Betrachters angewiesen ist. Er sagt, um sich verständlich zu machen:
Jeder macht ab und zu die Erfahrung: Ein dem Sprechenden belangloses, beiläufig hingesagtes Wort – den Hörenden trifft es tief. Vielleicht ist er genau in diesem Zeitraum in einer psychischen Situation, die seine Sensibilität für den fluktuierenden Hof rings um den zentralen Wortsinn, diesen ungleichmäßig vertiefend, erhöht hat.
Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn. Claus geht solchen Worten nach, die er dann auch plastisch in einen Bezugsraum gestellt sieht wie in einen Hof; und er versucht diese Worte in einer oft Monate dauernden Auseinandersetzung fragend einzukreisen oder auszulegen. Zum Beispiel das Wort ,Wasser‘.
Wasser mit seinen unendlichen Transmissionen zur Materie als Tropfen und Pfütze, Strom und Meer. Als Lebenselexier oder zerstörerische Sintflut. In seiner Wirkung auf die Natur („… daß das weiche Wasser in Bewegung / mit der Zeit den harten Stein besiegt“ – Brecht) oder in Berührung mit der eigenen Haut („… und das Wasser schöner kühl, /wenn ichs auf mich gieße“ – Brecht).
Wort, das aus dieser allseitigen Durchdringung über den Begriff: Wasser = Leben = Bewegung = Fortschritt = Zukunft („Wasser: welch / ein Wort. Wir verstehen dich, Leben.“ Celan) im Sinn-Bild gewandelt hervorgeht: „Erscheinungen aus dem Wort ,Wasser‘“ (1967). Wort, das seine Folgen zeitigt, Jahre später, wenn Claus von den Verfolgungen hört, denen chilenische Kommunisten ausgesetzt sind (mit Guillermo Deisler, einem visuellen Poeten, der über Paris nach Bulgarien entkam, steht er in Korrespondenz).
Wort, das ihm dann gewandelt, als Wort des Dichters Pablo Neruda wieder auffällt:
Es ist das zentrale Volumen der Kraft, der Wasser ausgedehnte Gewalt, die mit Leben erfüllte reglose Einsamkeit.
Wort, das, damit zur Metapher geworden, der Selbstermutigung dient:
Wir verkörpern das Meer, das währende: die Feste der Hoffnung: eine Minute Dunkelheit macht uns nicht blind. (Neruda)
Claus nennt dieses Blatt seiner Solidarität für Chile „Submarines im Bewußtsein“ (1973) und hat damit dem Wort ,Wasser‘ einen neuen Bedeutungsinhalt gegeben in einem Sprach-Bild, hat es im Gleichnis evident gemacht, was nichts anderes heißt, als – augenscheinlich.
Es ist kein Zufall, daß das Auge als erkennbares Signum für Erhellung und Durchleuchtung in seinen Blättern vielfältig hervortritt, auf diesem Blatt mit den wechselnden Blickrichtungen zurück und vorwärts bis in eine Dunkelheit, die uns doch nicht blind machen darf. Das Auge, in der Malerei vor allem das Sinnesorgan der Wahrnehmung und Kontrolle, ist bei Claus ebenfalls dem kritischen Kalkül des Verstandes unterstellt.
„Ich gehorche da einem inneren Zwang“, sagt er, „hier ist ein Auge im Werden, will ans Licht. In einer späteren Phase verschwindet es durch Überlagerung wieder oder bleibt, bleibt teilweise, verwandelt sich in anderes. Auge ist nicht gleich Auge, es hat semantischen Sinn, ob das Auge Pupille hat oder nicht, ob die Pupille geweitet ist oder verengt, ob die Lider Wimpern haben, ob zwei Augen nebeneinanderstehen oder eines isoliert (…) ob der Blick nach außen geht, ,Strahlen‘ emittiert oder nach innen sinkt.“ Das Auge als Organ, das uns die Tiefe vertieft. Symbol – wie auf anderen Blättern das vielbedeutsame Zeichen der Schlange (die Raupe der Göttin Vernunft), der Eule der Minerva (der Pallas Athene), die Hand, der Umriß eines Kopfes, eines Vogels, eines Fischs – metaphorische Zeichengestalten.
Die Grenzen zwischen Verbalem, Literarischem und Zeichenhaftem, Graphischem sind verwischt, überlagern sich, gehen ineinander über.
Hat das Denken seinen Ausdruck gefunden, ,Ausdrucksgebärde‘ ihr Bild-Zeichen, so kehren sie im Prozeß des Wort-Findens wieder ins Noch-Nicht-Formulierbare zurück, eben im Begriff, sagbar zu werden:
jäh umgeben von bestürzenden Vorgängen (…) von denen der Sprechende, Weitersprechende nicht weiß.
Claus registriert sie mit seiner Hand wie ein Seismograph.
Er sieht sich durch wissenschaftliche Versuche bestätigt, wenn man mikroskopische Aufnahmen vom Gewebe der grauen Rinde des Großhirns mit den skurril erscheinenden Strukturen seiner Blätter vergleicht. Aufmerksam verfolgte er die Forschungen sowjetischer Wissenschaftler, mit einem Gerät die wechselnden Spannungen in Hirn- und Phonationssystem sichtbar zu machen, ohne daß die Versuchspersonen dabei sprachen. Von den Elektroden am Kopf übertrug ein Selbstschreiber bizarre Kurven, warf ein Oszillograph grüne Blitze auf einen Schirm: Denk-Schrift und Denk-Zeichen, die es noch zu entziffern galt, hatte man nur das ,Alphabet‘ und das Spektrum gefunden, die gedachten Laute, die vorgebildeten Worte zu unterscheiden.
Für noch nicht bestimmbare Empfindungen und Gedanken seismographisch die Zeichen zu finden, indem nach einer noch nicht sichtbaren Realität gefahndet wird, wie es in der Lyrik Paul Celan am Rande des Sagbaren versuchte, auf den wir immer wieder in unseren Gesprächen zurückkamen, auf das ,Sprachgitter‘, durch das hindurch anderes mitspricht:
Jene Zeitstelle, in der differente organische, psychische, gesellschaftliche, kosmische Prozesse als kompliziertes Ineinanderwirken ins Handbewußtsein drängten (…) in neue Wirklichkeit…
4
Raumwerdende Zeit – Denklandschaften
Lesend aber gleichsam, wie
in einer Schrift, die Unendlichkeit nachahmen
und den Reichtum
Menschen…
(Hölderlin)
Mit-sich-selbst-eins-Sein, um der Wirklichkeit souverän begegnen zu können. Mitten im Leben stehen und doch bei sich selbst bleiben – wem gelingt es schon?
Ich gehe von meinem Tisch weg. Ich trete aus dem Zimmer, aus dem Haus. Die Begegnungen, die auf mich zukommen, auf die ich zugehe, sind einmalig, sind unendlich. Heimgekehrt, finde ich in Dokument und Legende, in Dichtung und Wahrheit, was ich anders aber nicht allein erfuhr.
Ich weiß schon, was ich schrieb. Ich kann es vergleichen. Geht es wenigstens einen Schritt über das hinaus, was mir schon bewußt war? Daß mich das Geschriebene fortführt über die eingelaufenen Bahnen der Haupt- und Einbahnstraßen – in niegesehenes Land?
Claus, einmal dorthin gelangt, wohin man ihm nicht gleich folgen wollte oder mochte, sah sich ständig vor Fragen, auf die moderne und überlieferte Denkweisen und Bildlösungen keine Antwort gaben, nur Ermutigungen, Fingerzeige. Seine nicht mehr nur vertikal und horizontal sich erstreckende Schrift will, bei gleichzeitiger Transparenz; über die Fläche in die Tiefe, weitet sich aus, sammelt sich, in überlagernden Schichten wie in Brennpunkten: Um das „Sprach-Welt-Bewußtsein“ des Ichs in der Konstruktion eines „Sprach-Welt-Raums“ auszubauen, der Zeitebenen und Bilddimensionen, Einst und Jetzt, Blickfeld und Hintergründe umfaßt. Die Idee einer Landschaft aus Denken und Sprache. Einer Landschaft, die sich – zuächst abstrakt – aus These, Antithese und Synthese im Skizzieren ausdenken läßt. Landschaft, in der dann – konkret in dialektischer Spannung zwischen Schriftzug und graphischem Symbol – ganz persönliche Bewegung und Weltzusammenhang aufeinandertreffen. Anregungen kommen von Blochs ,Subjekt-Objekt‘-Untersuchungen und von seinem ,Prinzip Hoffnung‘. Polare philosophische Strömungen geben starke Impulse: die pantheistischen, mystischen Anschauungen Valentin Weigels („auf der Welt bin ich, die Welt traget mich (…) und ich trage die Welt, und umgreife die Welt“). Das religiös-urkommunistische Pathos der auf revolutionäre Veränderung drängenden Thomas Müntzer („Wenn das Wort der Schrift erfüllt wird, dann muß man bereit sein, für das Wort das Leben zu lassen“). Leitmotive sind ihm die tatkräftig auf Praxis zielenden Lehren des Paracelsus wie die naturdialektischen, sinnlich ganz faßbaren Prinzipien Jakob Böhmes, dem sich die Mannigfaltigkeit und Einheit der Welt in Gestalt und Metapher eines sich mächtig verzweigenden Baumes auch bildhaft offenbart.
Die ganz aus Schrift erwachsende „Paracelsische Denklandschaft“ (1962) basiert auf schriftwerdender, sich auf dem Blatt tektonisch entfaltender Sprache – fern jeder ,Disziplin und Schule‘, wie es in Paracelsus’ Buch Paragranum heißt:
das auch die augen den verstand begreifen (…) und die zunge dermaßen ein wissen trage (…) also sol der arzt den mensehen bedeutlich in wissen tragen, genommen aus dem spiegel der vier elemente, dieselbige fürbilden ihm den ganzen microcosmum…
Der Mensch als Spiegel des Makrokosmos. Claus versteht unter der „Sonne Microcosmi: das Herz, das seine Energien mit denen der Rinde vereint“ hat, Übereinstimmung von Seele und Verstand.
Nur wenige Zeit später nach diesem Blatt folgt die „Allegorische Skizze: Die Umwandlung die Lesestoff erfährt“ (1963/64), kartographisch sich fortschreibende Bezugsfelder, die breits das Augensymbol verwenden. Symbol, das dann – auf einem ästhetisch wie semantisch reichen Blatt – mannigfaltige Perspektiven eröffnet in der „Historischen Allegorie Prag“ (1963). Da liegt denn das geistige Antlitz der Stadt wie auf einem ideengeschichtlichen Stadtplan vor uns, unerschöpflich und übersichtlich zugleich. „Die kleinen Augen in der linken Blatthälfte der Vorderseite“, sagt Claus, „fungieren, liest man die in Spiegelschrift daruntergeschriebenen Worte, als Signalelement Libussas, jener legendären Seherin, Stadtgründerin. Der Blick des Augenzeichens für Libussa, geweitete Pupillen, geht in eine noch ferne Nähe außerhalb des Blattes. ,Die Stadt Tabor‘ steht weiter unten geschrieben; das was in Tabor als antizipierendes kommunistisches Stadtexperiment geschah, meinte Libussa, einer hussitischen Überlieferung nach, eigentlich mit Prag. Nicht die versteinerte Gebärde der Macht, der Herrschaft von oben, rechts den Hradschin. Nur einer der Mächtigen, Rudolf II., oben, vergaß sie – die Macht, fast… ward blind, irre, als er, den Kopf zu Libussa geneigt, nicht starb.
Der nach oben zielende Blick der Schlange, links unten, kreuzt den in die Zukunft gerichteten Libussas. Unter der Schlange in Spiegelschrift die Frage nach ,jener Faust im Wappen Prahas‘, die Franz Kafka, auf der anderen Blatthälfte, an allen Stellen des Labyrinths – der spätbürgerlichen Entfremdung – spürte… rechts unten das ungefüllte Rechteck (= Zeichen für die Altneuschul), das eigentliche Experimentzentrum Prags… Sowie u.a. diese auf dem Blatt reflektierten Vorgänge: Die Geschichte der Klassenkämpfe, quer durch die Geschichte der nationalen Unterdrückung hindurch. Die Geschichte der tschechischen Arbeiterbewegung…“
Man erhält, geht man nur an die Decodierung eines solchen Blattes, noch weitere Zeit-, Raum-, Bedeutungs-, Wechselwirkungen, die dem Betrachter freies Spiel für eigene Schlüsse und Assoziationen geben, um mit dem Autor eine bisher unbeschriebene Terra incognita auszumachen. Claus verfaßt, den Dialog mit dem Leser zu erleichtern, knappe Essays, die dann aufschlußreich werden, wenn sie eine Blattidee nicht nur kommentieren, vielmehr auch Fingerzeige über Ursprünge und Konsequenzen geben, die wiederum sinnlich werden.
Die Geste der sich ausstreckenden Hand auf dem Sprachblatt „Nach der Schlacht bei Frankenhausen, nach Thomas Müntzers Tod“ (1962/63) – Menetekel und Brandschrift für Aufbruch – weist nicht nur für den Autor über das Einzelblatt längst hinaus, er greift nicht nur das Thema wieder auf (1970 unter dem Motto: „Die Idee aber der kommunistischen Revolution lebt weiter“), es regt ihn auch an, eine ganze Reihe von Blättern zu schreiben, die er schließlich zu einem „Geschichts-philosophischen Kombinat“ (1959–1964) zusammenfügen kann; transparente Blätter, die, übereinandergelegt und voneinander abgehoben, hinter den vier Ebenen des Einzelblattes weitere Dimensionen aufscheinen lassen, verblüffendes Verfahren, in dem sich „Blatt-Tendenzen“ zu einem „Blatt-Werk“ einfinden, die ein „Buch“ entstehen lassen, das den sich bildenden Stoff weiter und weiter treibt: „versuchte dialektische Vermittlung von: Sinneswahrnehmung, Denken, Gedankenstoff, Affekten, Sprechklängen, Schreibbewegungen, Schrift und Beschreibstoff…“
Blatt um Blatt raumgewordene Zeit, zeitwerdender Raum. Die Vision einer genuinen utopischen Landschaft von einem gegenwärtigen Punkt aus in Raum und Zeit gestellt. Die Vision, die den Kontrast zu unserer dringlichen Wirklichkeit braucht, um ihre Ausstrahlung sichtbar zu machen.
Blätter von Claus, in Photovergrößerungen frei in den Ausstellungsraum placiert, halten auch in der Reproduktion stand – wie das „Denk-Mal für den Rebben Jichzok Leib Safra, 1944 in Auschwitz ermordet“ (1961/62), als die Kunsthalle Baden-Baden 1964 seine Arbeiten vorstellt. Er erreicht zum ersten Male ein größeres Publikum. Progressive Zeitschriften, die sich der visuellen Poesie, als figuralem Gestalten durch einen Text, widmen, bringen Abbildungen und Aufsätze von ihm, er ist auf internationalen Expositionen vertreten, gewinnt Freunde und Enthusiasten. Der Bann der Isolation scheint endgültig gebrochen. An unterschiedlichen, auch heftigen Reaktionen hat es nie gemangelt. 1974 kann er in Poznan ausstellen, 1975 in der „Arkade“ Berlin, Drucke werden Ausgaben zeitgenössischer Lyrik zugeordnet.
Man sollte ihn erlebt haben, wie er einem seine Blätter vorführt, kühl bedächtig Strukturen deutend, sich im Gespräch zunehmend bekennend, befeuert von einer inneren Leidenschaft, die nur deshalb nicht überspannt wirkt, weil sie keine Verschwommenheit, keine Sentimentalität duldet, keine Esoterik, sondern ganz sachlich und zuvorkommend versucht, auch die verschlungensten Pfade ihrer Kunstlandschaft freizulegen. Etwa den „Eulenspiegel-Reflex“, den er 1964/65 schrieb, Blatt, das den grüblerisch-angestrengten Ernst einmal in einem fast spielerischen und zugleich aggressiven Ausbruch aufhebt.
Claus sagt, daß er den Eulenspiegel schon früh kennenlernte, aber nicht wie die meisten von uns in einer der kindertümlichen Fassungen, sondern gleich als Volksbuch. Er übte sich, Gewandtheit und Geschick des Schelms nachahmend, in Jiu-Jitsu, um alle Gegner besiegen zu können, verstand seine Streiche als ,List der Schwachen‘.
In Zusammenhang mit seinen Studien über die Renaissance und Bauernkriege stieß er, unvermittelt, wieder auf ihn, Ulenspiegel, nun Protagonist einer Epoche, Selbsthelfer und Vorläufer der revolutionären Kämpfe am Ende von Feudalismus und Mittelalter, ebenbürtig den Humanisten Erasmus von Rotterdam, Sebastian Brant bis zu Thomas Murner, die mehr als ein Jahrhundert später in ihren Narrenspiegeln seinen Geist aufnehmen und ihn gegen alte und neue Dogmen einsetzen, die Hierarchien zu stürzen.
„Eulenspiegel kreuzte auch im phosphoreszierenden Spannungsfeld Prag auf“, direkt in der 28. Historie des Volksbuches:
Also zoch Ulenspiegel inn Behemen gen Brag… Unnd zu der Zeit woneten daselbst noch gut Cristen, zu der Zeit, als Wicklieb uß Engelland die ketzerei in Behemen thete und durch Johannes Hussen geweitert ward, und gab sich uß für ein grossen Meister, zu berichten grosse Fragen, die sunst ander Meister mit ußlegen oder Berichtkunden geben…
Eulenspiegel tritt hier direkt den Scholastikern gegenüber und führt ihre spitzfindigen Pseudofragen witzig ad absurdum, ein Spiel mit ihrer Denkweise.
„Was aber waren denn nun die ersten Schriftzüge auf dem weißen Blatt Durchschlagpapier?“ fragte Claus, als wir den Reflex wieder vornahmen. „Die ,Niederkunft‘ der Augen leitete wohl den Schreibprozeß ein“, und Signum für unbestechlichen Blick ist ja die Eule, Eulenspiegels Wahrzeichen neben dem Spiegel, den er als Klar- und Zerrspiegel, als Instrument für Welt- und Selbsterkenntnis wählte.
„Die Augen“, sagt Claus, „hielten allen späteren Zerstörungen stand, sind also quasi die Papillarlinien dieses Eulenspiegels“, wie das schon in einer Frühphase des Blattes bemerkbar ist, die noch als Photo vorliegt. „Aber etwas Wesentliches fehlte noch.“ Und er vergißt dabei, daß diese erste Fassung schon nahezu ein Gesicht zeigt, den Umriß eines Kopfes mit Kinn und Lippenmund – eine bishin bei ihm kaum auftretende Form.
Die Worte „Widerspiegelung der verbalen Seite“ sind auf Anhieb zu lesen, sie zielen auf die Spielart des „Narren“, Aufträge, Hinweise und Befehle wörtlich zu nehmen, um sie damit außer Kraft zu setzen oder ihnen erst Geltung zu verleihen. Eulenspiegel ißt eben „für sein Geld“, was und wieviel ihm beliebt, und er bäckt Meerkatzen, wenn es ihm angewiesen wird, befolgt die Geschäftsregel „Wer Brot hat, dem gibt man Brot“.
Claus schwebt damit bald eine ,wesentlichere‘ Gestalt vor als nur die der populären Schwänke. Sie ist im ersten Anlauf nicht zu erreichen.
Ich erfuhr, wie wichtig es ist, daß, ist man einmal in einer Arbeit, sich dafür unbegrenzt Zeit gibt. Hat der Arbeitsimpuls seinen Ursprung in dem, was man als ,Existenzkern‘ bezeichnet, oder wandert er zu diesem hin, können Unterbrechungen sehr nützlich sein. Denn da geschieht etwas, von dem man im Moment oder in der Zeitspanne des Nichts-Tuns nicht weiß. Anreicherungen, Stauungen, Verrückungen, die Berichtigung sein können.
Zu tilgen ist ja nicht, was auf dem Blatt bereits steht, er kann es ,zerstören‘, durch Überschreiben in konträre Schraffur verwandeln, Gegenimpulse auslösen. Verworfen wird ein einmal begonnener Ansatz nicht, nur weitergeführt, auch, wenn er damit in anderer Richtung vorstößt.
„Und plötzlich merkt man“, sagt Claus, „etwas in den Fingerkuppen, ja, genau da. Sich der Vergänglichkeit dieses neu eröffneten Augenblicks bewußt sein. Die Feder zur Hand nehmen. Alles andere liegenlassen. Leider habe ich nicht immer die Geistesgegenwart, diesen psychischen Druck sofort umzusetzen.“
Daß an der ,Gestalt‘ Eulenspiegels noch Wesentliches fehlte, wird ihm eines Nachts aus seiner Beschäftigung mit einer eigentlich ganz fern liegenden Spracherfahrung ,blitzartig‘ bewußt. Ihm fällt ein: Diesem sich bildenden Gesicht fehlt die Nase. „Nase aber heißt hebräisch ,aph‘; ,aph‘ aber bedeutet in Synekdoche als Teil fürs Ganze: ,Antlitz‘. Und ,aph‘ heißt zugleich ,Zorn‘, ,Aufbegehren‘. Im kabbalistischen Adam hakadmon hat die Chiffre ,aph‘ entscheidende Willensbedeutung.
Das Gesicht, das nun entsteht, hat, Eulenspiegels Vorgehen analog, seine Wurzel darin, die Worte beim Wort zu nehmen, die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße zu stellen. „Das Licht der Zerbrechung geordneter Herrschaftsstrukturen – in diesem Satz liegt die Nasenwurzel, genauer: der Blitz, der sie hervorruft.“
So profiliert denn sein Blatt das scharfnasige Gesicht Eulenspiegels, die Schellenkappe um den Kopf angerissen, zerklüftete Landschaft wie das Gesicht der zerklüfteten Zeit, in der sich sterbendes Mittelalter und anbrechende Neuzeit überschneiden, Feudale, Bürger, Bauern, Reformation und Gegenreformation, Revolution und Restauration – Zeit im Spiegel eines solchen Kopfes, von heute aus re-produziert, „zerstörte Spiegelung“ – wie man lesen kann –, durch das Temperament eines Künstlers gesehen, der sich so mit in Szene setzt.
Claus erzählt von einem Traum, in welchem ein Bauer jener Zeit sich, die Gestalt Eulenspiegels und diesen Reflex in einem halbblinden Spiegel sieht. Und er erinnert sich an ein Erlebnis am Ufer der Saale: „Es war ein ziemlich nebliger Abend, von meinem Beobachtungsort aus waren die Bäume des gegenüberliegenden Ufers – tief unten – von weißen Schwaden umzogen; Ihr Spiegelbild im Wasser aber von fast unheimlicher Klarheit und Schärfe.“ Klarheit, die bei aller Differenzierung aus diesem Reflex hervortritt: eine Inkarnation Eulenspiegels, dem die Einleitung zur 65. Historie des Volksbuches zuschreibt:
Dem must du ein Schalckheit thun, es sei, waz es wöl, daß der Irrtum uß dem Volck kum.
Claus gleicht mir manchmal dem Hieronymus im Gehäuse, der, listig und heiter die Dinge der Welt zu sich hereinholt, um sie, mit seinen Zeichen versehen, wieder auszusenden, „Hic fuit“. Das war ich. Das bin ich. Erkennt ihr euch selbst.
5
Aurora
Der durch dich hindurch-
gehämmerte Strahl,
der hier schreibt,
röter als rot.
Mit seinen Worten
dich aus der Hirnschale schälen,
hier verscharrter Oktober (…)
(Paul Celan)
Das Geschriebene soll mich kenntlich machen, und es sei nur in einer Zeile, einer authentischen Wendung, einem genauen Wort. Es soll mich anderen zur Verfügung stellen, die mir kenntlich geworden sind. Damit nehmen wir Zukunft vorweg.
Woraufhin schreibe ich denn, wenn nicht ,auf Hoffnung‘. Doch nicht für den genügsamen Augenblick, für Vergehendes, doch nur im Hinblick auf etwas. Ob ich das nun bestreite oder anstrebe, ob ich es billig mißachte oder betreibe. Wer sähe sich nicht gern in kommender Zeit.
Claus, auf sich verwiesen wie kaum einer, strebt wie kaum einer über sich hinaus, und das ist bei ihm gar nicht forciert; wenn er darüber spricht, wird nur die Anstrengung sichtbar. „Ich sitze Tag und Nacht an ,Aurora‘… die gegenwirkenden schwarzen Schübe, ihre erstarrte Unruhe, die sich als Letalfaktor im Morgenrot selbst zeigen: dem bin ich, ist mein Leben… seit eh und je ja ausgesetzt…“ Es ist auch ein Schreiben ums Überleben, wenn er seine Fragen in die Zeit hinein vortreibt, jedenfalls für ihn.
Erst unter den Bedingungen möglicher klassenloser, d.h. kommunistischer Gesellschaft kann Fülle und Intensität der Welt in ihrer Tiefenstruktur realisiert werden. Wobei die Sinnfrage und die nach dem Tod ideologiefrei sein würden, also an Härte und Schwierigkeiten zunehmen. Vielleicht liegt in der Energie Liebe ihre Lösung. Das Aurora-Gebiet der Liebe findet sich im Innersten.
Claus hat, in seiner Umwelt wohl heimischer werdend, wenn auch durchaus noch „freiwillig gewählten negativen äußeren Bedingungen“ ausgesetzt, in den letzten Jahren verschiedene graphische Techniken ausprobiert. Vor allem auf das Drängen von Freunden hin. Er hat – neben stark engagierten Sprachblättern zu aktuellen Ereignissen in Polen und Vietnam, in Prag, Chile und Nahost, Blätter „von gewaltsamen Ballungen, tosenden Strudeln bis zur Verinselung oder zur verinnernden Flüchtigkeit“ (W. Schmidt) – auch Lithos (zum Frühwerk Brechts), Zinkographien (Psychologische Improvisationen) und in Kontakt zu aufgeschlossenen Kollegen in Karl-Marx-Stadt schließlich Radierungen in seiner Schreibweise gemacht. Vor allem weil sie die Reproduktion ermöglichten, nicht nur die Wiedergabe durchs Photo auf Ausstellungen. Er will ja den Austausch mit dem Leser, will zudem keinen künstlerischen Stillstand:
die neuen Materialbedingungen fordern andere Bearbeitungs- und Denkumsetzungs-Methoden.
Bedingt durch das zu bearbeitende Material Stein oder Metall, das den hautnahen Kontakt über Fingerkuppe und Feder kaum zuläßt, wie das anpassungsfähige, ,nachgiebige‘ Papier, führte das sicher zu einer gewissen Verfestigung seiner Zeichen und Symbole, zwangsläufig auch zur Einschichtigkeit. Der Druck hat kaum die Spontaneität und Faszination, die von dem Sprachblatt ausgeht, das ich wie ein Autograph in die Hand nehmen kann, es zu lesen wie einen an mich ganz persönlich gerichteten Brief, und sei er noch so apokryph. Trotzdem – Claus geht es auch bei seinem graphischen Schreiben nie um Illustration oder auch nur ,Gedankenkunst‘, bloße Umsetzung ins Graphische. Und wenn er den Zyklus „Aurora“ als willkommenen Auftrag begann, so doch nicht, um in Abbildung oder gar künstlerischer Apotheose historischen Taten und Gestalten ein Denkmal zu setzen, vielmehr um sich selbst in dieses Erregungsfeld zu stellen, rezipierend, anrufend, nachdenkend und fragend, den Oktober mit eigenen Worten ,aus der Hirnschale schälen‘:
Das Aurora-Signal des Russischen Oktober als Vor-Signal möglicher universaler Bewußtwerdung.
Das „An Alle“ wieder wörtlich nehmend, auch als Hoffnungssymbol wie das griechische „Hen kai pan“ – Eins und Alles, das Hölderlin an seine Wand schrieb.
Das Phänomen ,Morgenröte‘ – „der gehämmerte Strahl, / der hier schreibt, / röter als rot…“ hatte für ihn ohnehin nichts Außergewöhnliches. Psychisch verband sich bei ihm die Farbe Rot, der alchyme ,Rote Leu‘, mit dem sexuell Sinnlichen, eben auch mit der Energie Liebe. Geistig war ihm das transparente Licht des anbrechenden, beginnenden Tages mit jenem Begriff der Energie identisch, wie ihn schon Jakob Böhme in seinem Buch Aurora oder Morgenröte im Aufgang als „hellsichtiges Wesen“ und Materie zugleich verstand, Energie, der Lenin ein „subjektives Wesen“ zubilligt, das in der Tat in ihr stecke.
Die neuen Horizonte, die sich dem Sozialismus aus den Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaft und Individuum, zwischen Mensch und Natur antizipierend eröffnen – sie will Claus mit seinem Blick in diesen Blättern anvisieren: „Naturalisierung des Menschen – Humanisierung der Natur – das kommunistische Zukunftsproblem“, wie es bereits ein Sprachblatt von 1967 nennt.
Claus handhabt diese großen Begriffe, so seltsam es klingt, wie vertraute Gegenstände. Er nimmt ihnen jede Lebensferne, Abstraktheit und Mythos, weil er keine Differenz zwischen sich als Person und dem, was sich da kosmisch gewaltig vor ihm auftut, gelten läßt.
„Die Galgen werden grünen“ heißt das 2. Blatt der Folge und nimmt ein Wort wieder auf, das er schon einmal, auch durch die Farbe Grün sinnlich und symbolisch aufwachsen ließ („Das Grünen der Erde“, 1966), intoniert nach dem hebräischen ,desche‘, „das sich entfalten läßt aus ,Aleph Cheth Daleth‘ = ,Eins‘ (korrespondierend mit ,Liebe‘) aus ,Chet Daleth Schin‘ = Neues, ,Daleth Schin Aleph‘ = junges Grün“. Er nimmt auf dem Blatt die Metapher ganz wörtlich, den Raum zwischen Leere und pflanzenhaft Behaustem klug aufteilend, wie man es von alten chinesischen Tuschezeichnungen kennt, filigran, frühlingshaft. Grün – das in anderer Art im Hohelied Salomonis, dem hebräischen ,schir haschirim‘ anklingt, wie Claus meint, von Luther einfach übersetzt: „Unser Bett ist grün“, Wort, das aber, wie es atheistische Kabbalisten neu lesen, korrespondiert mit ,ajin sin he‘ mit wirken, tun, vollziehen, arbeiten, so daß man das ,ajin resch sin‘ nicht nur als Bett lesen kann, sondern auch als Laube, Hütte, Körper. „Ich lese den Satz ,unser Körper grünt‘, wie auf dem 8. Blatt im Werden neuer Sinnesorgane… Bewußtwerden noch nicht bewußter Fähigkeiten. Denn genau dieser Satz hat – neben der in den Jehuda Halewi und Paracelsus-Zitaten genannten – Beziehung zu der arabischen Legendenfigur CHIDR. ,Chidr‘ – der ewig Grünende, der nie ermüdende Wanderer, der durch Jahrhunderte und Jahrtausende über Länder und Meere schweift…“
Für Claus ist „Aurora“ nicht nur eine historische Wendemarke, menschliche Produktivkraft fruchtbar zu realisieren. „Aurora“ ist ihm Inbegriff der Menschwerdung schlechthin. Inbegrifff „des Reichtums der inneren Natur des Menschen, neuer Kommunikationsorgane wie der Erprobung im Selbstexperiment“.
Mit dem Wort „Selbstexperiment“ verknüpft er mutig seine Weise, Welt zur Sprache zu bringen, mit gesellschaftlichem Anliegen. An seinem Zyklus arbeitete er bis zur körperlichen Erschöpfung. Er sagt, „der Schmerz nimmt zu. Aber dann manchmal auch die Intensität des Wärmestroms und des Schimmerns, des Leuchtens. Ich meine jenes psychische Dunkel, in das man alltäglich neu eingeht, eingehen muß, will man die physisch-psychische Sende- und Empfangsstation erreichen, deren Kontaktlichter erst in dem Augenblick aufglänzen, da man sie erreicht hat (…) Ungewißheit, wie viele zufällige Durchkreuzungen, Irr-Erscheinungen, Zusammenbruch. Aber andererseits: Mit welcher Kraft durchtränkt Aurorahaftes den ganzen Körper…“
So kann man ihn sehen. Müde, angespannt von nervöser Energie. Seine Zeichen auf ein neues Blatt setzend, immer wieder, z.B. das Wort ,grün‘… Zeile aus dem Hohenlied, Figur des Chidr, des ewig Grünenden, des nimmermüden Wanderers, lautloses Sprechen, das sich verpflanzt bis ins gegenwärtige Gedicht Celans:
es wird ein Gehn sein, ein großes,
weit über die Grenzen,
die sie uns ziehn.
Gerhard Wolf, in Joachim Walther (Hrsg.): „Mir scheint der Kerl lasiert“. Dichter über Maler, Buchverlag Der Morgen, 1978
Ich sitze an dem runden Tisch, die Stille ist fast tastbar. Etwas scheint sich zu konzentrieren, draußen und im Körper. In dem das Neonlicht der Straßenbeleuchtung reflektierenden dichten Blattwerk des Ahorns schräg gegenüber und in der Hand, der Hirnhand. Noch-Nicht-Gewordenes in der Realchiffre „Baum“ und in der Realchiffre „Hand“? …
Claus in einem Brief an Ernst Bloch, 8.7.1974
Manchmal geschieht es, daß eine jahrzehntelang währende Arbeit in einem Lebens-Werk kulminiert. Alle Anstrengungen und Bemühungen, Experimente und Exerzitien finden wie von selbst – schlagartig – in einem großen Entwurf zusammen, der alle bisherigen Möglichkeiten aufgreift, vereint und in einem schöpferischen Akt vollendet. Das auf 74 Seiten vor unseren Augen sich entfaltende Aggregat K von Carlfriedrich Claus hat diese Ausstrahlung, hat einen elan vital, der erregt und herausfordert.
Wer mit seinem Schaffen nur etwas vertraut ist, findet hier die Elemente – Signale, Signen, Gedanken-, Sprach- und Schrift-Bilder – wieder, denen er in früheren Skizzen, transparenten Blättern, Radierungen, Lithographien, selbst in den zu Kombinaten gefügten, vielschichtigen Blatt-Werken und Zyklen begegnete. Aber sie werden jetzt, wie durch eine unvorhergesehene, weiterausholende Bewegung verwandelt, zu monumentaler Gestaltung gebracht, die nicht nur körperlich-vibrierend aus den linear-manifesten oder mehrdimensional-transparenten Seiten spricht, sich Blatt für Blatt entwickelt als dynamische Gesprächs-Verflechtung, variable zeichensprachliche Ebenen und disparate Raumvorstellungen eröffnend, wie man sie sonst von keinem anderen Kunstwerk kennt. Alle einst aufgeworfenen Fragen, ob man es bei diesen Arbeiten mit Schrift, Grafik, einem Objekt visueller Poesie zu tun habe, oder mit anschaulich gemachten Denkvorgängen, Psychogrammen, erscheinen peripher, werden durch den grandiosen Karate-Schlag Erwachen am Augenblick beantwortet, der uns unmittelbar sinnlich trifft, noch ehe wir angeregt sind, den komplexen Schrift-Bild-Raum mit seinen sich kreuzenden Perspektiven und oszillierenden Wechselwirkungen insgesamt zu erschließen – einmaliges Versuchsfeld, das, bei manchen Analogien zur Kunst der Moderne, kaum Vergleichbares hat.
Claus hat dazu seinen isolierten Arbeitstisch im selbstgewählten, zurückgezogenen Domizil immer wieder verlassen, hat die konzipierten „Studien-Blätter“ in der grafischen Werkstatt direkt auf die Druckvorlagen umgesetzt, im Herstellungsprozeß korrigiert und verändert, hat in intensiver Zusammenarbeit mit versierten Fachleuten vorwegüberlegte Konstellationen neu projiziert, um seine Vision eines Buches endlich zu verwirklichen, als eine
Aufforderung an den Betrachter, sein eigenes motorisches System zu aktivieren, Fingerkuppen, Hände, Muskeln, Augen… mit Gegendruck eine blitzschnell subjektive Bewegungsfigur in Leere zu realisieren, eine augenblickhafte reale Bewegungsplastik.
Claus Tagebuch, 23.1.1983
Eine Arbeit also, die unsere Teilnahme verlangt und zu einem Gespräch aufruft, wie es im Briefwechsel zwischen ihm und Rudolf Mayer in der Entstehungszeit des Aggregats bereits stattfand.
Wenigstens eine Spur von bestürzender Signifikanz möchte ich, den Dialog aufnehmend, nachgehen.
Aus den noch ungestalten Strukturen des ersten Blattes, auf dem man schon den Abdruck authentischer Finger erkennt, ist kraß die scharfumrissene, leere Fläche einer wie abgeschnittenen, leblosen Hand ausgespart, während Schraffuren – mit dem Pinsel schräg über die untere Blatthälfte getuscht – die Heftigkeit nachempfinden lassen, der toten Leere ersten Widerstand zu leisten mit raschen Zügen, die – blättert man um – in wild-bizarrer Gestik Umrisse eines „Baumes“ entwerfen, dessen „Zweige“ sich bis auf die letzte Seite dieses ersten „Kapitels“ erstrecken – eines Konvoluts, auf dessen nun vollends mit der Feder ausgeschriebenen, mit Pinsel und Finger „gezeichneten“, transparenten, also vierdimensionalen Seiten wir die ungeheure Spannung zwischen dieser eingangs plazierten leeren Hand und der durch sie folgenreich provozierten Fülle an Zeichen, Worten, Figuren, Bewegungsabläufen erfahren – erleben von Zerfallsvorgängen, wobei „innen“ und „außen“ ununterscheidbar werden, lese ich bereits auf der ersten Zeile der Folie des Schriftblattes.
Der nicht zuende zu bringende Widerstreit zwischen Leere und Form, Chaos und Gestalt, Energie und Materie, Stillstand und Bewegung durchzieht mit vieldeutigen Momenten diesen prozessualen Vorgang, zu dem Claus mit Blatt-Titeln und Begleittexten semantische Hinweise gibt, um die Dynamik zwischen Hand- und Wort-Leere wie zwischen unbewußter oder gezielter Handlung auch verbal zu fixieren, wo doch Wörter wie „beschreiben“ oder „gestalten“ ganz unzureichend sind und nur zur Umschreibung dienen können, für dieses Unternehmen „Kara-te“, das Claus sich und einem Freunde schon 1982, als er damit begann, zu erklären versucht, indem er auch weltanschauliche Konsequenzen andeutet, die später auf der Suche nach einem Titel diskutiert werden:
Japanisch karate heißt wörtlich „leere Hand“ (übertragbar auch: „leere Handschrift“). Es geht dabei um zunehmende Wachheit, um blitzschnelles Handeln aus dem je besonderen Augenblick heraus… Durch psychisches Karate, experimentell also auf einen selbst angewandt, kann man psychische Verhärtungen, Versteinerungen spalten und noch nicht bewußte Energiequellen freilegen. Politisch würde Karate Spontaneität mit Bewußtheit verbinden, zu blitzschnellen Entscheidungen befähigen, also zum Erkennen und Verwirklichen von Möglichkeiten im Augenblick (der so nie wiederkehrt). Kommunistische Karate-Politik ist zumindest in Teilbereichen (eben auch der Entwicklung sozialistischer Demokratie!) denkbar und wünschenswert.
Claus in einem Brief an W. Uhlig, 15.12.1982
Den Mut aber, seine lebendige Hand massiv auf das Blatt zu drücken (die eigene Hand wird in diesem Buch wiederholt und sehr differenziert eingesetzt), sie als psychisches Instrument physisch rigoros zu gebrauchen – authentisch zu handeln, wie es sich aus den Worten „hand-greiflich“ und „begreifens-wert“ herleitet, zeigt und beweist er erst in diesem Bewegungstext K, der die ursprüngliche körperliche Übung und kontrollierte Konzentration (Claus hat sie trainiert) nur als starting point nutzt, zu einem vitalen Selbstversuch, der alle Mittel gebraucht, die er bisher erprobte und sich zugleich – befreiend – über sie hinwegsetzt. Die Voraussetzungen dafür
hat er sich – „au fond“ (einer seiner Lieblingsausdrücke) – längst Zug um Zug geschaffen. Der Karate-Schlag wurde
sozusagen von langer Hand vorbereitet.
Denn neben dem Auge ist die Hand das wesentlichste Signum, das er immer wieder modifiziert: als Chiffre, Metapher, Symbol für den sich vollziehenden heterogenen Schreibakt (Schrift als „Ideen-, Tätigkeits-, Ding-Zeichen“) – das ausführende Organ jenes
Grund-Streites, Kampfs: zwischen der gedanklichen Rede, die ich in mir umgehen lasse, die geteilt, als elektrische Impulse durch Zellen, Gefäße, Muskeln spukt, schließlich durch die Hand herausschlängelt oder adlerhaft aus ihr niederstößt…
Notizen zwischen der experimentellen Arbeit zu ihr, 1964
Erinnere ich mich der markantesten Stationen, die solche Überlegungen umsetzen, fallen mir zuerst die Zeichnungen von 1963 ein (Blick-Worte reflektierende Studie oder: Reflektion der Nichtrelation zwischen Marionette und kybernetischem System), auf denen, teilweise mit Buntstift kontrastiert, zart gestrichelte Hände phantastisch-real aus Kopf und Leib herauswachsen, spielerisch, heiter, verwandt den wie an Kinderzeichnungen orientierten Figurationen Paul Klees,1 („porzellanene magie und reflektion der methode“ lese ich den das Blatt um- und einkreisenden Wortlinien ab), von einer luziden Naivität, wie sie vielleicht nur noch die 4 Blätter „Gedankenwege“ von 1962 zeigen, wo – tatsächlich – die arabesken Pfade nachgezogen werden, mit denen, vom Hirn, über Körper, Arm und die sensiblen Fingerglieder der Hand gesteuert, die Gedanken aufs Papier gelangen, sich umgehend das nach verschiedenen Richtungen hin strebende Beziehungsfeld schaffen, das Claus auch in der Montage zweier Skizzen im Bereich des 2. Signalsystems: einen Sprechakt entwickelnd (1960–63) weitaus grüblerischer, Augen- und Handstrahlen zueinander in Kontakt bringend, anging.
Er baut solche Vorhaben stringent in Vorversuchendes Mikro-Kontaktkombinat. Im Bereich des Problemfeldes Natur-Subjekt-Triebgefühlfühler-Sprache (1962–65) weiter aus, wobei ihm das einzelne Blatt längst nicht mehr ausreicht (hier werden zentrale Ideen und Emotionen des Aggregats vorweggenommen!). Schließlich entwirft und knüpft er die diffizilen Gewebe der gleichzeitig entstehenden Denklandschaften, ineinander verschlungene, geometrische Texturen und Muster eines unaufhörlichen, auch durch Lektüre und Gedankenaustausch mit Ernst Bloch angeregten, philosophischen Disputs über historische „Themen“ wie die Paracelsische Denklandschaft (1962) oder die Historische Allegorie Prag (1963) – genuine Projektionen, die er endgültig „Sprachblätter – speech sheets“ nennt, die der Kunst dieser Dezennien einen neuen Impuls geben, der für immer mit seinem Namen verbunden sein wird.
In das turbulente geistige Geschehen, des aspektereichen „Geschichtsphilosophischen Kombinats“ (28 transparente Blätter in einer Folge, die, miteinander korrespondierend, sich wechselseitig ergänzen – 1963) greifen wiederum fluoreszierende Hände ein (z.B. Blatt 13 und Blatt 16 in jeweiligem Kontakt zu Umgebungsblättern); Claus spricht in seinen Essays von „Hirnfingern“ und von „Handbewußtsein“, das seinen Sprach-Schrift-Figuren Ausdruck gibt – sicher in der Gewißheit naturwissenschaftlicher Forschung, wonach die Hand und besonders die Finger auf dem somatischen Cortex des Menschen außerordentlich detailliert abgebildet sind, „wie es dem Verhalten des Homo sapiens entspricht“,2 so daß in ihren Zeichen sich wahrhaftig Denkprozesse widerspiegeln und abbilden lassen, freilich nicht nach dem Schema braver marxistischer Widerspiegelungstheorie, eher ähnlich dem Wechselspiel kybernetischer Systeme mit unerschöpflicher Kombinatorik, die auch die unsystematischen Interdependenzen von Bewußtem und Unbewußtem, zwischen Meditation und Aktion registrieren. Claus beschäftigt sich in seinen Blättern damit, er schreibt dazu im Tagebuch 1974:
Die Hand. Ihr Schatten im Affektgetriebe kann dieses leibhaft steuern; die Triebe, die Affekte „in die Hand zu bekommen“: eine Voraussetzung dazu ist die Clarifizierung der Handbioströme. Mudra, Phyag-ryga. mystische Finger-, Hand-Stellungen und -Bewegungen: antizipatorische Versuchsgebiete am Rand kommunistischer Körper-, Existenz-Kernexperimente. Die Hand, Kommunikationsapparat… Die Hand, das eigentliche Arbeits„organ“, gehört auch zum sexuellen Verbundsystem des Körpers, ist dessen exponierte Komponente. Freilegung des Utopischen im Sexualtrieb bedeutet also auch: Entwicklung des Noch-Nicht-Bewußten im Noch-Nicht-Gewordenen der Hand.
Claus Tagebuch, 6.7.1974, zu Versuchen Die Gestalt der Schwelle vor dem Utopischen im Sexualtrieb
Man sieht, nimmt man das Angebot zum Diskurs, das uns Carlfriedrich Claus macht, wirklich ernst, führt es in immer verzweigtere, nahezu inkommensurable Bereiche, die ich, in gebotener Kürze, nur punktuell, stichwortartig-fragmentarisch berühren kann. Bei ihm haben zudem Vorbereitungs-, Meditations- und Arbeitsphase das gleiche Gewicht und nahezu den gleichen „Stellenwert“ wie das „fertige“ Produkt. Aber diesem allein sind wir dann als Betrachter konfrontiert.
Glaubte ich beobachtet zu haben, daß in der 2. Hälfte der 60er Jahre sich die gedankengesteuerten Skripturen seiner Blätter immer stärker zu flächen- und raumgreifenden Formen auswuchsen, die das Geschriebene überzeichneten, übermalten, ersetzten und damit unser Hauptaugenmerk auf sich zogen – auch weil er in seiner Stellungnahme zu politischen Ereignissen Gemütserregungen und Meinungsbekundungen freieren Lauf lasse – antwortete er:
Wenn ich mirs überlege, ist es nicht ganz zutreffend, davon zu sprechen, daß 1966 ein „Wandel“ eingetreten sei, unter meinem Aspekt würde ich es als „Zunahme der inneren Spannung“ bezeichnen. W. Schmidt3 spielt ja auf die 3 Vietnam-Blätter Das Geschehen in Vietnam, am Wort Hand reflektiert an, die 66 entstanden. Aber auch mit der Jahresangabe ist das so eine Sache: denn diese Blätter bereiteten sich in vorhergegangenen vor… Jedenfalls nahm das Motorische, Willenshafte, Affektive im Laufe der Jahre zu: ich selbst empfinde dies als Intensivierung…
C. Claus in einem Brief an G. Wolf, 18.11.1975
Die strukturelle Intensität, die seitdem vorherrscht, verstärkt den expressiv-gestischen Charakter seiner Verfahren und ihrer Resultate, die er, Phase für Phase, unermüdlich vorantreibt. Notiert er 1966 zu einer Rasch-Skizze:
Ich schrieb den Satz, d.h. linkshändig schreibend entstand er plötzlich, und siegelte dann das Blättchen mit dem rechten tuschetriefenden Daumen
C. Claus Tagebuch, 30.1.1966
so erprobt er zusehends verschiedene Praktiken, auch um sich selbst seine Arbeiten durch neue Konstellationen zu „verfremden“: stellt Collagen her, die sich aus den photographischen Reproduktionen der mannigfaltigen Blatt-Ansichten aufdrängen (Durchblicke werden zu Fixagen), erfreut sich an Spiegelungen und gebrochenen Lichtreflexen der auf durchsichtigem Material reproduzierten Vergrößerungen („Schwebend präsent ist die Denklandschaft… Menschenbewegungen vor und hinter dem Glas…“); handhabt den Pinsel, reibt Frottagen, hantiert mehr als er schreibt.
Vor allem aber greift – im Zusammenhang mit der Anwendung grafisch-drucktechnischer Verfahren – ein anderes Arbeitsprinzip platz, das sich auch als anderes Hand-Werk ausweist, und ihn, der alle Schritte sorgfältig, ja skrupulös abwägt, vollends in Bann schlägt.
„Ich hatte schon von der ersten Platte an das Gefühl“, bemerkt er zu den Radierungen der Mappe „Aurora“, daß da etwas Neues, Anderes, eben Materialspezifisches in Gang kommt. Der Grundunterschied den ich intensiv erlebte: man schreibt „trocken“, gräbt mit Metall die Schrift in Metall… Stehen handschriftliche Tusche-Sprach-Blätter unter dem Produktionszeichen WASSER (Feuchtigkeit), so steht das erste Stadium der Produktion eine Radierung unter dem Zeichen FEUER (Trockenheit, Wärme, das „trockene Feuer“ Heraklits)… Arbeitet man mit Tusche auf Papier geschieht der Artikulationsprozeß aus Fließendem Wässrigem heraus. Arbeitet man mit Metallnadel auf Metall… spürt man stark den Gegendruck des Beschreibstoffs – des Metalls – auf den Druck der schreibenden Hand. Durch die stärkere Muskelanspannung entsteht (mehr) Wärme in der Muskulatur im Körper…
C. Claus in einem Brief an G. Wolf, 4.11.77
In seinem Buch Aggregat K hat Carlfriedrich Claus dann den enormen Versuch unternommen, die affektive Sprache seines Körpers in Einheit mit der gezielten Sprache seines Denkens zu reproduzieren, sie als Aus-Druck einer raum- und zeitumgreifenden Bewegungsphase – durch die „schreibende Hand“ hindurch – zu verstehen und darzutun, der von „innen“ nach „außen“ wirkt, den Gegensatz von Unbewußtem und Bewußtsein mit einem Handstreich aufhebend. Er hat dabei die Hoffnung, daß es dem Menschen, der solche individuelle Fähigkeit besitzt, doch auch möglich sein muß, seine Kräfte – in Kommunikation mit anderen – für das Zusammen- und Überleben der Gattung nutzbar zu machen. Daß der Betrachter mit ihm in der Emanzipation der eigenen Hand zugleich die Emanzipation der Gesellschaft erfährt, sie erkennt, sie „begreifen“ kann.
Befreite Menschheit, Kommunismus…, als Endzustand und starting point der eigentlichen Universalgeschichte der Menschheit.
Natürlich ein utopisches Werk – von dem der Schreibende erwartet, „daß seiner Hand, schreibend, eine Kurve gelingt, die intensiver, leuchtender, dem wahren, wirklichen Leben näher ist, als die mancherlei Abweichungen ausgesetzte Lebenskurve“.4
Ein Satz von Christa, der mir für Carlfriedrich zu gelten scheint, den ich ihm zu seinem 60. Geburtstag zurufe wie eine Antwort auf seine uns inspirierende Lebens-Arbeit, die
… erzeugt in Zwischenräumen, Zwischenzeiten jäh jene diese Blitze, Funken spüren läßt,… am Rand des Dunkels, des „Stoßes tief unten“, des Pochens: Jetzt- Nie-Jetzt-Nie-Jetzt…
C. Claus in einem Brief an Carola Bloch, 15.12,1982
Gerhard Wolf, 1990, aus Christa Wolf und Gerhard Wolf: Malerfreunde. Leben mit Bildern, Projekte Verlag Hahn, 2018
Landschaft
Ganz zart
zieht der Strahl
die Rundung des Auges nach
Zwischen
Schrägen und Steilen
geteilten Geraden
die zitternde Linie
Ganz leicht
umläuft sie das Auge
Carlfriedrich Claus, 1956
Daß sich Handeln an augenblick-genauer Raum-Zeit-Kontaktstelle vollzieht, ist nur ein Ergebnis, das sich Carlfriedrich Claus während der Arbeit am Aggregat K in diesem durchchiffrierten Sprach-Schrift-Bild-Buch erschloß, daß den Betrachter nun wahrlich mit hundert Augen, Finsternis in Helle, Licht in schwarze Strahlen verwandelnd, anblickt. Das Auge neben der Hand das Zeichen für Wahrnehmung und Erkenntnis, die eben im Augenblick – hier verwandelt sich der Vorgang zum Zeitmoment – Empfangen und Senden, Aufnehmen und Reagieren in einem Akt – augenblicklich zusammenkommen lassen. Momente, die uns aus vielen Augen ansehen, weil er hier einmal alle Phasen durchspielen kann, wie er sie in langjährigen Erkundungen für sich immer wieder modifizierte. Auf meinen Einspruch, ob sich da nichts wiederhole, und warum er denn immer wieder das Auge – wohl als Symbol – ins Zentrum eines Blattes rücke, antwortete er, den Einwand als „Handkantenschlag empfindend“ ausführlich:
Augen: es stimmt, die tauchen aus sehr vielen Sprachstrukturen auf. Aber kann man das als „Sich-Wiederholen“ bezeichnen? Anfang der 60er Jahre schrieb ich ein Blatt, auf dem es von Augen nur so wimmelt: Differente Stufen der Wachheit, versuchende Konstruktion ihrer Simultanität. Dieser Titel kennzeichnet vielleicht den Sachverhalt. Die Augenzeichen haben stets eine exakte Funktion, oft zeigen sie mehr oder minder große Wachheit bzw. Bewußtheit des abgehandelten (sprachl.) Themas an und wollen in diesem Kontext GELESEN sein… Ich selbst gehorche da einfach einem inneren Zwang: hier ist ein Auge im Werden, will ans Licht. In einer späteren Phase verschwindet es durch Überlagerungen wieder oder bleibt oder bleibt teilweise und verwandelt sich in anderes (auch andere Blickrichtung, die Blickrichtung hat ja auch Bedeutung). Und: Auge ist nicht gleich Auge; es hat – von mir aus gesehen – semantischen Sinn, ob das Auge Pupille hat oder nicht, ob die Pupille geweitet ist oder verengt, ob die Lider Wimpern haben, ob zwei Augen nebeneinander stehen oder eines isoliert, ob eine Augenhäufung vorliegt, ob der Blick nach außen geht, evtl. „Strahlen“ emittiert oder nach „innen“ sinkt usw…
Brief an Gerhard Wolf, 18.11.1974
Und wirklich, betrachtet man mit dieser interpretatorischen Vorgabe seine Blätter über die Jahre hin, wird man erstaunt feststellen, wie spät das Auge als „Metapher“ – zum ersten Mal in der Allegorie: Zweifel von 1962 – erscheint, groß und rund die Iris, zartgestrichelt (von ihr geht eine Schriftzeile aus), dunkel die Pupille, der ovale Augapfel von doppelter Lidlinie gefaßt – ein Auge so deutlich wie die auf den unmittelbar folgenden Folien der Gedankenwege; Augen, die auf Zeichnungen ein Gesicht markieren, oder wiederum das eine Auge in Signalement einer Phase vom November 1962 geradezu im Zentrum des Blattes, seine Aura in konzentrischen Kreisen ausschickend, ein offenes und ein geschlossenes Auge mit seinem Radius erfassend; Claus versteht es als Inkarnation eines Schmerzes, der seinen ganzen Körper bedrohte (er entging tatsächlich um Haaresbreite einer lebensgefährlichen Bauchfellentzündung).
Man fragt sich, wie seitdem die Nachzeichnung dieses Sinnesorgans in allen Variationen, mit seiner schier unbegrenzten Fähigkeit, Welt aufzunehmen, ihn zu immer anderen Deutungen reizt und herausfordert, so daß es durch die Folge seiner Überlegungen im „Geschichtsphilosophischen Kombinat“ auf kaum einen Blatt fehlt, und schließlich in Kommunistische Bewußtheit im Fühlen konkret (als Schriftzeile lesbar) als „Auge der Hand“ hervortritt, längst weit über seine Wahrnehmungsfunktion hinaus fungiert: „Auge der Hand… die Hände, die denken.“
Über das menschliche Auge aber hat schon vor gut vierhundert Jahren ein Mann philosophiert, der für Claus zu einem vorausschauenden Gewährsmann wurde, die ganz persönliche Sinneswahrnehmung von Licht und Dunkel, vom weißen Nichts und dem Spektrum der Farben vor dem Hintergrund eines allgewaltigen Weltzusammenhangs zu verstehen. Der spricht vom dreifachen Auge des Menschen, einem „oculis carnis“ – ein Auge des Fleisches, „damit man ansieht die Welt und alles, was zur Küche gehöret…“, einem „oculis rationis“ – Auge der Vernunft, „damit man siehet und erweiset oder erfindet die Künste und vollbringet alle vernünftigen Gewerke und Handwerke…“ und schließlich ein „drittes und oberstes“ Auge des Menschen, „oculus mentus seu intellectus“, das Auge des Verstandes, damit man schauet Gott…“
Analog dazu kennt er drei Stufen der intellektuellen Tätigkeit „cogitatio“, das unmittelbare Erfassen der Welt, „meditatio“, das innere Verarbeiten des Erfaßten als Wesen der Dinge… und endlich „contemplatio“ – die zu einer höheren Anschauung führt. War die Welt für die christliche Dogmatik nur ein Gegenstand des Glaubens, so existierte sie im Denken dieses aufrührerischen Häretikers als „Gegenwurf“ unabhängig vom Menschen. Erst unter seinem – man könnte sagen bereits pantheistischen – Gottesbegriff vereinen sich Mensch und Welt mit Gott zu einem „ein und alles“.
Valentin Weigel, denn er ist der Verfasser jenes Büchleins Erkenne dich selbst wird von Claus als Nachfahre des Paracelsus und weiterwirkender Anhänger Thomas Müntzers gelesen; und ihre antizipatorisch-revolutionären Ideen nimmt Claus für sein „Geschichtsphilosophisches Kombinat“ von 1963/64 in Anspruch: Naturalisierung des Menschen – Humanisierung der Natur, macht sie zum zentralen Thema seiner „Aurora“ von 1976/77, und läßt sie im Aggregat K im „Salto“ einer Wiedergeburt vital-kreativer Natur kulminieren – „ein Wandern, Irren, Suchen nach verborgener Heimat“, wie Claus seinen Bloch zitiert, nicht endender Weg „voll tragischer Durchstörung, kochend, geborsten von Sprüngen, Ausbrüchen, dem Gewissen des Lichts.“ Licht, das Valentin Weigel dem „äußeren Auge“ des Menschen zugedacht hat, das erst durch den „inneren Menschen“ belebt wird, eine oszillierende Wechselbeziehung, wie sie Claus in den sich treffenden, überkreuzenden Augen-Blicken beredt werden läßt – Psychische Landschaft – zu der er 1980 mit der Feder aufs Blatt schreibt:
„Die Reflexionen über ein Auge, ihre Weiterführung zur Hand wandelt im mentalen Forum auf Verknüpfung mit einem antizipierenden transparentmachenden gesellschaftlichen Impuls: Spontanität und Bewußtheit als Einheit“ – Überlegungen Weigels in heutiger naturwissenschaftlicher Redeweise.
Claus schreibt 1956 die Verse
In das Dunkel
geschlossener Lider
aaaaaspiegelt
das Blut
pulsierend
aaaaaLicht
In dem Dunkel
geschlossener Lider
bildet
Licht
kristallenen Strom
Liest man die Blätter von Carlfriedrich Claus vor dem Hintergrund längst bekannter Anschauungen, werden einem Sichten und Aussichten zusehends durchschaubar, er ist ja darauf aus, uns – über Anschauung und Nachfrage – in seinen „Dialog“ zu ziehen, den Wirkungswechsel: Sprechen Schweigen (G 114), wie er ihn selbst mit Klaus Sobolewski in Praxis demonstriert, Blatt auf dem sich Augen aus diametral getrennten Flächen begegnen, sich gegenseitig anblitzend, streitend, miteinander kommunizierend? Trotz aller Erklärungen bliebt der Betrachter vor jedem Blatt mit sich allein.
Die philosophische und künstlerische Kühnheit und Irritation der denkenden Landschaften in sprechenden und blickenden Zeichen von Claus bleibt eine Herausforderung. Seine Bedeutung als Forscher auf bisher unsicherem Gebiet ist bisher kaum erkannt, seine störrische Utopie von einem Entwurf des Menschen im Einklang mit und – zunächst – mit sich selbst, den er beharrlich an den Begriff „Kommunismus“ knüpft, stößt auf Kopfschütteln oder wird – schlimmere Variante – einfach übersehen. Es wird ihn so wenig stören, wie die Verkennungen und Observationen zuvor.
Der Realität, die vernichtet, nimmt man sie nur wahr, nicht ausweichen – in ihr tätig sein, handeln, auf andere Wahrgebung hin. Gerade auch im – dem Intensitätsgrad nach – abgeschatteten, alltäglichen Leben,
heißt es in einer seiner Notizen zu Aggregat K vom Dezember 1987. Und aus einem Auge, das einen strahlenden Hof evolviert, wird uns, wie gesagt, verhießen: Handeln, an augenblickgenau schließender Raum-Zeit-Kontaktstelle.
Gerhard Wolf, 1993, aus Christa Wolf und Gerhard Wolf: Malerfreunde. Leben mit Bildern, Projekte Verlag Hahn, 2018
Der oberste Titel: Morgenröthe im Aufgang ist ein Geheimnis, Mysterium, den Klugen und Weisen in dieser Welt verborgen, welches sie selbst werden in kurzem müssen erfahren. Denen aber, so dieses Buch in Einfalt lesen mit Begierde des heiligen Geistes, die ihr Hoffnung allein in Gott stellen, wird es nicht ein Geheimnis sein, sondern eine öffentliche Erkenntnis. – Ich will diese Titel nicht erklären, sondern den unparteiischen Leser, der da in dieser Welt in der guten Qualität ringt, zu urteilen geben.
Jacob Böhme: Vorrede zu Aurora oder Morgenröthe im Aufgang
1
„Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag“, heißt es im Lied, zu dem man den Verfasser schon nicht mehr zu nennen braucht.
Die Morgenröte, Atmosphäre, Licht und Farbe der Frühe ist das Zeichen für den jeweils wieder anhebenden Tag, im übertragenen Sinne für Lebens-Epochen, Zeit-Neubeginn; am Firmament das Naturphänomen des Aufbruchs, im Leben des Einzelnen, Fanal für die revolutionäre Erhebung ganzer Völker und Gesellschaftsformationen, Wandel der Erdzeitalter, von kosmischem Ausmaß, Erleuchtung, in der Menschheitsgeschichte mit mythischen, mythologischen, religiösen Symbolen und Legenden belegt, realiter und spirituell, transzendierend und transzendental.
Die Griechen, um die Erscheinung auf Menschenmaß zu bringen, versetzten sie ins naive Bild von Göttergeschichten, die ihren Familienkreisen glichen, man hatte alles in Gestalten um sich wie nahe Verwandte.
Hyperion, ein Sohn des Himmels und der Erde, erzeugte mit der Thia, einer Tochter des Himmels, die Aurora, den Helios und die Selene. Anstatt des Helios und der Selene treten unter den neuen Göttern Apoll und Diana auf. Aurora aber schimmert, selbst unter den neuen Gottheiten, in ursprünglicher Schönheit und Jugend hervor. Sie vermählt sich mit dem Asträus aus dem Titanengeschlecht, einem Sohn des Krius, und gebiert die starken Winde und den Morgenstern. Man siehet, daß sie zu den alten Göttergestalten gehört, die eigentlich als erhabene Naturerscheinungen betrachtet wurden und welche die Einbildungskraft nur gleichsam mit wenigen großen Umrissen als zu Personen gebildete Wesen darstellte. Sie erscheint in der Frühe, aus der dunklen Luft, mit Rosenfingern den Schleier der Nacht aufhebend, und leuchtet den Sterblichen eine Weile und verschwindet wieder vor dem Glanz des Tages.
Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten, 1791
Daß Carlfriedrich Claus um die alten Bilder weiß, erfährt man, wenn er von seinen Begegnungen und Studien der verschiedenen Kulturkreise der Welt Kenntnis gibt, die ihm unerwartete Beziehungen offenbart, daß er schließlich, wie selbstverständlich, ein hebräisches Schriftzeichen neben das ihm entsprechende chinesische setzt und in miteinander korrespondierend sich überlagernden Schichten und Phasen mit sprachlich verdichteten Kürzeln souverän die Koordinaten für ein weit verzweigtes Netzwerk absteckt, in dem Reflexionen sich in emotionaler Geste ausdrücken, wie sich spontaner Schriftzug und Pinselstrich in assoziativen Gedanken wiederfindet, neue Affekte auslöst. Bewegung von innen heraus und logischer Folge wie in einem Vollzug. Etwa wenn er in der Geschichte der Maya auf die Stelle stößt: „Sie schliefen nicht, aufrecht warteten sie, an Herz und Nieren griff die Hoffnung auf Morgenröte und Licht“ – und wir dann, den alten Quellen, auf die er uns verweist, nachgehend in der Bibel plötzlich auf eine Stelle stoßen, die bis ins Gleichnis vom Körper mit der weit von ihr entfernt aufgezeichneten „Erkenntnis“ in Einklang steht:
Nähm ich die Flügel der Morgenröthe… Spräche ich: Finsterniß möge mich decken, so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsterniß nicht finster ist bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsterniß ist wie das Licht. Denn Du hast meine Nieren in deiner Gewalt…
Psalm 139, Verse 9–12
Carlfriedrich Claus, in einer Stube in Annaberg-Buchholz, mitten im Arbeitsprozeß von Exmittierung aus der Wohnung bedroht, man bietet ihm sogar an, das Land zu verlassen (siehe Briefwechsel mit Rudolf Mayer), schreibt in rigider Selbstbeobachtung geübt, eben von einer Nierenkolik heimgesucht:
Im Rückblick erscheint das Phänomen „Schmerz“ in eigenartigem Licht: es hatte die Tendenz, das Bewußtsein aufzusaugen. Der Sog jener verkrampft zuckenden Stelle hatte ungeheure Kraft. Es schien als Verbindung im Bewußtseins-Koordinatensystem zerrissen. Verzögerungen, ja Unterbrechungen zwischen Impuls, Intention und Realisation eines Gedankens traten ein. Man wollte etwas sagen oder schreiben und konnte es aber nicht. Zunge bzw. Hand führten die gedanklichen Impulse nicht mehr aus… Deine Gedanken, liebe C., zu die Galgen werden grünen trafen gerade während der Zeit der rezidivierenden Kolik ein und leuchteten über den Schmerz wunderbar sanft…
Brief an C. und G. Wolf, 18.4.1977
2
Betrachten wir die Radierungen, die ihnen vorausgehenden Jahre oder Jahre später folgenden „Sprachblätter“ und Grafiken unter solchen Aspekten in ihrem ausführlichen Kontext und Beziehungsgeflecht, lesen und entdecken wir in ihnen den ständig fortwährenden Versuch,
drei Expeditionen zu vereinen: die philosophische, die politische und meine ganz persönliche…
Brief an G. Wolf, 18.11.1975
Dem teilnehmenden Leser entschlüsseln sich Embleme und Engramme zusehends, freilich ohne ihre hintergründigen Dimensionen völlig preiszugeben. Wir sind schon auf Hinweise, Zitate, Literatur und Quellenvermerke angewiesen, uns einzulesen, mitzufühlen, mitzudenken, wollen wir es nicht beim spontanen Eindruck belassen, und Claus fordert zudem dazu auf.
So wird man z.B. überrascht sein, daß er, als er 1974 die umfassende Ausstellung der Bilder Caspar David Friedrichs in Dresden sah, nicht nur von den zeichnerischen Transparentblättern beeindruckt war, vielmehr von den „transzendierenden Natur-Zeichen“ eines der letzten Gemälde Friedrichs, das den Sonnenaufgang von Neubrandenburg darstellt: die aufgehende Sonne über dem Schein und dem Rauch einer brennenden Kirche der Stadt, „etwas Unerhörtes“, wie er mitteilt,
unter der Oberfläche Brodelndes, Gärendes (Freilich – natürlich auf Kosten der „klassischen“ Vollkommenheit, der „Stimmung“, – „Verluste im Fortschreiten“, wie Bloch dies nennt.
Brief vom 5.12.1974
– die Apokalypse im Erstrahlen der Röte des Morgens miteinander in Disput und Dialog begriffenen Motive Themen seiner rational-bewußten und sinnlich-erregten „Expedition“ ins Unbekannte und Unbenannte sind unauflösbar ineinander verflochten und nur in der avisierenden Interpretation partiell voneinander zu trennen.
Das den künstlerischen Prozeß der 15 Radierungen auslösende politische Element – „das Aurora-Signal des Russischen Oktober“ von 1917 – ist ihm nur ein historischer Bezugspunkt, er sagt „starting point“, Vor-Signal möglicher universaler Bewußtwerdung – Gegebenheiten aus dem jahrhundertelangen Verlauf menschlicher Genesis zu erinnern und wiederaufzurufen, Ideen – „Gedankengänge der jüdisch-arabischen Aristoteliker“ – weiterzuverfolgen zu den Ketzern von Religion und Ideologien, um sie mit ihren in die Zukunft weisenden Konsequenzen zur Verfügung zu haben. Ohne sich, wie in bisheriger tradierter Kunst üblich, ein eindeutiges Bild zu machen; seinen allen Lehren und Dogmen widersprechende Vision einer kommunistisch genannten Welt „Sehnsucht, den Eros zwischen dynameion und energeia (Weiblichem und Männlichem)“ zu vereinen, „jetzt weitgehend noch Wunsch, Erregungs-Feld… Vor-Schein“, aber, er hält es in Tagebuchnotizen fest, auch eine „Aurora-Landschaft der Liebe“, Psychogramm einer Leidenschaft, die er in Radierungen wie in Sendschreiben nachzeichnet, ganz gegenwärtig und zugleich poetische Imagination.
„Wer ist, die hervor bricht, wie die Morgenröthe, schön wie der Mond, auserwählt wie die Sonne, schrecklich wie Heerspitzen?“ heißt es im Hohelied Salomonis (6, 9). Es entspricht nicht nur seiner künstlerischen Natur, daß er die Radierung als Schreiben auf dem weichen Kupfermetall, wie er es damals zuerst ausübt, der weiblichen Energie zuspricht:
von fast geheimnisvoller Sanftmut, Weichheit und zugleich Ungewißheit, nicht umsonst wird es der Venus zugeordnet.
Brief an R. Mayer, 19.1.1976
3
Es gehört zur Diskrepanz, zum einmaligen Wechselspiel in der Arbeit von Carlfriedrich Claus, daß er sich in Korrespondenzen, Gespräch und Debatte zu Philosophie, Wissenschaft, Literatur und Kunst mit seinen polyhistorischen Kenntnissen den Dialogpartnern offen zuwendet, um sich andererseits, allein vor dem weißen Blatt, bei Lautprozessen einsam vor dem Tonaufnahmegerät für längere Zeiträume ganz auf sich zurückzuziehen, fast unerreichbar, auch Briefe nicht beantwortet.
Strenger Kontrast zwischen einem hermetischen Raum und dem Kommunikationsanspruch, dem er sich ja stellen will. Indem er dann wiederum heftig auf gesellschaftliche Öffentlichkeit und politische Ereignisse reagiert, um ihnen zu antworten – ein ständiger Beweggrund, mit allen Anforderungen unerfüllbar, unerreichbar wie die Utopie, die sich aus diesem Lebenskonflikt in seinem Werk vieldeutig äußert und die Deutung herausfordernd anstrebt. Arbeit, die Mitsprache, ja Rückäußerung sucht, sie mit Blatt-Titeln, Zitat und Essay provoziert und im künstlerischen Experiment eines eigenen, subjektiven Welt-Bildes zugleich in nahezu unüberschaubare, inkommensurable Regionen vorstößt.
Alle sich anbietenden Vergleiche und Einordnungen treffen auf ihn nicht zu, und schließlich überläßt er es auch uns, an seinem, von ihm erstrebten Selbstexperiment teilzunehmen oder sich ihm zu verweigern. Danach befragt, sind seine Erwiderungen freundlich entwaffnend, einfach
Sehnsucht nach einem ganz neuen Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Natur – und zwar in den unterschiedlichsten Religionen und Weltanschauungen.
Claus im Gespräch am 17.3.1991
Er weiß, sein Prinzip Hoffnung steht ständig auch unter dem Drohzeichen „Aurora letalis“, menschlicher Hinfälligkeit, die jeder Apotheose entbehrt. Er gesteht:
diese spezifische Müdigkeit ist ganz einfach Begleiterscheinung der namenlosen Schwermut, Depression, die Teil aller selbstreflektierenden Materie ist… Ich verdränge sie nicht. Man spürt, geht man in die Depressivität hinein weiter, hält durch, die Stelle, wo Tod und Leben zu schwinden scheinen wie ein Nebelhauch. Hier reflektiert sich vielleicht das Ineinander-Übergehen von sogenannter „anorganischer“ und „organischer“ Materie. Aber eben diese Nebelstelle im Tiefstpunkt der Niedergeschlagenheit macht den Blick klarer als vordem. Ungeahnte Energien durchströmen den Körper. Die aus der Klassenteilung in Herrschende und Beherrschte resultierenden Zwänge und Illusionen vergehen. Und man meint, den Ansatzpunkt neuer, kommunistischer Naturbeziehung deutlich zu erkennen. – Nur eben: auf dem Weg zu diesem Ansatzpunkt wurde Bewußtsein als Verhängnis5 geschrieben, sein Autor wählte den Strick…
Brief an G. Wolf, 6.8.1978
Folgerichtig schrieb Claus das letzte Blatt des Zyklus Gegen Resignation. In Jacob Böhmes Aurora oder Morgenröthe im Aufgang lese ich dazu den Satz:
Unser ganzes Leben und Lehren langet nur dahin, wie wir uns müssen selber suchen, machen und endlich finden.
Gerhard Wolf, 1995, aus Christa Wolf und Gerhard Wolf: Malerfreunde. Leben mit Bildern, Projekte Verlag Hahn, 2018
Wenn ich mir ein Erinnerungsbild von Carlfriedrich Claus heraufrufe, sehe ich eine zierliche Gestalt mit einem großen Kopf. Das ist merkwürdig, weil es der wirklichen Erscheinung von Carlfriedrich Claus nicht entspricht. Er war zart, ja, aber Kopf und Gliedmaßen standen im durchaus angemessenen Verhältnis zueinander. Meine Wahrnehmung des dominanten Kopfes erkläre ich mir aus der Tatsache, daß Claus sich als Künstler der Erforschung der Prozesse gewidmet hat, die in diesem Kopf, unter dieser oft als Umriß auf seinen Blättern auftauchenden Schädeldecke stattfinden.
Feinste, beinahe unstoffliche Vorgänge werden in allerfeinsten Linien, die aus Schriftzeichen bestehen, aufgefangen und zueinander in Beziehung gesetzt. Wie ein Mensch seine ganze Welt, alles, was er ist und erfahren hat, in jeder Sekunde als Inhalt seines Gehirns mit sich trägt, so trug Carlfriedrich Claus sein ganzes auf hauchdünne Blätter gezeichnetes Werk in einer Aktentasche mit sich herum – was jedem, der das wußte und seine singuläre Bedeutung erkannte, Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte. Aber ein gut gesichertes Bankfach kam lange Zeit für ihn nicht in Frage.
So war er, arglos. Das hat ihn angreifbar gemacht, sollte man meinen, aber da er selbst sich seiner Angreifbarkeit nicht bewußt war, hat es ihn auch geschützt. Daß er nicht die Spur taktischen Verhaltens zeigte, nicht zeigen konnte, daß er jedem gegenüber offen, wohlwollend, zutraulich die Voraussetzungen, die Inhalte seines Werkes aufdeckte, daß er jeden ernst nahm und in ihm einen künftigen Verständigen sah, das hat auch die Unverständigen wohl verblüfft. Das hat ihren Verdächtigungen den Boden entzogen. So blieb er weitgehend unbehelligt und machte sich nicht einmal klar, daß das ein kleines Wunder war.
Der äußerst diffizile, auf umfangreichen und tiefgehenden philosophischen Voraussetzungen basierende Charakter seiner Arbeit scheint der Klarheit, beinahe Durchsichtigkeit des Wesens von Carlfriedrich Claus zu widersprechen. Fast geniert man sich, es zu sagen: Er war ohne Harm, ohne Falsch. Dabei keineswegs beeinflußbar.
Seine Lebensweise war derart abwegig, daß Freunde sich immer wieder zu Gegenentwürfen veranlaßt sahen. Carlfriedrich, ein höflicher Mensch, hörte sich alles an, genoß, wenn er auf Besuch bei Freunden war, alle Annehmlichkeiten eines bürgerlichen Haushalts, besonders gutes Essen, und ging zurück in seine Annaberger Klause, wo er, um den Staub zuzudecken, auf dem Boden eine neue Lage Papier über die alten auslegte, sich mit Milchpulver und starkem Kaffee am Leben hielt, den täglichen Gang zur Post zelebrierte und in den tiefen Nächten, in Selbstbeobachtungen versunken, seine einmaligen Blätter schuf. Dabei wurde er immer blasser, durchgeistigter, seine Augen wurden immer größer und intensiv strahlender.
Und er wurde, das war vorauszusehen, krank. Aber er mußte tun, was er tat, und er konnte es nur so tun. Wenn man will, mag man ihn als Figur anachronistisch nennen. Ich denke, seine visionäre Gedankenwelt, die in seinen Schriftblättern aufgehoben ist, weist weit in die Zukunft hinaus. Er hat daran geglaubt, daß es Sinn hat, an die Wurzeln unserer Existenz als Mensch vorzudringen und sie bloßzulegen. Er unterzog sich der enormen Anstrengung, die dazu nötig war, um aus der Untiefe des bisher Unbewußten und Ungesehenen etwas Gestaltetes heraufzuholen, das in uns Erkenntnis, Wieder-Erkennen aufblitzen läßt und uns staunen macht.
Christa Wolf, 2005, aus Christa Wolf und Gerhard Wolf: Malerfreunde. Leben mit Bildern, Projekte Verlag Hahn, 2018
Carlfriedrich Claus (1930–1998) hat ein umfangreiches, in seiner Intensität und Konsequenz einmaliges visuell-scripturales Werk geschaffen. Die Kunstsammlungen Chemnitz haben ihm 2013 eine retrospektive Gesamtschau gewidmet und dabei seine Arbeiten im Komplex zeitgenössischer moderner Künstler, insbesondere auch der im Bereich von Schrift und Bild tätigen gezeigt.
Anmutung
Ein heutiger Betrachter, der sich neugierig und unbefangen den visuellen Arbeiten von Carlfriedrich Claus nähert, wird vor allem von ihrem graphisch-bildnerischen Reiz angezogen und festgehalten. Er entdeckt vibrierende Zeichenfelder, entziffert darin Wort- und Satzfragmente, ihn faszinieren chimärische Figuren und verrätselte Augenformen. Den Titeln entnimmt er Hinweise auf interessante, manchmal befremdende Bezüge, die dem Blatt, das er vor Augen hat, eine thematische Perspektive geben, doch ihm nicht unentbehrlich erscheinen. Wo die Blätter hermetisch verschlossen wirken, liegen surrealistische Schlüssel nahe; wo gestisch-spontane Pinselstriche oder Farbverwischungen wuchern, assoziieren sich tachistische, informelle Bildverläufe; das Ineinander von scripturalen Partien und Bildelementen suggeriert die ambivalente Lesbarkeit visueller Poesie.
Claus, ihr Urheber, hat entschieden dieser vom ästhetischen Eindruck beherrschten Betrachtungsweise widersprochen. Worum ging es ihm?
Begriffen im Experiment
Claus hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass seine Arbeiten trotz ihrer bildnerischen Qualität nicht zur Bildkunst gehören, sondern „Sprachblätter“ sind – Texte, die man lesen soll. Von einer kurzen Phase in den 5oer Jahren abgesehen, als er sich, im Sinn der konkreten Poesie, mit schreibmaschinegeschriebenen Letterntexten befasste, hat er alle seine Blätter mit der Hand geschrieben, manu-script im Wortsinn. Die Hand, die gedankenvernetzte „Hirnhand“6 ist das alles produzierende Instrument. Ihr sind Feder, Tuschpinsel, auch Graphitstift, Farbstift und Kreide gefügig, zu denen seit den 7oer Jahren noch die Radiernadel als Schreibgerät tritt. Tuschfarben werden auch mit den Fingern oder der ganzen Hand zu Verwischungen oder Abdrücken benutzt. Das Handschriftliche ist sein Ausdrucksmedium, lebenslang. Allerdings geht er damit „experimentell“ um. Er treibt die Schrift krakulierend ins nahezu Unleserliche, er schreibt mit der Linken oder in Spiegelschrift. So werden die „Schreib-Spuren“ der Gedankeninhalte, die als „starting point“ unabdingbar sind, sensibel, doch unerbittlich zu „Spuren- Figuren“.7
Es gibt „Sprachblätter“, die Claus im Titel als „Essay“ bezeichnet. Doch er schreibt keine Essays im Gattungssinn. Er betreibt Essay im Wortsinn: als Versuch, der auf ein unbekanntes Ergebnis zusteuert, wenn es ihm um seine Themen „zwischen dem Einst und dem Einst“ (wie ein „Sprachblatt“ betitelt ist8) geht.
In einem für die Substanz der „Sprachblätter“ entscheidenden Dreh wird die Rück-Sicht auf die ins scripturale Gewebe eingespeisten, zum Teil von weither entlehnten, sympathetischen Denkinhalte gewendet in eine ins Noch-Nicht-Gedachte, doch Denknötige gespannte Voraus-Sicht. In dem Sprung zwischen dem Vergangenheits-Einst eines Begriff und Orientierung gebenden Gewussten und dem zukünftigen Einst, dessen Gewissheit die Anstrengung des Sprachblätterschreibens motiviert und mobilisiert, verfügt Claus über eine, bei seiner Sensibilität überraschenden Radikalität des „experimentellen“ Handelns. Mit spontanen und zugleich gezielten Eingriffen, ja Übergriffen artikuliert die Schreibhand das Zeichengefüge so, dass es zumindest ein Vexierbild, einen Schimmer des Unbekannten, das noch keinen Ort hat, also utopisch ist, hergibt. Dabei kann eine entstandene Fassung unkenntlich, gar zerstört werden in der riskanten Erwartung, dass das Angezielte gerade durch die Negation hindurch chiffriert werden kann, das Negierte dadurch selbst noch wirksam bleibt.
Text ist Bild
Man kann nun trotz der festen Überzeugung von Claus, „Sprachblätter“ zu schreiben, also, wenn auch in einer Randzone, Literatur zu betreiben, nicht über seine originäre graphisch-bildnerische Potenz hinwegsehen. Es ist bei allen seinen Arbeiten von Grund auf auch der imaginierende und die Formierungen prüfende Blick dabei. Sein Sensorium für bildnerisches Denken bezeugt er schon in den 5oer Jahren in seiner freundschaftlichen Beziehung zu dem in Annaberg ansässigen Maler Rudolf Weber. Dessen „Flächenklänge“ mit ihrer Synästhesie von Farbformkompositionen und Sprachlauten berührten ihn in seinen eigenen ästhetischen Überlegungen.9
In diese Zeit fällt sein Automatisches Tagebuch von 1957/58,10 das auf 88 – teilweise bereits beidseitig benutzten – Blättern 133 Zeichnungen enthält. Diese sind von spontanen, gestisch agierenden Handbewegungen ausgeführt, zumeist in Serien von bis zu 30 Arbeiten an einem Tag, überwiegend im Juni 1957. Unverkennbar sind die dabei wirksamen Impulse aus informellen und surrealen bildnerischen Verfahren. Claus betrachtete sie als „psychische Exerzitien, durch die ich spontan in Unterschwelliges vorzustoßen, es zu befreien suchte“.11 Die freie Schreibbewegung über das ganze Blatt griff unmittelbar auf seine Gedichte dieser Zeit über. Seit 1958 gibt es eine Reihe solcher graphisch ausgestalteter, handgeschriebener Texte, die man mit einem damals gängigen Ausdruck als „poème-objet“ bezeichnen könnte. Deren in Schreibgestik, Flächenbesetzung, Textfigurierung völlig offene Faktur löste die lineare, konventionelle Schriftzeichenreihung ab. Die Fläche im Ganzen wurde zum syntaktischen Handlungsfeld für jeweils aktuell ziselierte Grapheme. Der nächste Schritt folgte konsequent: keine Gedichte mehr zu schreiben, sondern sich „experimentell“ auf die Materialität von Sprache einzulassen, Sprache also nicht zuerst, wie üblich, als pragmatisches Medium zu benutzen – denn darin kommt ihre Materialität gerade abhanden –, vielmehr sie als eine mit unserer Körperlichkeit unabdingbar verwobene Potenz, als fremdgestiftetes Eigentum und als eigentümliches Fremdes zu haben.
„Denklandschaften“
Eine entscheidende Schubkraft für sein graphisch-literarisches Werk hat Claus gewonnen, als er die konzeptionelle Orientierung an der materialen Qualität der Sprachzeichen mit Ideengut aus seiner schon in den 4oer Jahren begonnenen, inzwischen weitgespannten Lektüre anreicherte. Seine Aussage und dem Bestand seiner Bibliothek zufolge handelt es sich dabei vor allem um Werke mit ethnologischer, anthropologischer, philosophischer, sprachwissenschaftlicher, marxistischer Thematik. Gewichtig waren für ihn Autoren wie Rudolf Steiner, Ernst Bloch, Paracelsus, Valentin Weigel, Jakob Böhme, Karl Marx und Lenin sowie Autoren der Kabbala, in späteren Jahren auch neurophysiologische, kybernetische, physikalische und psychologische Publikationen. Am einflussreichsten für ihn war das Denken Ernst Blochs. Vor allem dessen Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, dessen erster Band bereits 1954 im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienen ist, hat in seinen „Sprachblättern“, wie schon an vielen ihrer Titelformulierungen abzulesen ist, tiefe Spuren gezogen. Prinzipiell strebt Claus dahin, in den Titeln das Thema anzugeben, das er sich, manchmal in langer Vorbereitung, erschlossen hat. Er erinnert sich später:
Ein philosophisches Problem, ein geschichtlicher, auch tagespolitischer Vorgang, ein psychologisches Phänomen interessiert, erregt, packt mich. Ich versuche dann, es gedanklich zu durchdringen, es zu analysieren, es ideologisch, parteilich zu bewerten… Ich lese also, mache mir Notizen, Auszüge, halte die Schritte der Aneignung und Durchdringung nur in Stichworten fest. Bis ich einen Punkt erreicht habe, der starting point wird.12
Was in der daraus entspringenden scripturalen Transformation auf dem Blatt entsteht, hat er als „Denklandschaft“ charakterisiert. Die ersten „Sprachblätter“, die diese Bezeichnung verdienen, sind „Landschaft Thomas Müntzers und Valentin Weigels“ und „Paracelsische Denklandschaft“13. Beide Blätter sind gleichzeitig 1962 entstanden.
Die Spur zu Müntzer und Paracelsus könnte Bloch gelegt haben. In seinem Prinzip Hoffnung werden beide mehrfach angesprochen, Paracelsus wird dabei besonders hervorgehoben. Für Bloch war Müntzer der theologisch wie politisch rebellierende Widersacher zukunftverhindernder Ordnungen. Paracelsus’ Lehre vom Verhältnis des Menschen zur Natur in der Analogie von Mikro- und Makrokosmos hat Bloch als Vorstufe der marxistischen Zielformel von der zu erstrebenden Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur gesehen.14 Mit Bloch war Claus eines Sinnes, dass darin der Magnetpol der menschheitlichen Zukunftsgeschichte lag. Er hat seine Lebensarbeit unverdrossen der Bewusstwerdung dieser futurischen Vision gewidmet. Hält man sich vor Augen, dass nur das abstrakte Dass, nicht das konkrete Wie und Was dieses noch nicht vorstellbaren „Einst“ gegeben war, versteht man den Antrieb von Claus, seine „experimentell“ potenzierten Zugriffe weiterzutreiben, zu verfeinern und zu radikalisieren.
Im offenen Dialog der Scripturen
Genau zu dem Zeitpunkt, da die Denkinhalte schwergewichtig in die Federführung der „Sprachblätter“ drängten, bot sich ein formales Experiment an, das folgenreich für die Faktur der Blätter werden sollte. Mit experimenteller Neugier probierte Claus 1961 in einem programmatisch als „Erster versuchender doppelseitiger Schreibakt“ betitelten Blatt,15 dessen Textur von Grund auf umzukrempeln, indem er dafür ein Transparentpapier verwandte, auf dem Vorder- und Rückseite im Hin- und Herwenden beschrieben wurden. Auf jeder Seite erschien durchscheinend, wenn auch abgeschwächt, die Zeichnung der anderen im gerade entstehenden Bild. Für Claus war dies eine Art von Dialog zwischen den divergenten Aussagen in statu nascendi. Da das, was auf der einen Seite rechts, auf der anderen links steht, und das syntaktische Gefüge jeweils umgekehrt ist, ändert sich dadurch deren Symbolwertigkeit. Dem Betrachter werden zwei Fassungen angeboten, die identisch und zugleich nichtidentisch sind. Er kann sie nie zusammen, nebeneinander sich ergänzend sehen. Der Deutungsvorgang wird vom Hantieren – dem Umwenden des Blattes – punktiert. Sein Ergebnis behält eine Offenheit, die nicht zu hintergehen ist.
Die beiden oben erwähnten Erstlinge der „Denklandschaften“ von 1962 wurden als zweiseitige Zeichnungen realisiert. Seitdem hat Claus so gut wie alle handgeschriebenen „Sprachblätter“ beidseitig angelegt. Mit der doppelten Physiognomie führt er ein Moment der Heterogenität ein, das im Collageprinzip zu Hause und auch mit der Phasenfolge des Films vergleichbar ist. Die methodisch praktizierte partielle Nichtidentität im Gleichzeitigen hat entscheidend dazu beigetragen, dass die „Sprachblätter“ nicht in die Tautologiefalle als bloße Bebilderung fremder zitierter Denkinhalte geraten sind. (s. auch S. 322ff.)
Den offenen Zeichendialog hat Claus abgewandelt und weiterbetrieben, als er seit den frühen 7oer Jahren die Radierung als Textverfahren entdeckte. Auch dabei hat er gelegentlich durchscheinende Papiere verwendet. An die Stelle des simultanen Ineinanderschreibens trat das getrennte Bearbeiten eines Themas auf separaten Platten. Ihren Übereinanderdruck hat Claus variantenreich experimentiert mit dem Ziel, nicht völlig kalkulierbare, von Zufallsmomenten beeinflusste Zeichenkombinate zu erhalten.
Allegorien mit Realsymbol
Zugleich mit der Beidseitigkeit der „Sprachblätter“ taucht in den Titeln mehrfach der Ausdruck Allegorie auf. Er bedeutet – wörtlich das Anderssagen – den Ausdruckswechsel zwischen Begriff (z.B. Hoffnung) und Bild (z.B. Anker). Das Bild vertritt treuhänderisch den Begriff bei demjenigen, der ihre Gleichung kennt. Diese ist eindeutig, unbeschadet dessen, dass das allegorische Bild einen konnotativen Hof mit Sinnüberschüssen im Vergleich mit dem die Bedeutung stiftenden Begriff aufweist. Dieser konnotative Hof kann, je nach der Assoziationsfähigkeit des Betrachters, auch inhaltlich anderes als im Gedanklichen angesprochen erreichen, das im „Realsymbol“ (Bloch) jenseits des diskursiven Inhalts enthalten ist.
Claus hat diesen weiten Spielraum des Bildes im Sinn, wenn er den traditionsreichen Ausdruck nicht nur in den Titeln benutzt, sondern die Poetik der Allegorie als ein Grundmuster seiner „Sprachblätter“ versteht. Auch dabei war Bloch Anreger und Augenöffner, wie sich an darauf bezüglichen Passagen in Prinzip Hoffnung, die Claus in seinem Exemplar markiert und mit Randnotizen versehen hat, ablesen lässt. Bloch potenziert die Bildseite der Allegorie, indem er sie mit der Vorstellung des „Archetyps“ ausstattet. Für ihn sind Archetypen die Gestaltbildungen eines die utopische Zukunft „antizipierenden Bewußtseins“, und er stellt fest:
Gerade in der Allegorie geht erst die Fülle der poetisch arbeitenden Archetypen auf, der noch in der Alteritas des Weltlebens gelegenen.16
Die von ihm reichhaltig exemplifizierten Archetypen sind nicht nur retrospektiv zu sehende archaische Inbilder, sondern aktuell „wesentlich situationshafte Verdichtungskategorien, vorzüglich im Bereich poetisch-abbildender Phantasie“17 und „konzise Ornamente eines utopischen Gehalts“.18 Durch die Menschheitsgeschichte hindurch formiert sich in ihnen jeweils neu der Ausdruck utopisch-futurischer Gewissheit. Die künstlerisch-poetische Ausformung des Archetypen spielt in Blochs Allegorie begriff eine tragende Rolle. Man versteht, wie motivierend Blochs Darstellung für die Konzeption der „Sprachblätter“ werden konnte.
Auch seine Ausführungen über die Symbolbildung hat Claus sorgfältig durchgearbeitet. Archetypen, sagt Bloch, gehen „deutlich zu den objekthaften Chiffern“ über; sie sind „nicht bloß aus menschlichem Material gebildet; (…) sie zeigen vielmehr ein Stück Doppelschrift der Natur selbst, eine Art Realchiffer oder Realsymbol. Realsymbol ist eines, dessen Bedeutungsgegenstand sich selber, im realen Objekt, noch verhüllt ist und nicht nur für die menschliche Erfassung seiner. Es ist mithin ein Ausdruck für das im Objekt selber noch nicht manifest Gewordene, wohl aber im Objekt und durchs Objekt Bedeutete (…). Realchiffern sind nicht statisch, sie sind Spannungsfiguren, sind tendenziöse Prozeßgestalten und vor allem eben, auf diesem Weg, symbolische.“19
In diesem, von Bloch eindrücklich entwickelten Rahmen setzt Claus seine allegorisch gefassten Texturen an. Zwar verwendet er den Ausdruck Allegorie nach den 6oer Jahren nicht mehr in den Titeln, doch durchzieht das allegorische Prinzip das ganze Werk. Im optimalen Fall verkörpert sich die allegorische Aussage in einer, mitunter tierförmigen Symbolfigur, die mit den scripturalen Verläufen verwoben wird. So schiebt auf dem Blatt „Essay: Die Gestalt der Schwelle vor dem Utopischen im Sexualtrieb“ von 196820 eine saurierhafte Gestalt ihren aus Scripturen gestrichelten, massigen Körper von oben breit über eine fein verschriftete Textlandschaft. Lässt man den Titel zunächst außer Acht, zeigt sich eine in hohem Maße bedrohliche Situation, bestimmt von der Annäherung einer elementaren Gewalt an ein machtlos dargebotenes Wörter- und Zeichensubstrat. Der Atem des Angreifenden bläst sichtbar verstörend in das zarte Textgewebe, Ankündigung eines verwüstenden Vorgangs. Der s-förmig geschwungene Tierkörper schlägt seine obere Rundung, den Schwanz ins Leere über dem Horizont. Sein grausig abgerissenes Endstück fliegt horizontal davon, Zeichen einer Verletzung, die ihn selbst betroffen hat und nun den Unterlegenen droht. Die Eindrücklichkeit dieser Symbolsprache ruft bei dem heutigen Betrachter Katastrophenszenarien herauf, für die er zahllose Exempel kennt und die potentiell aktuell bleiben.
Die Titelaussage bringt jedoch eine ganz andere Perspektive ins Spiel. Claus geht es, mit einem Impuls wider die Banalisierung des Sexuellen, um dessen tiefwurzelnde Zwiespältigkeit. Die hindernde „Schwelle“ bezieht sich auf die übermächtig besetzende Triebhaftigkeit des Menschen – im „Sprachblatt“ allegorisiert durch den raumbeherrschenden Tierleib mit dem als Penis deutbaren, zerborstenen Schwanz. Claus notiert später, am 9.6.1973, in sein Tagebuch:
Orgasmus ist nicht Vorahnung bzw. Realität künftigen Glücks, sondern Erinnerung an Urzeit-Paradies, bewußtloses.
Demgegenüber aber die andere Seite, die in der Zeichnung jedoch nicht unmittelbar thematisiert wird:
Das Utopische im Sexualtrieb ist Vorahnung künftigen Glücks bei höchstem Bewußtsein: es ist a-sexuell. Hinter der Gestalt der Schwelle.21
Die utopische Stimmung äußert sich nur mittelbar in dem von Claus in diesem Sinn bewusst gewählten Blau der Scripturen, auch des Tierleibes. Was es für ihn bedeutet, sagt er selbst einmal in einem Brief an das Ehepaar Bloch:
Zentral aber: das Utopische im Sexualtrieb wird bewußter, sein entfesselbares Azur. Erotische Erregungsfelder aus Azur, die manchmal in einem Gespräch, einem Blick, selbst in Nachttraum-Begegnungen mit einer Frau entstehen (…).22
Zur Entfaltung der allegorischen Aussage gehörte die Entzifferung der streckenweise oft nur mühsam zu lesenden Schreibverläufe. Vielfach sind nur Wort- oder Satzfragmente zu erkennen. Damit ließe sich die Lesart zweifellos verfeinern, zugleich angesichts heterogener Lesepartikel ins Offene, Unabsehbare weiten. Dem steht der Mangel an zureichend präzisen Reproduktionen (der Zugriff auf die Originale verbietet sich verständlicherweise aus konservatorischen Gründen) entgegen. Claus hat versucht, dem für Ausstellungen mit überdimensionalen Fotovergrößerungen abzuhelfen, und auch diesen den Rang von Originalen zuerkannt. Doch sie können das intime Erlesen der „Sprachblätter“ nicht ersetzen.
Was der Betrachter aber leisten kann, ist das vergleichend-unterscheidende Lesen beider Blattseiten. Ihr gekontertes Bild ergibt eine Spiegelbildlichkeit. Abgesehen von der divergierenden Farblichkeit der durchscheinenden Seiten, wodurch auch das kompositorische Gewicht der Teile sich verändert, verschiebt vor allem die Links-rechts-Vertauschung die Symbolwertigkeit der graphischen Momente. Die kontrastiven Valenzen von links und rechts sind von der Körperorganisation und der neuronalen Struktur des Menschen geeicht und werden in ihrer Eigentümlichkeit jeweils unwillkürlich mitgelesen.
Die Saurierfigur auf der Rückseite ist partienweise tiefer ins Dunkelblau gefärbt als die andere. Ihr Körper, zusätzlich gewichtet, greift so realmächtiger die Textfläche an. Die aus der S-Form herausgeführte Bewegung ist nach links, also gegen unsere gewohnte Leserichtung, gegen den Strich gewendet, wodurch die Handlungsspannung des Angreifenden gegenüber dem Unterlegenen sichtbar wird. Auch die Gestik des nach rechts gebogenen Schwanzstummels oben weist, dort konform mit der Leserichtung, ins Weite nach vorn, als ob er dem abgetrennten Teil, das in der Art eines undefinierbaren Flugobjekts vorausfliegt, nachblickte. In der Parallelsituation der Vorderseite stellt sich, angesichts der gegenläufigen Leserichtung, dieser Eindruck nicht her. Mit ihrer S-Form dagegen ist die vorderseitige Tierform mit der Leserichtung einsinnig nach rechts gekehrt.
Beide Lesarten gehören zusammen wie siamesische Zwillinge, und doch sind es gesonderte Aussagen. Ihre minimalen Unterschiede führen zu einer zuerst hin- und herschwingenden, schließlich die labile Gleichzeitigkeit der Aspekte festhaltenden, daher im Grunde nicht abschließbaren Erzählung.
Augen-Blicke
Zur Poetik der Allegorie gehören auch die Augenzeichen als „Realsymbole“. Ihre Häufigkeit und Konstanz weisen sie als Basissymbole der „Sprachblätter“ aus. Auch sie wurden mit der neuen konzeptionellen Phase seit den frühen 6oer Jahren für Claus bedeutsam. Nach dem Werkverzeichnis erscheint das Augenzeichen nahezu in jedem zweiten „Sprachblatt“, nach einigen tastenden Versuchen erstmals in Allegorie: Zweifel von 1962,23 und es zeigt sich noch in der letzten vor seinem Tod entstandenen, nurmehr mit dem Nachlassstempel versehenen Arbeit, einer Lithographie ohne Titel von 1998.24 In einem Brief an Gerhard Wolf äußert sich Claus über die semantische und die scripturale Variabilität:
Augen: es stimmt, die tauchen aus sehr vielen Sprachstrukturen auf. Aber kann man das als ,Sich-Wiederholen‘ bezeichnen? Anfang der 6oer Jahre schrieb ich ein Blatt, auf dem es von Augen nur so wimmelte: „Differente Stufen der Wachheit, versuchende Konstruktion ihrer Simultaneität“. Dieser Titel kennzeichnet vielleicht den Sachverhalt. Die Augenzeichen haben stets eine exakte Funktion, oft zeigen sie mehr oder minder große Wachheit bzw. Bewußtheit des abgehandelten (sprachl.) Themas an und wollen in diesem Kontext GELESEN sein… Ich selbst gehorche da einfach einem inneren Zwang: hier ist ein Auge im Werden, will ans Licht. In einer späteren Phase verschwindet es durch Überlagerungen wieder oder bleibt oder bleibt teilweise und verwandelt sich in anderes (auch andere Blickrichtung, die Blickrichtung hat ja auch Bedeutung). Und: Auge ist nicht gleich Auge; es hat – von mir aus gesehen – semantischen Sinn, ob das Auge Pupille hat oder nicht, ob die Pupille geweitet ist oder verengt, ob die Lider Wimpern haben, ob zwei Augen nebeneinander stehen oder eines isoliert, ob eine Augenhäufung vorliegt, ob der Blick nach außen geht, evtl. ,Strahlen‘ emittiert oder nach ,innen‘ sinkt usw. …25
Die unabsehbare mythisch-mystische Reichweite des Augenzeichens in der Religions- und Kulturgeschichte ist Claus zweifellos bewusst gewesen, nicht zuletzt durch die Lektüre der Schriften Valentin Weigels, dem er eine der frühen „Denklandschaften“ gewidmet hat.26 Dass Claus es so häufig und in semantischer Konstanz für „Wachheit bzw. Bewußtheit“ verwendet hat, gibt ihm den Charakter eines Ideogramms, Schriftzeichen für die Grundverfassung seiner scripturalen Arbeit, in deren klarer, bewusster Konzentration für ihn erst intuitives Erfassen möglich war. Die Schreibhand setzt das Augenzeichen oftmals in autonomer Gewöhnung fast beiläufig in den Textverlauf. Es kann dabei in stereotyper Einfachheit erscheinen. Mit seiner wandlungsfähigen Gestalt kann es aber auch zum Agens des scripturalen Prozesses werden.
Von der Intelligenz wie der Emotionalität der Schreibhand getrieben, kann das bis in die extreme Verformung, die Entleerung, Destruktion, ja bis zur Verwüstung des Bildes gehen.
Für Claus steht das Auge auch als Zeichen für die Augenblickhaftigkeit menschlichen Daseins. Bei Bloch fand er eine (durch Unterstreichen markierte) bedeutungsvolle, vielleicht sogar aufregende Stelle, die seine eigene Zeiterfahrung artikulierte. Da heißt es:
Und es bleibt letzthin der Puls, der auch dem intermittierenden Augenblickscharakter des Bewußtseins das Modell gibt oder besser: als Entsprechung im Leib geschieht. Vom Pulsschlag her wird der seelische Augenblick im Klopfen seines Jetzt erfahren, im Vorwärtsstürzenden, auch Transitiven aller Augenblicke.27
Der Puls ist für Claus leibhaftig geschehendes „Realsymbol“ des Daseins, auch des geistig bewusst erlebten. Sein eigenes Lebens „experiment“ sieht er von der rhythmisch vorantreibenden Beweglichkeit des Pulsierens bestimmt. Die Konkordanz von Pulsschlag und Augenblickhaftigkeit begründet die Verwendung der Augenchiffre für die Gegenwärtigkeit der in den „Sprachblättern“ heraufgerufenen Gestalten, Situationen, Szenarien. Ihre variabel tastende Faktur erfasst die „Knoten des Daseinsrätsels“, die nicht in dem utopischen „fernsten“, sondern im „nächsten“, dem akuten Augenblick „stecken“ (Bloch).28
Claus hat das Faszinosum des Augenblicks in drei zeitnah entstandenen, doch ganz unterschiedlich gestalteten „Sprachblättern“ thematisiert. Alle drei tragen den Titel Erwachen am Augenblick – eine Formulierung, die das Bewusstwerden dessen, was mit dem Augenblick im Moment seines Ereignens geschieht, hervorkehrt. Das erste, 1987 im Kontext der großen Komposition des Zyklus Aggregat K hervorgebracht, verdankt sich dem Abdruck von Handkantenschlägen und Verwischungen mit der Hand.29 Darin manifestiert sich dem Tenor des Zyklus entsprechend, ein aus der Praxis der japanischen Kara-te-Übungen entspringendes „blitzschnelles Handeln aus dem je besonderen Augenblick heraus“. Augenblickhaftigkeit also, die mehr als ein reines Zeitmoment das Agens ist, durch das „man psychische Verhärtungen, Versteinerungen spalten und noch nicht bewusste Energiequellen freilegen“ kann.30 Das Augenzeichen selbst taucht in diesem Moment radikal im Körpergeschehen vollzogener, realer Augenblicklichkeit nicht auf.
„Versuchendes Denken“
Der von Claus favorisierte diskursive Weg, einem „Sprachblatt“ seine Lesart abzugewinnen, wird von der Doppelseitigkeit der Blätter wie von der Konzeption des allegorischen Prinzips, von beidem war die Rede, relativiert. Wer sich auf das ganze Spektrum der Ausdrucksformen, die den divergenten Aussageintentionen der „Sprachblätter“ entsprechen, einlassen will, benutzt unwillkürlich ein breites Band diskursiv-analytischer, intuitiv-reflektierender, anamnetischer, assoziierender, meditativer Weisen der Erschließung und der Aneignung. Da Claus seit den späten 6oer Jahren dazu neigt, von Fall zu Fall „Sprachblätter“ mit flächengreifenden, manuellen Farbverwischungen zu gestalten und die Feder dabei nur zu beteiligen, kommen dort intuitives Wahrnehmen und meditatives Begreifen stärker als das diskursive zur Geltung.
Wie die Unwägbarkeiten von gedanklichem Impuls, sprachlichscripturaler Verarbeitung, Transformation ins Bildhafte zusammenspielen können, lässt sich an einem Blatt von 1970/73 mit dem Titel Versuchendes Denken in Noch-Nicht-Gewußtes: gerichtet auf Noch-Nicht-Gewordenes im Diamanten (:reiner Kohlenstoff)31 ablesen. Die Titelfassung vermittelt präzise, worum es in dem Blatt geht. Doch genau ist sie nur in der Verknüpfung des Unbekannten mit einem symbolischen Kern von Gewissheit. Bloch, der Meister auch dieses Denkinhalts,32 beschreibt ihn definitiv auf der letzten Seite von Prinzip Hoffnung:
Das Ziel insgesamt ist und bleibt noch verdeckt, das Überhaupt des Willens und der Hoffnung noch ungefunden, im Agens des Existierens ist das Licht seiner Washeit, seines Wesens, seines intendierten Grundinhalts selber noch nicht aufgegangen, und doch steht das Nunc stans des treibenden Augenblicks, des mit seinem Inhalt erfüllten Strebens utopisch-deutlich voran.33
Das Was, auf das sich das „versuchende Denken“ richtet, ist nicht, noch lange nicht konkretisierbar. Doch im Bild des „Sprachblattes“ kann ein „Aufblitzen von utopischem Endzustand“34 wahrnehmbar werden. Das kleine, nur 11,2 x 13,7 cm große, beidseitig bearbeitete Blatt wird fast vollständig von einer federgezeichneten Augenform gefüllt. Sie steht, samt den Schattenzeichen der Rückseite, schwarz auf einem die Fläche bedeckenden tiefblauen Farbgrund, dessen Verwischungen rosa Streifen beigemischt sind. Auf der Rückseite besetzt ein mit Binnenflügeln versehenes, dunkel in sich kreisendes, abgerundetes Gebilde – vielleicht als Ort des „Diamanten“ zu lesen – den Augenumriss. Das Auge selbst ist gelöscht. Das Augenzeichen auf der Vorderseite ist zwar da, wird jedoch bei der Durchleuchtung des Blattes umgewidmet ins Imagisch-Magische. Die von hinten durchscheinenden Momente könnten seine Pupille vage zum Augenpaar ergänzen. Verfolgt man die vier möglichen Phasen des Betrachtens – von vorne, von hinten, Durchleuchtung von vorne oder von hinten –, so zeigt sich die „Realsymbolik“ des Auges wie die des rückseitigen enigmatischen Gebildes wie in einer Filmfolge überblendet, abgelöst von der jeweils anderen.
Das Ineinander der Anmutungen, die die Farbbildlichkeit mit ihrer emotionalen Ausstrahlung und die Federstrichzeichen mit den schwimmenden Bedeutungshöfen bewirken, erzeugt ein intuitiv versuchendes, abwägendes Innehaben, ein Sicheinlassen auf etwas, das da ist, ohne zu dauern, und dabei ein Leuchten von Zutrefflichkeit hinterlässt. Bloch spricht von der Erfahrung „eines antizipierenden Stillehaltens“ – ihm zufolge einer „kurzen, seltsamen Erfahrung“.35 Seltsam gewiss, doch das Zeitmoment ist nicht von vornherein bestimmbar, es kann sich auch dehnen.
Claus lesen
In 40 Jahren ist ein Lebenswerk von über tausend „Sprachblättern“ entstanden – parallel dazu ein akustisches aus vielen Stunden lautpoetischer Stücke. Carlfriedrich Claus hat sein Leben lang an der Idee festgehalten, dass alle Blätter „unabhängig von ihrem Entstehen in Wechselbeziehung zueinander stehen, dass das Ganze wie ein großes Buch ist“.36 Sie sollten als Korpus zusammenbleiben in der Zuversicht, dass zwischen den „Denklandschaften“ und zukünftigen Lesern ein Dialog gelingen und ein Drittes, Neues an Einsichten zustande kommen könnte.
Die labyrinthische Vielfalt der „Sprachblätter“ haben zwei minutiös angelegte Werkverzeichnisse registriert und zum Teil mit Kommentaren versehen.37 Sie verzeichnen das Gesamtwerk, bis auf die handgezeichneten Blätter von 1991–98. Da sie chronologisch vorgehen, vermag der von außen Kommende nur mühsam die Entwicklungen und die Komplexität des Werkes nachzuvollziehen. Dem hilft im Sinne eines strukturierten Zugangs eine von Claus selbst gestaltete und im Verlag Klaus Ramm erschienene Auswahl von „Sprachblättern“ ab. Claus hat sie in für ihn besonders wichtigen Themengruppen angelegt. Diese Ausgabe ist, obwohl sie nur bis 1987 reicht, noch immer aufschlussreich. – In den 9oer Jahren haben zwei Ausstellungen Kataloge ermöglicht, in denen Claus zwei seiner Werkperspektiven darstellen konnte. Der eine ist dem Aurora-Zyklus gewidmet und stellt dessen Blätter in den Kontext weiterer, thematisch zugehöriger. Der andere bezieht sich auf den Zyklus Aggregat K und führt zu dessen Erhellung eine Folge im Wesentlichen politisch-zeitgeschichtlich orientierter Blätter aus den Jahren 1959 bis 1989 vor. Beide Kataloge bereichern Essays, Gespräche, Tagebuch- und Briefauszüge, und jedem ist eine Faksimileausgabe des jeweils angesprochenen Zyklus beigegeben.
Wer sich über eine subjektiv-ästhetische Rezeption hinaus auf die „Sprachblätter“ einlassen will, sollte dies mit einer auswählenden, auch kursorischen Lektüre des Hauptwerks von Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung,38 das für Claus von so großer Bedeutung gewesen ist, begleiten.
Claus hat seine ganze Denkkraft und Gestaltungslust, seine Emotionen und seine Daseinserfahrungen in sein Sprachschriftwerk eingebracht. Es hat philosophisch-analytische ebenso wie poetisch-enigmatische Züge. Deren unwahrscheinliche Synthese hat Claus die Artikulation seiner Botschaft ermöglicht. Jeder Leser kann etwas von ihr in seiner Lesart entziffern.
Franz Mon, 2004/05 in Ingrid Mössinger und Brigitta Milde (Hrsg.): Carlfriedrich Claus. Schrift. Zeichen. Geste. Kunstsammlungen Chemnitz. Köln 2006
Erinnerung. Zu Besuch bei Carlfriedrich Claus.
Irgendwann Mitte der 80er Jahre. So oft bin ich bei ihm nicht gewesen. Einige Male schon. Carlfriedrich Claus schwieg (schrieb nichts) manchmal monatelang. Nach 1990 haben wir uns noch kaum gesehen. Zum letzten Mal sah ich ihn auf der Vernissage einer Ausstellung in Chemnitz, im Jahr 1995. Am 22.Mai 1998 starb er.
Zu Besuch bei Carlfriedrich Claus.
Wir trinken Kaffe, viel Kaffee, wir rauchen zu viel. Wir trinken bulgarischen Rotwein. Carlfriedrich raucht die teuerste DDR-Tabakmarke, Orient. Ohne Filter. Und bietet die Zigarette (fast mechanisch) mir an. Ich rauchte damals nur Cabinett. Dann geht er in seine „Küche“, ich folge ihm und frage ihn, ob ich ihn in der Küche, während er die Tassen abwäscht, fotografieren darf. Er lächelt und nickt zu. Keine Ahnung, warum es mir damals einfiel. Weil die Küche nicht wie eine Küche aussah? Ich dachte an keine Dokumentationen, wenn wir uns trafen. Ich dachte darüber nicht nach. Für mich war und bleibt in meinem Herzen die sympathische Ausstrahlung dieses Menschen. Mehr als „sympathisch“. Magisch vielleicht. Man befand sich im unglaublichen positiven Umfeld. Es schien mir, die Vögel schwiegen, wenn wir spazieren gingen. Im nächsten Jahr jährt sich der 20. Todestag von Carlfriedrich. Als ich von seinem Tod am 22. Mai 1998 erfahren hatte, weinte ich die ganze Nacht hindurch und hörte mir (ganz laut) die Bewusstseinstätigkeit im Schlaf an. Schön, dass ich damals allein war, in meinem provisorischen Atelier von Feldafing.
Für Pierre Garnier (1928–2014) und Klaus Werner (1940–2010)
Beim Lesen Deiner 33 Signale, lieber Pierre, muss ich an unsere Annaberger Gespräche im Sommer des Jahres 1964 denken. Und an die kabbalistische „Galuth“-Auffassung: Nicht nur der Mensch hat keine Heimat. Alles ist im Exil. Aus Unbekanntem. In Unbekanntes.
„La nuit dans le jardin“: Der Schrei. Abgebrochen. Inmitten der Flucht von Fremdheit zu Fremdheit, auf der wir Menschen, die Welt zu sein scheinen. Chlebnikow. ,,Die genauen Gesetze zerschlagen die Staaten und bemerken sie nicht einmal, so wie die Röntgenstrahlen durch das Muskelgewebe gehen und ein Abbild der Knochen geben: sie ziehen der Menschheit alle Lumpen des Staates aus und kleiden sie in ein anderes Gewebe: – den Sternenhimmel.“ Die kommunistische Kern-Intention. Transparenz […]39,
schreibt Carlfriedrich Claus an den Mitbegründer des Spatialismus, Pierre Garnier, im Dezember 1990 nach Frankreich. Wer ist dieser Carlfriedrich Claus, der sich nicht scheut, ein Jahr nach der sogenannten ,Wende‘ das Wort Kommunismus mit aller Emphase zur Sprache zu bringen? Der den Fluch von Heimatlosigkeit in eine universale Auffassung von Exil wendet, welche nicht Furcht, sondern befreiendes Potential impliziert?
1930 in Annaberg im Erzgebirge geboren, erlebt Claus die Kriegsjahre im inneren Exil und sieht im Entstehen der DDR die Chance für den Aufbau einer humanen Gesellschaft. Die Gabe zum inneren Widerstand ebenso wie die nachhaltige Rezeption wesentlicher Werke der Kunst- und Geistesgeschichte40 verdankt er seinem humanistischen Elternhaus. Sein frühes Interesse für jene Themen und für Sprache in all ihren Wirkformen wird ein Leben lang anhalten. Auf Basis seiner profunden Studien und Experimente schafft Claus ein singuläres und hochkomplexes Werk zwischen philosophischer, bildnerischer und akustischer Literatur. Folgt man dem Definitionsvorschlag der Herausgeberinnen dieses Bandes, die „DDR-Literatur als Sonderfall“, konkreter „als singuläres Phänomen, das auf einem utopisch-politischen Konzept fußte und wesentlich von diesem geprägt war“, zu verstehen41 – so soll mit diesem Beitrag ein ,Sonderfall des Sonderfalls‘ vorgestellt werden.
Claus wies von Beginn an auf seine ,Herkunft aus der Sprache‘ hin und sah sich selbst immer als Literaten.42 Die Rolle des ,Bildenden Künstlers‘ wurde erst von außen an ihn herangetragen bzw. ergab sich aus der zunehmenden Verbildlichung seiner experimentellen Poesie.
Sprechen im Exil
Nimmt Claus’ Schaffen in den 1950er-Jahren tatsächlich einen ,(natur) lyrischen‘ Anfang, so verweisen jene Klang-Gebilde genannten Arbeiten bereits auf ihre Weiterentwicklung: In der Folge entstehen erste schreibgestische Kreisungen und Vibrationstexte mit Feder und Tusche. Auf der Schreibmaschine fertigt Claus Letternfelder und Phasenmodelle, bei denen Vokale und Konsonanten auf dem Blattgrund ein zu analysierendes Eigenleben beginnen. Mit jenen „versuchen zu blätter-bewegungssystemen liegen vorversuche zur produktion einer nichtverbalen literatur vor“.43
Die Tiefenwirkung von Lautprozessen erforscht er in Sprechexerzitien in freier Natur oder durch mehrschichtige Aufzeichnung auf Tonband, um – an totemistische Rituale erinnernd – in verdrängte, archaische Bewusstseinsbereiche vorzustoßen:
Da sind Sprachgrenzen keine Grenzen. […] Hier hat man einige Ansätze zur Tendenz, […] sich in die riesige, vor, unter, nach der ,Sprache‘ geschehende Klangprozesswelt, in der es von Höhl-, Strahl-, ja Heil-Kräften geradezu wimmelt, einzuschalten […].44
Die Randgebiete der Sprech- und Schreibsprache sind es, die Claus besonders interessieren, in denen er neue Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und der Verständigung mit der Umwelt erkundet. Der (literarische) Grenzgänger wird dabei zum Grenzenöffner zu (noch) unbekannten Kommunikationsfeldern, wo die Randgebiete als neue Zentren einer „Mikrodramatik der Existenz“ und eines „Im-Gespräch-Seins“ (Carlfriedrich Claus) antizipiert werden:
Dies ja eine der Finalbedeutungen des Symbols Sprechen, Schreiben: Uns, das Auseinandergestürzte, oder vielmehr: das noch nie ganz Gewesene, das von „Beginn“ an im Grauen des Exils Begriffene, vorwärts, in noch nirgendwo befindliche Heimat zu leiten. Und da dann jenen diesen Vollendungs-Augenblick: Identität zu ermitteln. Oder, wie es hieß: wenn „hinter“ (also „vor“) der ziehenden Feuersäule, in organokosmischem Azur einst Heimat sich bilden sollte, das Exil Vergangenheit wäre, dann – nicht eher – könne man reden von der verwirklichten Sprach-Vorderseite. Die an ihre in diesem Augenblick erst hervortretende Rück-, ihre „Ursprungs“-Seite anhallen, in sie ein-hallen würde. Diese sich aussagend. Im Augenblick der doppelten Identität dann: (Ich-Klang mit sich selbst mit zugleich Du-Klang) be-, er-griffe Ich sich in Sprache in Ich und Du. Augenblick, der Sprache als Information aufhöbe.45 /footnote]
Claus geht es dabei weder um die Demonstration einer gesellschaftskritisch motivierten Verweigerungshaltung noch um die Praktizierung einer ästhetisch dominierten l’art pour l’art. Er geht nicht auf deskriptive Distanz, sondern tastet sich – durch sich selbst hindurch – in Sprache und Existenz hinein, auf der Suche nach ihren geheimen oder „genauen Gesetzen“.[footnote]Siehe: 1. Fußnote dieses Textes Von den Studien zur Wortentfaltung (1960) bis hin zu den Sprechoperations-Räumen (1996) zeugen seine Arbeiten von diesem Anspruch und bilden einen wesentlichen Strang seines Werkes, kongenial ergänzt durch seine sprachtheoretischen Niederschriften.
Interim speech sheets
In den seit den 1960er-Jahren als „ein weiteres literatur-grenzgebiet“46 entstehenden Sprachblättern/speech sheets47 scheinen alle Spuren der verschiedenen Arbeitsfelder zusammenzulaufen. Die beidseitig48 mit Tusche beschriebenen Transparentpapierbögen sind einem gewohnten Text- oder Bildformat nicht mehr zuordenbar. Entgegen der üblichen konsekutiven Vorgehensweise verknüpft Claus den inneren Artikulationsvorgang, der sich dialogisch aus der bewussten Auseinandersetzung mit dem Blatt-Thema, den subjektiven Empfindungen dabei und den Rückwirkungen des schon Niedergeschriebenen entfaltet, direkt mit der schreibenden Handführung. So fügen sich noch die leisesten mentalen oder intellektuellen Bewegungen zu seismografischen Niederschriften in filigranen Strukturen. Die Verflechtung von ikonischen und semantischen Zeichen,49 die Ballungen, Stauungen und weitläufigen Strömungen der Schreibgesten (und Denkprozesse) bilden dynamische Landschaften von geistiger wie materialer Tiefe. Claus weist auf die strukturelle Mehrwertigkeit seiner Sprachblätter selbst hin: Mindestens zwei vorhandene Informationsebenen – die sprachliche und die optische – erzeugen im Betrachter „eine spezifische spannung […]. er nimmt vernetzungen, widersprüche, spannungen, kämpfe zwischen den beiden ebenen wahr, führt sie weiter, schaltet sich in den diskurs, in dem sich das blatt befindet, aktiv ein.“50 Dialektische Beziehungen zwischen Vorder- und Rückseite sowie zu den beiden (synthetischen) Durchleuchtungen oder die Möglichkeiten der Übereinanderschichtung der Blätter legen zusätzliche Perspektiven und Zusammenhänge offen.
Bereits in den Blatttiteln verweist Claus auf Textsorten wie Gedicht, Satz, Studie, Allegorie, Notiz oder Essay. Die Titel entwickeln sich mitunter zu eigenen kleinen Textfragmenten von großer Bedeutung. Sie ermöglichen sowohl bei der Genese des Blattes als auch bei der späteren Rezeption einen direkten Bezug zum und theoretischen Einstieg in das Sprachblatt.51 Auch in den Blättern selbst finden wir zunehmend Texturen, die sich weder einer Leserlichkeit noch einer Lesbarkeit verweigern,52 sondern das Lesen evozieren.
Claus gelingt mit jedem Sprachblatt eine Art intertextueller Verflechtung, indem er verschiedene Texttypen und Wissensfelder reflektiert und verwebt. Die skripturalen Strukturen der Blätter selbst mit ihren (nicht kenntlich gemachten) Zitaten und eigenen Gedankengängen bilden zusammen mit Paratexten wie Titel, Überschreibungen und – in Tagebüchern, Notizbüchern und Briefen vorgenommenen – Kommentaren einen dynamischen Komplex, dem weder eine Rezeption durch eine bloße ,Bildbetrachtung‘ noch durch einen rein linearen Lesevorgang Genüge täte.53
Den sich in experimenteller Arbeit im Sprachblatt kristallisierenden Exerzitien liegen Claus’ eigene universale Studien54 zu Grunde. So strahlen die Blätter in all jene Bereiche zurück – seien es Philosophie, Mystik, Naturwissenschaften, Linguistik, Psychologie, Literatur, Bildende Kunst oder Politik –, von denen sie auch ihre Impulse erhielten.
Embryo-Blick aus Gestein
Neben vielen anderen inspirieren und speisen zwei wichtige Quellen das Wirken von Claus: eine sogenannte „atheistische Kabbala“ mit der über das rein Semantische hinausreichenden, magischen Kraft des hebräischen Alphabets55 und zuvorderst die Philosophie Ernst Blochs,56 den man als Claus’ spiritus rector bezeichnen könnte. Blochs dynamischem Materialismus folgend, ist Claus überzeugt, dass sich Mensch und Welt in einem zusammenhängenden Prozess befinden und dieser durch Willenskraft positiv beeinflusst werden kann. Er desavouiert damit jenen Vulgärmarxismus, der ihn als realsozialistische Realität umgibt, ohne je von einer mit Bloch geteilten kosmologisch-kommunistischen Zukunftsvision zu lassen, die beide in ihren Werken immer wieder antizipieren.
An dem Blatt Embryo-Blick aus Gestein (1965) kann man exemplarisch erkennen, wie Claus Bloch’sche Texte verinnerlicht, weiterdenkt und ihnen eine Gestalt(ung) verleiht: In dicht gewebter und stark bewegter Denklandschaft57 formieren sich Textzeilen zu Gebirgszügen, verdichten sich zu wunderlichen Gebilden – Augen-Blicken –, weiten sich Räume in Offenes. Mikroschrift durchzieht das Blatt, ja konstituiert es, lässt uns z.B. lesen:
die verknüpfung des gedankens den ich fasste mit
Menschheitsgeschichte
Veränderung
unter schwelender glut
des wassers in gesten untergehen
bewegung des subjekts in organischer materie
genau das verhältnis zwischen
Die hebräischen Schriftzeichen für Herz, Bogen oder Regenbogen sowie zu ihm gehörend tauchen auf. Wir drehen das Blatt und lesen:
das zeichen
besiegelt hat
regenbogen das zeichen liebe
ich erinnere mich des wegs den ich
gehen wollte58
Blochs Ausführungen zum utopischen Potential der Willenstechnik reflektiert Claus hier unmittelbar mit seiner ganzen physischen, psychischen und intellektuellen Kraft. So notiert er am 30. April 1965 in sein Tagebuch:
Ich konnte die Willensintention des Archeus-Vulkanus-Blattes für Bloch eben noch durch eine Verstärkung, vom ,Auge‘, längs der ,Nasen‘-Frontlinie (das Wort: ,wille‘) potenzieren. Quasi aus Morgenlektüre Blochs, dem Resultat-Augenblick heraus.59
Die Arbeit schenkt er Ernst Bloch zum 80. Geburtstag, im beiliegenden Brief vom 3. Juli 1965 heißt es:
Das Blatt ist, der Intention nach, ein vorversuchendes Experiment, das sich auf Ihren Richtungsakt ,Wille und Natur, die technischen Utopien‘ […] hinbewegt.60
In dem auf Paracelsus zurückgehenden Konzept der Vermittlung der schöpferischen Prinzipien in Mikro- und Makrokosmos61 wird eine kreative Versöhnung von ,Menschenherz‘ mit ,Naturseele‘ für Bloch wie für Claus zum utopischen Gesellschaftsentwurf.
Aurora im Gestern, Jetzt und Morgen
Die konstante und intensive Beschäftigung mit Philosophien der Geschichte – und Natur wird in den Sprachblättern der 1960er- und 1970er-Jahre deutlich und kulminiert im ersten großen Werkzyklus, dem Geschichtsphilosophischen Kombinat (1961–65).62
1964 beschreibt Claus in einem Brief an Ernst Bloch seine Strategie:
„Heraufkommendes in Geschichte und Welt“, das Ihr Prinzip Hoffnung mich immer wieder neu erfassen lehrt, – ich versuche, es in diesem Kombinat quasi mikroskopisch und partiell zu durchdenken, zu durchschreiben.63
Wie ein apokryphes Manifest liest sich das Geschichtsphilosophische Kombinat, in welchem auf 21 Sprachblättern Welt- und Naturprozess zusammengedacht werden. So erinnert Claus beispielsweise an die Bauernkriege als unabgegoltenes Aufbegehren im historischen Vorfeld folgender Revolutionen und führt den Blick durch „selbstreflektierende Materie“ auf ein „kommunistisches Fernziel“, das in den sogenannten Diktaturen des Proletariats längst nicht seine Erfüllung fand. Wie schon deren formale Umsetzung sprengen auch die inhaltlichen Botschaften der Sprachblätter die Grenzen des von der DDR-Kulturpolitik verordneten Kanons.
Die Fertigstellung des Geschichtsphilosophischen Kombinats 1965 markiert eine wichtige Etappe im Schaffen von Claus, zeugt es doch von einem souveränen Umgang mit theoretischem Material und seinen ,künstlerischen‘ Ausdrucksformen. Seine Anerkennung nimmt durch Ausstellungen und Publikationen international allmählich zu; in der DDR sieht er sich jedoch – mit Ausnahme privater Initiativen – mit Restriktionen konfrontiert.64 So schreibt 1969 der Verband Bildender Künstler an Claus, dass man solche „antihumanistische[n] und antisozialistische[n] Dinge“65 wie seine Arbeiten nicht unterstützen könne. Claus’ soziale Lage in jenen Jahren ist prekär und kulminiert 1975 in einem von Exmittierung bedrohten Arbeits- und Lebensraum und einer ihm nahegelegten Ausreise, die er empört zurückweist. Im selben Jahr gelingt es dem Kunsthistoriker Klaus Werner, in der Berliner Galerie arkade die erste offizielle Einzelausstellung in der DDR auszurichten, und auf Initiative des Verlegers Rudolf Mayer66 beginnt Claus die Arbeit an seinem zweiten Hauptwerk – der Aurora (1975–77).
In diesem Radierungszyklus entwickelt er die vorangegangenen, analytischen Geschichtsbilder weiter und konkretisiert sie durch subtile Handlungsvorschläge. Auf 15 druckgrafischen Sprachblättern und elf Textblättern verknüpft Claus Utopie-Entwürfe aus philosophischer, politischer und individueller Perspektive,67 um im Dialog mit unabgegoltenen Stimmen der Geschichte die ou tópoi Kommunikation und Kommunismus abermals zu vermessen und ihnen einen möglichen Raum zu öffnen. Im Bund mit den otijot (hebr.: Buchstaben), mit Bloch und den durch ihn reaktivierten Quellen68 entwickelt Claus in der Aurora eine „Strategie gedanklicher Operationen“.69
Die drei Radierungen Prozessuales Verwirklichen neuartiger Beziehungen zwischen Frau und Mann (Blätter 4–6) reflektieren einen zentralen Aspekt des Zyklus’: In ihnen offenbart uns Claus seine Utopie der Liebe. Hierfür bedient er sich der sogenannten Satzkreisungen (Blatt 4), Satzströmungen (Blatt 5) und Wortstränge (Blatt 6). Es sind drei Briefe von der Liebe in einer (in) uns verborgenen Sprache, die ihrer Erforschung und Anwendung harrt. Dass Liebe und Revolution alles andere als konträre Begriffe sind und sich in jenem der Energieumwandlung treffen, verdeutlichen Zitatbeigaben von Marx und Lenin. Wie auch Bloch kritisiert Claus den „dogmatischen Schulmarxismus, der das Unbekannte in der menschlichen Psyche ständig vernachlässigte“.70 Erst die Freiheit zur Selbstentfaltung und das Werden neuer Sinnesorgane im Noch-Nicht-Gewordenen des Körpers; Bewusstwerden noch nicht bewußter Fähigkeiten (Blatt 8) kann zu einer zunehmend konfliktfreien Begegnung mit einem Anderen führen. Ausgangspunkt einer „Emanzipation aus der Klassengesellschaft“71 ist die Arbeit am Selbst, die Bildung eines individuellen Humanums.
Inneres Exil & ,,Fühler in die Welt“
Auch wenn sich Claus für sein Schaffen mitunter wochenlang völlig in seinen Annaberger Arbeits- und Lebensraum zurückzieht, impliziert diese selbst gewählte, konsequente Isolation zugleich eine Weltoffenheit, mit der er physische und geistige Grenzsetzungen durchbricht. Er pflegt intensiven – vornehmlich schriftlichen – Austausch mit zahlreichen Intellektuellen und Künstlern weltweit, darunter Ernst und Karola Bloch, Will Grohmann, Raoul Hausmann, Michel Leiris, Künstlerfreunde wie Franz Mon, Ilse und Pierre Garnier, Alain Arias-Misson oder ,innere Verbündete‘ wie z.B. Christa und Gerhard Wolf. Allein im Chemnitzer Archiv sind um die 22.000 Briefe erhalten. Die Korrespondenzen kann man als wesentlichen Bestandteil des Claus’schen Œuvres bezeichnen, in dem sich das Experimentelle der Sprachblätter und die Gedankengänge seiner theoretischen Texte – konkret adressiert – miteinander verschränken.72
Dass man immer wieder versucht, Claus’ ,,Fühler in die Welt“ (Brigitta Milde) kurz zu halten oder gar zu kappen,73 ändert nichts an seiner Loyalität gegenüber der DDR. Nach wie vor erhofft er sich von dem realsozialistischen Experiment einen fruchtbaren Boden für die Realisierung seiner sozialen Utopie. Claus’ Bekenntnis zum Kommunismus bleibt bis ca. 1980 mit einem revolutionär-kämpferischen Impetus verbunden. Dem folgend befassen sich die Sprachblätter von etwa 1960 bis 1970 nicht selten mit weltpolitischen Themen. Beispielsweise begegnen wir Auseinandersetzungen mit den Konflikten im Nahen Osten, in Nordirland oder Tibet, den Befreiungskämpfen in Afrika und Lateinamerika oder Gedanken zum Vietnamkrieg und zu den Unruhen in der polnischen Nachbarrepublik. Jene Blätter sind von starken Hell-Dunkel-Kontrasten geprägt, und kräftige Symbole dominieren die sonst feinen Schriftstrukturen: Erhobene Hand, weit geöffnete Augen, Sarg, Fahne u.a. unterstreichen in Verbindung mit klaren Stellungnahmen in den Beitexten Claus’ politisches Engagement und sein Bewusstsein für Mitverantwortung und Solidarität.
Aggregat K(ommunikation / Kara-te / Kommunismus)
Diesem Ethos bleibt Claus auch treu, als die zunehmende Ernüchterung und Lethargie der 1980er-Jahre, ,,ausgelöst vom immer offenbarer werdenden Gesinnungsbruch der sozialistischen Gesellschaft an ihrem Programm“,74 ihn an deren Reife, jedoch nicht an der Potentialität zu konkreter Utopie zweifeln lassen. Spürbar jedoch werden Modifikationen der (Schreib-)Strategien. Die Waffen werden aus der Hand gelegt, die Hand bleibt leer, aber nicht untätig; die Blicke kehren sich weit nach innen und weit nach außen, gerade um nicht an der Gegenwart zu ermüden. Mit jener aktiven Einkehr erarbeitet Claus weitere Möglichkeiten, exemplarisch gegen Trägheit zu revoltieren. Die seit 1982 entstehenden Karate-Zeichnungen75 und seine letzte große druckgrafische Serie Aggregat K geben Zeugnis davon und weisen auch im formalen Gestus eine neue Symbiose aus Konzentration und Spontaneität, aus Sensitivem und Affektivem auf.
Alle bisher erarbeiteten Ausdrucksmöglichkeiten konzentrieren sich im Aggregat K, dessen Grundthema Claus benennt als „Gesprächs-Wirklichkeiten. Vergessene und durch ihre Alltäglichkeit verdeckte, und noch unbekannte psychisch-physische Kommunikationsformen. Gespräch-Sein, das auch Schweigen sein kann.“76
Hat Claus zuvor schon Blatt-Folgen in sogenannten Kombinaten gefasst, so erscheint das Aggregat K mehr denn je als Buch. Sieben Lagen (Kapiteln) liegt jeweils ein starting point (Gesprächs-Motiv) zu Grunde. In der ersten Lage z.B. beschreibt Claus die Zusammenführung disparater Zustände in und die Kontaktaufnahme mit unserem (eigenen) Naturgrund, visualisiert im nachempfundenen Dialog zwischen einem Schamanen und einem Pflanzenwesen (Seite 5). Die elfte Seite – Beschreibung furchenwendig – bildet ein wanderndes Blatt, das den Seiten aller Lagen als Lesezeichen (im Wortsinne) zugeschaltet werden kann. Normal- und Spiegelschrift in Zeilenreihung bilden eine nicht abreißende Linie, die das Blatt durchfurcht. Zum Lesen muss man auch mit Hand (oder Spiegel) aktiv werden; die dadurch verlangsamte Lektüre intensiviert die Rezeption.
Mit einer aus der Tiefe der Blattunterseite auftauchenden Textcollage erinnert Claus noch einmal an einen sich parallel zum konventionellen Sprechen vollziehenden Signal-Austausch. Seine Notiz zur Realität unterschwelliger Wechselwirkungen beim Gespräch endet mit der Aussicht, dass „zwischen sprechenden, schweigenden, sprechenden Körpern mit ihren asynchronen und synchronen Biorhythmen, ihrem Bewusstsein, ihrer politischen, ihrer Klasseneinstellung, ihrem Handeln […] mehr [geschieht] als bekannt ist“.77 Im von ,oben‘ her das Blatt dominierenden Text beschreibt Claus
das erleben von zerfallsvorgängen wobei „innen“ und „aussen“ ununterscheidbar werden. aus den in- und auseinanderstürzenden strukturen, ihrem sterben, lösen sich orkane, feuer, schneestürme, eis, licht. aus der fortschreitenden destruktion im abgrund der höhe des baumes formieren die irren partikel andere und neue fremdheit. der entscheidende schamanistische schritt geschieht genau hier, unter der haut, eben das ist der punkt, von dem her noch das banalste gespräch anderes auch anorganisches berührt und von diesem berührt wird. Die totemistischen kommunikationsexperimente […] sind vorstösse, die auch unter gänzlich veränderten bedingungen neu aufgenommen und weitergeführt werden können.78
Zwischen beiden Textkörpern verbleibt ein Zwischen-Raum, in dem Claus den Blick freigibt und das (innere) Zwiegespräch offeriert. Denn ,,[d]as Aggregat ist sowohl als materielles Objekt als auch hinsichtlich seiner Funktion als möglicher starting point subjektiver Prozesse im Rezipienten, der es im Selbstexperiment kritisch erprobt, Ergebnis kollektiven Zusammenwirkens. Es entstand durch Austausch mit anderen, Bekannten und Unbekannten“.79 In der Zusammenschau der Seiten fünf und elf kann man versuchen, durch die Teilnahme am „Im-Gespräch-Sein“ zwischen Schamanen und Pflanze eine eigene Wandlung zu erfahren.
Nach der Wende bleibt vor der Wandlung
Als der Oktober die Straße umtrieb, blieb der Künstler beim Papier. Es gibt genügend gute Gründe für den Künstler das zu tun – vor allem wohl die Wehrlosigkeit, mit der man ihn seiner eigenen Grundsätze wegen – im Guten wie im Schlechten – vom Stuhl reißt. Bei Claus kommt hinzu, daß er mit der Entfernung wie mit einem Schutzanzug lebt, denn nicht die Sache selbst, sondern ihr Erscheinen ist geeignet, im Schriftreich des Carlfriedrich Claus eine Wanderung zu beginnen.80
Die unmittelbaren Ereignisse des Oktober 1989 reflektiert Claus in drei Siebdrucken: Im Diskontinuum gesellschaftlicher Raumzeiten und Im Diskontinuum mesokosmischer Zeiträume bleibt er beim Selbstexperiment,81 denn er macht sich „keine Illusion über das, was kommt“.82 Jener Herbst fällt für Claus mit der intensiven Vorbereitungsphase seiner Retrospektive zusammen, welche im Juni 1990 in den Städtischen Museen Karl-Marx-Stadt eröffnet wird. Im Einleitungstext zum parallel erscheinenden Werkverzeichnis schreibt Klaus Werner:
Die Massenchöre im Spätherbst ’89 haben das Land verändert. Mit seiner neuen Freiheit ist Claus auf die alte Weise allein – wie viele seiner Kollegen. Der Bankrott des Staatsschauspiels hat selbst die friedfertigsten Ideale mitgerissen. Niemand hat Lust, sich im Crash der Gegenwart für ein Versprechen zu engagieren. Ferne ist out. Die Zukunft hat eben begonnen. Wir haben uns dennoch für einen Titel der Ausstellung entschieden, der dem Künstler gerecht ist und optimistisch mit der „Wende“ umgeht: Erwachen am Augenblick!83
Die Ausstellung wandert im Anschluss nach Münster, Frankfurt am Main, Bielefeld, München und Hamburg. Das Interesse an Claus Werk wächst daraufhin, Einladungen zu Ausstellungen und Publikationen sowie Auszeichnungen und Ankäufe reihen sich aneinander. Claus bleibt von der zunehmenden Reputation unbeeindruckt, er entzieht sich immer wieder – manchmal für Monate – der Öffentlichkeit, um sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er wendet sich wieder verstärkt den Lautprozessen – kulminierend in zwei Hörspielen für den Rundfunk84 – zu, und zahlreiche neue Sprachblätter entstehen. Die Themen seiner Arbeiten wie deren Umsetzung ändern sich nicht, für Claus bleibt der Zeitraum nach der Wende die Zeit vor der Wandlung. Die sogenannte Wende und deren politische wie soziale Folgen zeigen, dass die Menschen lediglich einer weiteren Spielart von Unfreiheit nachzugeben in der Lage sind: der Freiheit zum oberflächlichen Konsumieren und der Freizügigkeit des Marktes. Eine Befreiung des Individuums im Sinne einer Lösung innerer und in der Folge äußerer Konflikte bleibt Utopie und Gebot. Deswegen verstärkt Claus (im exemplarischen Selbstversuch) seinen Appell, durch eine Sensibilisierung der eigenen geistig-emotionalen Fähigkeiten Lebensprozesse besser zu realisieren, wodurch die kollektive Wandlung hin zu einer humanen Gesellschaft erst möglich wäre. In der (ur)kommunistischen Vision von Claus finden wir Natur und Mensch sowie Mensch und Mensch (wieder) versöhnt und ökonomische Dependenzen in Kreativität und geistiger Potenz aufgelöst. So bildet das Vordringen in unbekannte Gebiete des Existierens – seien es jene der Kommunikation, der Psyche oder jene eines hypothetischen Natursubjekts mit unserer Beziehung dazu – weiterhin das wesentliche Thema seiner Arbeiten.
In der Fortsetzung seines Werkes macht sich dennoch ein Lauterwerden vormals leiser Zwischentöne bemerkbar. 1973 schrieb Claus ein Blatt mit dem Titel Durchbruch durch Acedia; Anfang der 1990er-Jahre fertigt er eine Reihe von Sprachblättern, die er Kern-Infektion des Subjektfaktors mit Acedia nennt – so erscheint es als berechtigte Annahme, dass sich für ihn das Problem von „Laschheit, Lauheit, Stereotypie der Selbstvergiftung, kurz Inaktivität“ mit der Wende nicht erledigt, sondern potenziert hat, denn „[g]espenstisch, wesenlos vergeht die Zeit der meisten, unbegriffen, unergriffen. In das Wesenlose. Gespenstische. Nichts. Das Insekt ist – jetzt! – intensiver ,da‘ als der Nebelfleck ,TV-Konsument‘.“85
Ist jenes Sprachblatt von 1973 noch als Visualisierung eines Durchbruchs lesbar, so stellen die späteren Blätter eher eine Bestandsaufnahme dar, um die Möglichkeiten eines Auswegs erneut zu prüfen. Claus’ kritische Beobachtung persönlicher wie allgemeiner Befindlichkeit äußert sich auch in Blättern wie z.B. Entfremdung (1992), Leben in Illegalität (1991/92) – Termini, welche in früheren Blatttiteln nicht auftauchen. Der Hoffnung jedoch, dass auch die noch so geringste innere wie äußere Bewegung Folgen zeitigt, begegnen wir in der Arbeit nichts hinterlässt keine spur (1993). Eine Satzkreisung, wie Claus sie schon in ganz frühen Blättern anwandte, besteht aus einem (für die Verfasserin) unleserlichen Wort und dem Verb ,schichten‘. Um diese Gestalt kreisen Spuren von Hand und Pinsel, welche die windende Bewegung in eine größere Dimension übertragen und als Negativform doppeln. Claus konfrontiert uns an exponierter Stelle mit den lesbaren Partikeln: „welcher sinn?“, „welche bedeutung?“ und „bedeutet […] aber nicht zugleich noch mehreres andere: diaphan wie opak“. Woher und wohin, worum und warum winden wir uns? Claus erkennt die ambivalenten Bedingungen unseres Daseins, das Verlieren im Polarisieren. Dem Credo seiner eigenen, tätigen Existenz folgend, verweist er hier nochmals auf den wertungsfreien Bedingungszusammenhang des Gegensätzlichen. So versteht er auch den Umgang mit – vermeintlich – negativen Affekten: als Chance, sie zu erkennen und zu verwandeln. Wie von unsichtbarer Hand in schwebenden Raum geschriebene Signale erkennen wir auf der linken unteren Bildhälfte drei auf Hebräisch geschriebene Sätze: ,,Ha-schem or. Ha-schem esch majim. Ha-schem ahava.“ (Der Name Licht. Der Name Feuer und Wasser. Der Name Liebe.) Mit diesen doppelwertigen Ursymbolen lässt er uns die vernichtende und die positive Kraft des Lebens zusammendenken.86
Resurrektion Aurora letalis87
Um die Wirkkraft seiner Arbeiten zu intensivieren, öffnet sich Claus stets neuen technischen (Vervielfältigungs- und Vergrößerungs-)Möglichkeiten, im Finale der Notizen findet sich seine formale Vision:
Transparente Räume bildende, bildend durch sie schwebende Gedanken auf Glas. Glasgegliederte Leere, in der Sprache agiert. / Aus Sprungprozeß, vertikal schwebend: Tiefe. / Die dritte Dimension. / Anders. / + / Utopische Konjunktionen: mit Fels etwa, Lichen, Elfenbein, Gewölk, Stadt. Tendenzbewusstes, vorversuchendes Experimentieren an Aufhebung der Entfremdung dazwischen. Dialektik. Schreib-Expansionen auf Körperlichkeit. Diese figurierend; verändernd. Architektur. Utopisch aufgeschlagene Landschaft.88
Gerade als sich erweist, dass ,,[d]er Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (Lenin) längst nicht überwunden ist, lässt Claus seine Aurora nochmals auferstehen. Seit Beginn der 1990er-Jahre arbeitet er an einem Experimentalraum Aurora,89 in welchem die Radierungen als transparente Vergrößerungen in einem verspiegelten Raum jene „utopisch aufgeschlagene Landschaft“ bilden, ,,wie ein Buch, wo man die einzelnen Seiten begehen kann, wo ein aktives Verschieben möglich ist, wo neue Transparenz entsteht, neue Spiegelungen…“.90 Für den Experimentalraum rekapituliert Claus noch einmal das mit Aurora Intendierte:
[A]lles ist au fond Aurora, – ,Versuchsgebiete‘. […] Ein wirkliches Gefühl der inneren Korrespondenz zwischen sich und der Welt ist nicht erreicht. Jenes im marxistischen Sinne ,Reich der Freiheit‘ ist immer noch Utopie. Die Freiheit, die wir jetzt, 1993, erleben, ist immer noch eine entfremdete Freiheit. Denn der Subjektfaktor ist monetär besetzt, so daß also das Subjekt Bestandteil der Logik des Geldes ist, mehr oder weniger gezwungenermaßen. Das psychosomatische System ,Mensch‘ selbst wird Funktion von Geld. Im Zusammenhang damit expandiert Acedia. Aurora steht gegen die Infektion des Subjektfaktors mit Acedia – also mit dieser spezifischen psychischen Trägheit, gerade auch in Hektik. […] [A]ll diese gesellschaftlichen Utopien sind Grundbestandteil der menschlichen Psyche: die Sehnsucht nach der Aufhebung des Entfremdetseins von sich selbst, von der Welt und von den anderen Menschen. Solch eine große Imagination von einer Welt, wie sie sein könnte, aber noch nicht ist, das ist für mich der Kommunismus. Denn im Grunde steckt in jedem Menschen die Sehnsucht nach dem, was als Kommunismus bezeichnet wird. Also ist Aurora für mich nicht vergangen. Die Utopie existiert real weiter, das stelle ich mit diesem Raum zur Diskussion.91
Aurora existiert also weiter, nicht zuletzt im stringent und kompromisslos entstandenen Werk von Claus, in welchem keine Brüche zu verzeichnen sind, sondern lediglich Modifikationen. Diese vollziehen sich nicht im Rhythmus spektakulärer Geschichtszeichen, sondern folgen unter jeder historischen oder persönlichen Bedingung einer inneren Haltung: der Symbiose aus prinzipiellem Hoffen auf allmähliche Wandlung und absoluter Wachheit in jedem Augenblick.
Die praktische Ausrichtung seines Werkes erfordert den ganzen Lebenseinsatz des Künstlers selbst, wie sie auch die Koproduktion des Lesers herausfordert. Für das wirkliche ,Ins-Gespräch-Kommen‘ mit sich und der Welt radikalisierte Claus seine Ausdrucksmittel, die veritable Spuren eines unabgeschlossenen Erkenntnis- und Erfahrungsprozesses sind, der sich im Leser fortsetzen kann und sollte.
Gesellschaftliche Kritik bedeutet für Claus immer zuvorderst konstruktive Selbstkritik. Persönlichen Tiefschlägen ebenso wie gesellschaftlichen Zäsuren begegnet er nicht mit Resignation oder Gesinnungswandel, sondern mit einer Verfeinerung und Intensivierung seiner Reflexionen. Spricht er von Kommunismus, so meint er nicht ideologische Parteinahme, sondern Liebe in ihrem weitesten Sinne und eine Referenz auf urkommunistische Lebensformen. So ließe sich die These wagen, dass Claus an jedem anderen Ort die gleichen Fragen an Welt, Um- und Mitwelt gestellt hätte und zu den gleichen Arbeitsergebnissen gekommen wäre. Zeitlos und raumgreifend sind seine subtilen und subversiven Arbeiten, weil ihre Fragestellungen die Zeit ebenso wie den geopolitischen Ort ihrer Entstehung weit überschreiten und bis heute an Brisanz nichts eingebüßt haben. Es erscheint evident, dass Claus’ Lebenswerk die praktische und ideelle Konzeption einer littérature engagée, wie sie Sartre vorgelegt hat, par excellence verkörpert. Der Anspruch, eine Einheit von humanem Denken und Handeln, von inneren und äußeren Vorgängen zu ergründen, sie im Selbstversuch anzuwenden und weiterzutragen, bleibt angesichts der Konsequenz und Arbeitsergebnisse in seinem Umfeld nahezu beispiellos.
Claus’ Stimme, die sich unaufgeregt, aber vehement wie bestimmt für ,,eine uns adäquatere Welt, ohne unwürdige Schmerzen, Angst, Selbstentfremdung, Nichts“92 erhebt, ist in der DDR-Literaturlandschaft sicherlich kein Einzelfall. Indem jene Stimme aber die den ,Zeitzeichen‘ formal und inhaltlich gesetzten Grenzen überschreitet und unterwandert, indem sie Utopie lebendig verkörpert und Zukunft unmittelbar stiftet, wird sie zum Sonderfall.
Lesen im Exil
1998 wurde der Aurora-Experimentalraum vom Deutschen Bundestag angekauft und ist seitdem dauerhaft in der Wandelhalle des Reichstagsgebäudes präsent. Claus’ Traum vom permanent begehbaren und zahlreich begangenen Buch schien sich zu erfüllen – und erfüllte sich nicht. Aus ,sicherheitstechnischen‘ (!) Gründen wurden die transparenten Sprachblatt-Vergrößerungen direkt unterhalb der hohen Decke installiert, so dass die auf Dialog mit dem sie durchschreitenden Leser angelegten Arbeiten für denselben unerreichbar, unerfahrbar, unlesbar und mithin ihrer Wirkung beraubt sind. Es ist anzunehmen, dass Claus einer derartigen Realisierung nicht zugestimmt und den Werkkomplex zurückgezogen hätte. Er konnte die Fertigstellung des Raums jedoch nicht mehr erleben, da er am 22. Mai 1998 starb.
Diese Tatsache ist ein extremes, jedoch kein singuläres Beispiel, was die Rezeption des Claus’schen Œuvres vor wie nach der Wende anbetrifft.
[D]as war irritierend, für die Partei, aber auch für die bürgerlichen Kunstkritiker in der BRD, da haben sich manche, wenn sie meine Texte lasen, von mir abgewandt […]. Das war ja die Schwierigkeit bei diesem eingeengten Realismusbegriff hier; und in den westlichen Ländern, wo man von vornherein nur auf das Formale sah, brachte man mich auf Grund dieser DDR-Kulturpolitik nur mit dem Westen in Verbindung. Man musste sich mit meinen Sachen eben wirklich befassen, ich wollte ja niemandem etwas aufoktroyieren, sondern sah sie als Diskussionsgegenstände.93
Aber, ,,[a]u fond sind – im allgemeinen Literatur- und Kunstbetrieb – unsre Gedanken ja noch immer weitgehend terra incognita. Hüben wie drüben“,94 schrieb Claus 1982 an Franz Mon.
Claus wurde und wird – mit wenigen Ausnahmen – von der Kunstgeschichtsschreibung als ,Außenseiter der DDR-Kunstszene‘ gehandelt, in dieser Rolle bekommen seine Werke ihren Platz in den Häusern und auf den Märkten der Bildenden Künste und verbleiben als das, was sie dort bestenfalls sein dürfen: hermetisch und ästhetisch. Zur Diskussion zu stellen, ob Claus wirklich nicht ,gelesen‘ werden kann, war eines der Anliegen dieses Beitrages.
Wollte oder sollte man ihn nicht lesen, gerade weil er an den Grundfesten unserer scheinbar gesicherten Existenz rüttelt, unserer selbstgenügsamen Abgeklärtheit ein Unbehagen untermischt, unsere Gemütlichkeit durch die Erinnerung ans andauernde Exil stört? Es wäre ,mesokosmisch‘ höchste Zeit, das Werk von Claus einer Verwertung durch den Kunstbetrieb zu entziehen, wieder auf Augenhöhe zu holen und einer intensiven, praxisgebundenen Lektüre zuzuführen. ,,Wie Claus lesen?“95 – wäre eine nächste, sich anschließende Frage. Eine sehr verkürzte Antwort könnte sein: So, wie Claus schrieb – mit Hirn, Auge, Stimme, Hand, Fuß und vor allem: mit Herz. Denn
das im gesellschaftlichen Fortschritt Liegengebliebene, ist das im Bekannten unbekannt Gewordene, oder noch nie bekannt Gewesene, ist die terra incognita im Menschen und in der Natur, von der er Teil ist. […] Das Fernziel ,Klassenlose Gesellschaft‘, ,Befreite Menschheit‘, ,Kommunismus‘ verstehe ich als Endzustand und ,starting point‘ der eigentlichen Universalgeschichte der Menschheit. […] Wobei die Sinnfrage und die nach dem Tod ideologiefrei sein würden, also an Härte und Schwierigkeit zunehmen. Vielleicht liegt in der Energie Liebe ihre Lösung. Das Aurora-Gebiet der Liebe findet sich im Innersten.96
Anke Paula Böttcher, aus Mirjam Meuser, Janine Ludwig (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland Band II, fwpf, 2014
Die Bedeutung des Wortes in der modernen Kunst hat längst weiteres Terrain hinzugewonnen. Introvertierte Chiffren als Erregungszeichen, die noch die 60er Jahre bestimmten, sind zurückgenommen. Worte brüsten sich heute mit ihrer populären Magie. Im Satz hinterlassen sie einen umbrochenen Sinn. Wenn Jenny Holzer in ihrer Survival-Serie über den Picadilly Circus den Spruch montiert „Protect me from what I want“, beschreibt sie den Zweifel an der akademischen Künstlertugend der Weltverbesserung. Die Sinnstiftung von Sprache auf der Verständigungsebene scheint abgebrochen. Holzer dämonisiert ihre Intentionen, um vor Überreaktionen durch Entsozialisierung und Stummschaltung zu warnen. Demgegenüber tritt Claus vergleichsweise gutgläubig auf. In seinem abgedunkelten Souterrain verlöscht das Licht nicht. Er erzeugt es als Hypothese von ,Subjektenergie‘ und Emanzipation. Vielleicht half ihm die gesuchte Stille, das Epos über Kommunikation und Kommunismus makellos zu entwerfen, es an sich zu ziehen und als Überzeugung festzulegen. Die Aura, die er dafür findet, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß nicht nur Fiktionen, sondern 50 Arbeitsjahre mitgeschrieben haben – Jahre an einem Ort, am gleichen Tisch.
Isolation erzeugt Gegenwehr. Diese imaginiert Freiheit, die Claus brauchte und tatsächlich besaß. Indem er sein Denken über den Zustand der Welt auf nicht nachlesbare Weise niederschrieb und ihm Form verlieh, wurde er Künstler. Er schuf sich Kriterien, die der Realität leichter standhielten, als wenn man ihn als ,Politiker‘ für den Absturz seiner Gesellschaft beim Wort nehmen müßte. Dennoch muß er auch als Künstler an dem gemessen werden, was er sich selber bedeutete. Das war nicht allein das Künstlerische. Es war die Gestaltung als Ganzes und Großes.
In den filigranen Sprachfeldern von Claus tritt die Aurora als sanfte Gewalt in die Geschichte. Die Luft-Salve von 1917, abgefeuert vom gleichnamigen Panzerkreuzer über Petersburg, richtete keinen praktischen Schaden an. Sie startete eine Revolution. In den Schriftblättern des Künstlers fügte sie die Endglieder zu einem Kreis, zum „Endzustand und starting point der eigentlichen Universalgeschichte der Menschheit“. Sein Lehrer war er selbst. Dieses Selbst drängt ihn bereits im kindlichen Alter zu Kunst und Lesestoff, zu hymnischen Gedichten mit Klangzeichen und einem ,Automatischen Tagebuch‘ in der Gestalt von Bio-Rhythmen. Mit zehn Jahren liest er Heinrich Heine, Ernst Bloch, Karl Marx, Carl Einstein. Er entdeckt die Schriftzeichen der Kabbala mit jener faszinierenden Erfahrung des ,Words tend to be inadequate‘, die der zeitgenössischen Konzept-Kunst die Lust der Ambivalenz, Claus offensichtlich erste Erkenntnisse über die Veränderbarkeit der Sprachinformation durch Lautverschiebung lieferte.
Die stets gegenwärtige Verdichtung der Blätter mit wissenschaftlicher Kombinatorik und die philosophische Entgrenzung (des klassisch-orthodoxen Marxismus) mittels Metaphysik, Sprachwissenschaft, Kybernetik, Daktyloskopie, lamaistischer Mandras oder jüdischer Mythologie senkte den ideologischen Pegel auf Null und hob den „real utopischen“ (Claus) auf Überlebensgröße an. Das ist zumindest ein Grund, warum Claus in der DDR eher gemieden und vermieden als geschätzt wurde. Das hinderte den Zeichner nicht daran, die DDR in einem Ursprungszustand neuer Zeitläufe zu sehen, dessen Scheitern kein entgültiger Urteilsspruch der Geschichte ist.
Der Entwurf eines klassen- und gewaltfreien Gemeinwohls ist unverletzt geblieben. Es gibt darin Wandlungen, aber keinen Abbruch. Das Werk selbst verzweigt diesen Anspruch in unendliche Facetten und Strategien. überliefert sind sie als Bruchstücke. Der Widerspruch zwischen Ansprechverhalten und Leseverweigerung ist Claus wohl bewußt. Die Gründe liegen im Rauschen der Textprotokolle durch den wechselnden psychischen Gestus des Schreibens, durch Überlagerung und Verlöschen. Es dient dem Aufbau von freien Energiefeldern. (Die vermutete und vergrabene Botschaft rekonstruiert sich als Allegorie!) Die auf das Werk verwendete körperliche und geistige Energie kommt zunächst als körperliche Arbeit zurück. Der Betrachter wandert mit den Augen, um Schriften mühsam zu lesen, wendet er das Blatt zur beschriebenen Rückseite oder dreht es um die von den Schriftfeldern gewiesenen Arbeitsachsen etc. Schon diese Bewegungen des in die Hand genommenen Blattes greifen auf die dritte Dimension der Wahrnehmung, gelangen relativ früh zum Zeit-Raum.
In den 70er Jahren verwendet der Künstler fotografische Reproduktionen, um das Gesichtsfeld zu vergrößern und das Schriftbild zur Landschaft auszurollen. Seit 1992 sind auf den Ausstellungen zuweilen vergrößerte Siebdrucke der DIN-A4-Originale auf Plexiglas zu sehen, durch die man ,hindurchgehen‘ kann. Immer wieder wird die allegorische Deutung des Werkes durch Bildsymbole verstärkt (Augen, Hände, Nasen, Tierformen wie Insekten, Vögel, Schlangen, Reptile, später Abdrucke von Händen und Füßen). In den Karate-Blättern zerschmelzen Sprache und Stau-Befreiung zu Hiebspuren.
„Make the secrets productive“, schrieb Beuys 1977 auf ein Objekt aus Brotteig, Holz und Farbe. Claus diagnostiziert „Sensitivität als Störfaktor“. Entschlüsseln, Fühlen, Handhaben begleiten die Herausforderung an das Publikum auf diese oder jene Weise.
Am wenigsten angemessen, aber wohl am weitesten verbreitet ist die ,kulinarische‘, zurückhaltend formuliert, die ästhetische Wahrnehmung. Claus schätzt sie nicht. In seinen Willens-Paketen wirkt ,l’art pour l’art‘ als Verschwendung.
Claus überträgt Energie vom Körper in einen psychografischen Speicher, der Botschaft, Gedankentechnik und Pulsschlag wie ein Kardiogramm aufzeichnet. Er beschreibt sich nicht als Bild-Dokument oder Konzept-Idee, sondern drängt zum Kontakt, sucht eigentlich „… Gesprächs-Wirklichkeit, vergessene und durch ihre Alltäglichkeit verdeckte und noch unbekannte psychisch-physische Kommunikationsformen. Gesprächs-Sein, das auch Schweigen sein kann“. Ob die Welt dazu fähig und die Kunst zu jener moralischen Aufbesserung willens ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Künstlerisch angeregt wurde Claus in den späten 40er Jahren vor allem von zwei Bewegungen: der Experimentellen Poesie und der Spontanen Malerei. Erstaunlich die Verve, mit der ein 18jähriger aus dem abgelegenen Winkel eines zerrütteten, gleichwohl nicht hoffnungslosen Landes in die ,Welt‘ hinausfunkte. Die Kunst war eben neu auf Richtung-Ost geeicht. Kulturoffiziere aus Moskau hatten die Schnellaufklärung übernommen. Statt sich aber an dem sozialen Impressionismus der russischen Historienmaler des 19. Jahrhunderts zu erfrischen, kommuniziert Claus mit den Dadaisten Arp und Hausmann, sieht in West-Berlin die Bilder von Bernard Schultze und Fritz Winter.
Visuelle Poesie
Aus dem Klangreich seiner Gedichte verlassen die Buchstaben allmählich die Grundlinien und sprengen mit optophonetischen Notationen den literarischen Text. Das Formatieren von Schrift- und Satzzeilen nach Bildern hat eine lange Tradition. Sie ist im Zusammenhang mit Ausstellungen über visuelle Poesie oft zitiert worden. Sie reicht in der neueren Literatur von Lewis Carolls Nachzeichnungen eines Mauseschwanzes ,Fury said to a mouse…‘ über Apollinaires Tränen-Tropfen in „Il pleut des voix de femmes“ bis zu den mit der Schreibmaschine ausgeklügelten Lettern-Bildern der ,Konkreten Dichter‘.
Claus benutzte dieses Verfahren eher beiläufig, wenn er in seinen späteren Sprachblättern Körperprofile mittels Schriftzügen fixiert. Ihn interessierte nicht die Nachahmung, sondern die Artikulation eines Zwischenreichs, welches das Körper-Symbol in poetischer Erregung interpretiert und damit in seiner puren Anschaulichkeit verbraucht:
Buchstaben? Nein: Darstellung einer Vokal-Konsonant-Verbindung vor dem Atemstrom.
Gestreute, frei geformte Schriftfelder boten für die Futuristen den gern benutzten Hintergrund, um dem Bedeutungskonflikt der traditionellen Sprache eine zusätzliche Flächendynamik beizugeben. Poetik als Schreibenergie von Hand und Körper im Text suchte Breton um 1919 im Vorspiel von Dada-Paris (u.a. „Lettre à Fraenkel“). Claus übertrug 1958 sein automatisches Zeichnen auf die Buchstaben- und Textdarstellung. Wenig später folgten die Künstler um Art Brut (Lucebert, Alechinsky, Dotremont). Henri Michaux arbeitete unter Meskalin. Bernard Heidsiecks mixte Montagen aus Schriften und Fotocollagen wie in „100 Foules“ (1970) oder „Machines à Mots“ (1971). Schreibschraffuren in Spiegelschrift benutzte Jochen Gerz für „The real window to The world“ (1978). Bei Tinguely, Tapies und Twombly entzieht sich die Schrift wieder der visuellen Poesie, und man benutzt sie reflektorisch, zitierend im komplexen Werk-Begriff.
Grundsätzlich bereitet Claus zwischen 1957/59 und 1962 sein Werk durch die Verbindung dreier Arbeitshypothesen vor: Visualisierung der Sprache durch Schrift, Gestaltung von Letternfeldern und Lautprozessen, theoretische Grundlegung der Sprachexperimente.
Entgrenzung von Flächen und Zeichen
Die Forschungen resümieren die praktischen Vorarbeiten und geben jene Strukturen vor, die das zeichnerische Dichten verlassen und sich in den geistigen Konzentraten der Blätter ab 1961 immer umfassender entfalten. Der Gedankenaustausch mit dem Dichter Franz Mon setzte 1959 ein und verstärkte das Interesse an der Entgrenzung von Fläche und Zeichen wie überhaupt von den geläufigen Schemata der Textdarbietung. „ein blatt papier ist von ein paar wasserspritzern getroffen, ist bereits lesezusammenhang“, schreibt der Dichter. Drei Jahre später wird von Claus der glänzende Essay über Sprechen, Schreiben und Affektgeschehen in einer Vorfassung vorgelegt. Akribisch erläutert der Künstler ,Schrift-Natur‘ und ,Schrift-Atmosphäre‘, die Arbeit von Vernunft und Randbewußtsein, die Achse vom mitteilenden Ich und dem angesprochenen Du, die Dialektik des wechselnden Schreibens von Vorder- und Rückseite. Der Essay gerät zur Grundlegung seiner „… rückwärtigen Landschaft des Ichs, das die angenommene erlernte Schrift schreibt, sich ihrer bedient, Schriftzeichen sind so Schlüssel, Schlüssel zu Sprachtexten, wie Spiegelzeichen, Spiegelzeichen dessen, was als ,Ich‘ durch das Auge blickt, und damit: was im Auge des Ichs als dessen Milieu arbeitet. Sie sind Zeichner für (Sprache) und also simultan Zeichen von (Menschen).“
Mit dieser Feststellung beginnt Claus aber auch behutsam von der konkreten Dichtung, die in Deutschland vor allem durch das Werk Eugen Gomringers an Einfluß gewonnen hatte, abzuheben. Dieser hatte, unterstützt von Max Bill, schon 1954 die einebnende Syntax verworfen, die Neuentdeckung des Wortes als Akt einer ideologischen Befreiung gefeiert und die baldige Geburt einer Universalsprache in Aussicht gestellt. Gomringer stellte sich dieses Konstrukt durchaus nicht autonom vor, wenn er bemerkte, „… dank ihres produktiven charakters ist sie wissenschaftlich interessant. sie kann heute, bewußt gesellschaftlich bezogen, von direktem einfluß auf neue kulturelle entwicklungen sein. gesellschaft ist gemeinschaft, beruhend auf sprachlicher kommunikation.“ Aber Claus nimmt bald diese Idee der Kommunikation aus dem Ziel heraus, das er höher schrauben will und setzt sie als Mittel – fraglos als höchst wichtiges Mittel – zurück. Außerdem tauscht er die Batterien aus. Der Inhalt der Kommunikation ist nicht mehr die Sprache, sondern ein Gesellschaftsprojekt – die Vision von Freiheit und Kommunismus.
Bewegung von Sprachpartikeln
Zwei Seiteneinstiege in die ,Konkrete Poesie‘ gaben Claus gleichwohl wichtige Aufschlüsse über die Bewegung von Sprachpartikeln im Raum. Es waren die Lautdichtung und das Typoskript. Claus entdeckt sie parallel zu anderen Autoren, greift aber auf die gleichen Quellen zurück (Futurismus, Dadaismus). Die Tonbandexperimente, die er mit primitiver Technik und einer Trickschaltung 1959 in der Annaberger Wohnung als Mehrfachüberspielung inszenierte, haben die übereinandergeschichteten Schriften seiner Sprachblätter vorweggenommen, wahrscheinlich unbewußt – aber innerlich motiviert.
Überlagerungen konnte man auch mit der Schreibmaschine erzeugen. Claus experimentierte mit Drehungen und Durchwanderungen von isolierten Vokalformen. Nach einem bestimmten Programm entworfen, treten sie von Außen in die Seiten hinein, bauen sich auf und wieder ab und verschwinden an den gegenüberliegenden Rändern. Da Claus transparente Durchschlagpapiere mitbenutzte, kam es bald zur Überdeckung der Durchschläge („Letternfeld: Kreisprobe einer Figur in je zweimal zwei Richtungen“, 1958/60). Das war eine Vorwegnahme konzeptioneller Strategien. Vor allem hatte sich Claus ein dialektisches Verfahren gegeben, das er in den Sprachblättern der folgenden Jahre diffizil weiterführte. Als erster trennte er den Einzellaut aus dem syntaktischen Zusammenhang.
Viele dieser Experimente entwickelten sich unabhängig in verschiedenen Ländern. Sie kündeten von jener grenzüberschreitenden Energie der jungen Generation, der der tabuisierte Gebrauch der Sprache, Musik, Malerei mit ihren ideologischen Hinterhalten überdrüssig erschien. Franz Mon widmete 1960 der Kooperation der Künste eine beeindruckende Dokumentation movens. Sie vereinte die Avantgarde der 60er Jahre – Claus einbegriffen.
Die Zeichnungen und grafischen Blätter, die seit den 60er Jahren entstanden, lassen sich grob in zwei Blöcke teilen: experimentelle Psychomotorik von Selbstwahrnehmung im Schreibvorgang; Vorwegnahme von Geschichte. Der ersten Gruppe stehen die kontinuierlich weitergeführten Lautprozesse zur Seite. Der zweite Block schließt die experimentellen Erfahrungen bei der Annäherung an einen generalisierten Zustand der Welt ein. Aus solchen ,Antizipationen‘ ragen drei zyklische Werkgruppen heraus: Geschichtsphilosophisches Kombinat (1963–65), Aurora (1976), Aggregat K (1986/88). Claus nennt sie Aggregate und Kombinate, weil er sie als Energiefelder in sein Werk schaltet und besondere Techniken der Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen innerhalb der Gruppen und Untergruppen anbietet. Diese hier nicht näher zu beschreibenden Wahrnehmungsangebote reflektieren das vielschichtige Quellendenken (Literatur, Linguistik, Philosophie, Kunst) und die Offenheit gegenüber Veränderungen, die der Betrachter/Leser von selbst erzeugen soll. Während das Geschichtsphilosophische Kombinat und die Aurora die Bewegung politischer Klassen sowie deren Ankunft in der humanen Zukunft sieht, widmet sich das Aggregat K eher einer unmittelbar unter dem politischen Handlungsangebot liegenden Selbstermannung des Menschen als Naturwesen zwischen Bakterio-Logik, Stirnhirn, Sonnengeflecht und Aufbruch ins Zielgebiet ,K‘.
Das begriffliche Destillat dieser Zyklen mag idealistisch und trocken, die Wirkung beschränkt erscheinen. Die Kombinate sind alles andere als kollektive Umsturzprogramme, eher Träume als rhetorische Floskeln. Sie vermitteln die verlorengegangene Duplizität von Erfindung und Humanitas, binden sie ein in die Sensitivität des Zeichnens und die Konzeptualität räumlichen Denkens. Eindimensional ist letztlich nur die Konsequenz, daß mit der Ankunft zugleich ein Ende erreicht ist und ein Denken hinter dem Denken revolutionärer Selbsterfüllung vor dieser Endlichkeit kapitulieren muß. Aber auch da weiß er eine Antwort: Sterben ist eine andere Form von Leben.
Solidarität und Mitverantwortung
Im Gehäuse ist für Claus die Welt nicht immer die gleiche. Die Vernetzung ,revolutionärer‘ (zielsetzender) und ,evolutionärer‘ (zielerfüllender) Vorgänge im Aggregat K vermindert Gedankensprünge, wie sie in älteren Zyklen zwischen politischem Anspruch und gestalteter Allegorie noch hervortreten. Die Versuchung, politisches Leben als Künstler mit praktischen Schlußfolgerungen zu verbinden, ist einer grundsätzlicheren Sensibilisierung für Solidarität und Mitverantwortung gewichen. Nicht zufällig verändert sich auch der Gestus des Zeichners. Die Hand, die durch die Wagenburg des Bauernführers Thomas Müntzer hindurchgreift (Geschichtsphilosophisches Kombinat), hat die Waffen abgelegt. Karate – die Kunst der waffenlosen Hand, der spontane Ausbruch von Willen-Energie – hat den Platz eingenommen. Das Erwachen greift sich den Augenblick.
Dem gehenden Fuß geht der Boden auf: als Zeichenimpulsfolge. (Aggregat K)
Denkschrift setzt den durchlässigen Schriftträger voraus. Beim Aggregat K ist die Transparenz durch Faltung ersetzt, bei den Radierungen zu Aurora durch ein Foliendeckblatt. Der erste ,doppelseitige Schreibakt‘ gelang im November 1961. Claus notierte in sein Tagebuch:
Ein Glückstag gestern: die Geburt des ersten Wesens aus Vorder- und Hintergrund, aus Vorder- und Rückseite! Phantastisch die Perspektiven der Entfaltung dieser ,okkulten‘ Methode! Einbau der Zeit als konstituierendes Moment: von der anderen Seite wächst sie plötzlich heraus: die Janus-Figur, Luftwesenheit: verschwindet wieder – aber bei all dem: bleibt sichtbar.
Wenig später experimentiert der Künstler mit Celluloid und Glas. Sein Objekt mit neun bezeichneten und zusammengefügten Schriftgläsern, dem er den Untertitel „Gedankenvegetation in wiederholter Spiegelung“ gibt, ist der letzte Schritt vor der Öffnung seines Schreibens in die Natur der politischen Gesellschaft. Text-Hermetik und „Reflexgeometrie“ (Claus) legen auf den ersten Blick einen Vergleich zu Marcel Duchamps La Mariée mise à nu par ses célibataires, même oder zum achtteiligen Plexigramm von John Cage Not wanting to say anything (1969) nahe. Dem widerspräche schon die Einstellung von Claus, der Mechanik und Kommunikation nicht resignierend am Ende der Beziehungen, sondern als Prinzip einer positiven Enthüllung, einer Erhellung sieht.
Bewußtheit des Anorganischen
Die drei Kombinate erhellen auch den Wechsel der Arbeitsweise. In den 60er Jahren prägt er die ,Rückwärtigen Landschaften des Ichs‘ – wie er es selbst nannte – mit seiner subtilen Schriftnatur, die ihrerseits zwischen Außen und Innen, Psyche und Vorsatz, wirklicher Landschaft und kristallinen Kondensaten einer Bewußtheit des Anorganischen vermittelt. Hände als „Hirnfigur“ oder „Handbewußtsein“ (Claus), in Schriften gebettete Augen, zuweilen auch Tiersymbole geben dem Dialog ein ,Gegenüber‘. Es ist mehr Typus als autobiografisches Utensil. Zuweilen übernehmen die Köpfe die Aufgabe einer Marionette, die sich im Feedback mit dem Betrachter dirigieren läßt. Gleichzeitig können sie Modell sein, an deren aus Schriften gezogenen Konturen die Dramatik ihrer Existenz kenntlich werden soll.
Um 1970 brechen die geschlossenen Schrift-Denk-Systeme auf. Pinsel und Tusche markieren neue emotionale Akzente. Die Homogenität zerfällt. Vorder- und Rückseiten erhalten eine stärkere Spannung. Zuweilen erscheint eine mentale Topografie, die Straßenkarten ähnelt. Sie lokalisiert Hirnarbeit oder Begegnungen an historischen Kontaktpunkten. Über die grafische Vervielfältigung oder Reproduktion soll Kommunikation tatsächlich wahrgemacht werden. Die Zyklen Aurora und Aggregat K erscheinen als Radierungen und Offsetdrucke.
Seit 1982 entschließt sich Claus zur ,Karate-Politik‘, zum friedlichen Diskurs mit Willensenergie. Affektzeichen, mit und ohne Textkern, schichten sich wieder übereinander, die Augenformen werden stärker, somit bewußter, die Kontemplation wird attackiert.
Suchen mit dem Kopf, mit den Augen: sie geben ihm immer wieder Halt, wenn er Gefahr läuft, sich zu verlaufen.
Schockierend und spröde wirken auf den ersten Blick die Offsets des Aggregat K. Rückkehr zum Informel. Doch die Bewegung der Formen wird zum Umbruch der Existenz.
Der Einfluß Steiners war schon verblaßt, als Claus in den großen geschichtlichen Bogen trat, mit dem Ernst Bloch das ,Einst‘ mit dem ,Einst‘ verknüpfte – das Gewesene und das Werdende. Damit blieb Raum für kommunistische Kosmologie, ohne die astralen Lichtzeichen ausschließlich für die geistige Welt des Menschen verantwortlich zu machen. Die Mysterien der Geschichte werden jetzt zur Geschichte der Klassen und ihrer Kämpfe. Am stärksten faszinierte Claus aber, daß er in Bloch eine adäquate Antwort auf seine Hypothese des Willens als Elementar-Energie bekam. Er bekam sie über Paracelsus: ,Archeus‘ als Subjekt der Natur entfaltet seine ganze Wirkung im Einklang mit dem Subjekt und mit der kosmischen Naturkraft ,Vulkanus‘. Damit bekommt Claus einen Hinweis, den er nicht vergessen wird: die Geburt der Bewußtheit als gemeinsames Werk von Mensch und Natur. Bei der Arbeit an der Bloch gewidmeten Zeichnung „Embryo-Blick aus Gestein; Experiment auf die Archeus-Vulkanus Kontaktfrage hin“ (1965) schreibt der Künstler:
Das Blatt ist der Intention nac, ein vorversuchendes Experiment, das sich auf ihren Richtungsakt ,Wille und Natur die technischen Utopien‘, besonders den Abschnitt ,Elektron des menschlichen Subjekts, der Willenstechnik‘… hinbewegt.
Verhältnis mit der Natur
Der vielleicht nur an der Peripherie bewußte, dennoch kenntliche Einfluß der erzgebirgischen Landschaft in den Begriffen wie Material, Materie, Schichtung, Reformation wies schon Mitte der 60er Jahre auf ein solidarisches Verhältnis mit der Natur. Die ,Resurrektion‘ der Natur wird mit deren Existenz in der Gesellschaft zusammengesehen. Gründe für die ökologische Krise erkennt Claus im mangelnden Problembewußtsein und den globalen Besitzverhältnissen (Ausbeutung der Ressourcen). Das Schriftblatt ,Allegorischer Essay für Albert Wigand‘ erläutert das Blochsche Paradigma von der „Naturalisierung des Menschen durch die Humanisierung der Natur“ – lange bevor eine Grüne Partei existierte.
Es gibt in diesem Werk vielleicht keinen Nenner, auf den sich alles gründen und mit dem sich alles erklären ließe. Eine einzige Gestalt liefert letztlich den Beweis. Eine Gestalt im Kunstraum des verlorenen Schreibens. So sehr auch die Prognosen Schicksalsfragen der Erde werden – sie kehren zum Ursprung zurück. Diese Gestalt und dieser Ursprung ist der Künstler selbst. Ob die Idealzivilisation ,K‘ – mit dem Ende der Ur-Gesellschaft erloschen, durch Demokratieverlust, Sozialspaltung und Kapitalisierung im 19. Jahrhundert gescheitert – noch zum Paradies des nächsten Jahrhunderts erklärt werden kann, ist umstritten. Der Zeitgeist wird sie so oder anders sehen. Mit purer Realität verdrängen kann er sie nicht.
In dem Sprachblatt über „Antikontemplative Meditation“ tanzen eine Sprachfigur und ihr Schatten über einer Kugel, eine Metapher, die man als Schlüssel zum Werk verstehen kann. Das Bewegende ist die Bewegung zum Ziel. Alle destruktiven Erfahrungen unseres Jahrhunderts, denen sich die moderne Kunst stellen muß, haben dieses Ziel atomisiert, in Partikel einer individuellen Mythologie zerlegt. Ihre Rekonstruktion als Welt-Vernunft scheint undenkbar zu sein.
Für Claus spricht, daß er sich dieser Resignation entzogen hat, sich mit seiner Denk- und Triebenergie entgegenstellt – durch die schreibende Hand hindurch:
Es ist in seltenen Augenblicken, als entwerfe sich in einem solchen erotischen azurenen Erregungsfeld eine andere ,chymische Hochzeit‘, eine Ahnung vom Ineinanderströmen des Getrennten unter dem Zeichen des roten Leu: klarleuchtender papillarliniger Ströme: Verwandlung in total Neues.
Vom Tod her leben
Das Denken des Sterbens kann Vorahnung letzter Angst wecken, aber auch ihres Vergehens. Anderes Existenz-Gefühl entsteht: Zwischen Nicht-Dasein und Nicht-Dasein.
Der Versuch, aus der Gewißheit des Todes zu leben, gibt Halt. Intensivere Bewußtheit. Distanz zu sich selbst.
Die Wirklichkeiten, mit denen ich biologisch, psychisch, sprachlich, sozial in Wechselwirkung bin, erscheinen aus fremdem Licht. Von ihm her bestimme ich mein Verhältnis zu ihnen, zu mir neu.
Klaus Werner, Ostragehege, Heft 1, 1994
– Carlfriedrich Claus (1930–1998), weltbekannter Lautpoet und Künstler von Sprachblättern, mit dem ich seit 1970 eng befreundet war. Im Verlag Gerhard Wolf Janus press erschienen Zwischen dem Einst und dem Einst mit den Reproduktionen seiner Grafikmappe und seine Sprachblätter Aurora. Vergrößerungen der Aurora-Blätter sind im Reichstagsgebäude zu sehen. Siehe auch: Nun schauen mich immer mindestens vier Augen an. Der Briefwechsel Carlfriedrich Claus / Gerhard Wolf / Christa Wolf 1971–1989“, Annaberg-Buchholz, Chemnitz 2018. –
Eine Rede über Carlfriedrich Claus zu halten, über sein Werk, über ihn selbst als Person, sein Leben als Experiment, zumal vor einem Kreis von Leuten, die ihn gekannt, mit ihm gearbeitet haben und ihm Vor-Bildliches verdanken, erscheint mir leicht und zugleich immer schwieriger.
Leicht, weil wir alle immer wieder bezaubert, wie auch in dieser Ausstellung, vor seinen – man muss es jetzt schon so nennen – unsterblichen Arbeiten stehen, uns in sie hineinbegeben, sie zu verstehen glauben oder einfach von ihnen fasziniert sind.
Aber warum das so ist, wie sein Werk da vor uns steht und auf welchen differenzierten Grundlagen es eigentlich beruht, wovon es ausgeht, wodurch es inspiriert wurde in eben dieser nun wirklich einmaligen Weise in seinen nahezu unüberschaubaren Dimensionen aus sprachmächtiger Schrift, transparenter Zeichenkunst, angewandter Philosophie, mit dem Körper in Szene gesetzten Lautprozessen – Arbeiten aus einem ganz neuen Zwischenbereich von Kunst, Wissenschaft und Psychologie, wie er von üblicher Kunstkritik gar nicht erfassbar ist – Arbeiten also, um sie ganz schlicht so zu nennen, welche die dis tanz, den dis tanz umschreiben, die hier als Motto der Ausstellung gewählt wurden – vieldeutig in der Begriffswelt von Claus – Distanz nicht als unerreichbare Ferne ins Utopische, das es bei ihm gibt, sondern, wie er es empfand, als Tanz zu sich selbst – ein Dort und ein Hier – Innen- und Außenwelt – Zwischen dem Einst, das war, und dem Einst, das kommt, als Versuchsfeld, und der Schreiber zugleich Künstler (so hat sich Claus nie genannt), ein aus Erfahrung Wissender und in unerfahrene Bereiche, ins Geheimnisvolle, sich hineinbegebender, auch den unbewussten, intuitiven Kräften vertrauender Schamane – für Claus alles keine Gegensätze, sondern sein Versuch, diese divergierenden Elemente in Schrift und Zeichen aufs Papier zu bringen, sie gegenständlich mit Händen und Füßen auf die Blätter des Buches Aggregat K zu bannen, also festzuhalten, und ihnen doch durch die Blattfolgen möglichst nichts von ihrer Bewegung zu nehmen. Ihr seht, wie schwierig es ist, schon diese sinnfälligen Seiten auch nur annähernd zu beschreiben, zu fixieren, was er Gespräch-Sein nennt, Prozess von dem, „Was bleibt“ – denn so heißt das letzte Blatt des Aggregats K – wie Claus es im Entwurf nennt als „Versuchsanlage Kommunismus“ – eine „materiale Kommunikation“, Klaus Werner spricht von einem „kosmologischen Traum“.
Es ist schwierig. Und wir alle sind bisher bei dem, was über sein Selbstexperiment gesagt, erläutert, erklärt wurde, noch kaum über das hinausgelangt und darauf angewiesen, was er uns selbst darüber in Tagebuchseiten, Aufzeichnungen, Selbstinterpretationen, Gesprächen und Briefen (es gibt 19.000 bisher gesichtete Stücke) an die Hand gibt. Denn seiner lebenslangen Arbeit nahezukommen, die er sozusagen von Kindesbeinen an – er bemühte sich mit vierzehn um das Hebräische – mit unbeschreiblicher Intensität betrieb, heißt ja nichts anderes, als sich mit allen Sach- und Wissensgebieten zunächst einmal vertraut zu machen, die er zurate zog; seine profunde Bibliothek, man spricht von 6.000 Bänden (und das ist dem Modemagazin art doch eine Mitteilung wert), wird gerade erst erfasst. Sich also in die schwierigen alten Sprachen hineinzulesen, ins Hebräische, Arabische, Chinesische und die dazu gehörige Literatur: Thora, Bibel, Kabbala, Koran, von seinen Schutzheiligen der Neuzeit Paracelsus, Thomas Müntzer, Valentin Weigel, Eulenspiegel, Jacob Böhme, Marx, Lenin und nicht zuletzt Ernst Bloch zunächst einmal abzusehen, es wird, was er sich aneignete und worüber er ziemlich souverän verfügte, von einem Interpreten allein gar nicht zu leisten sein. Sein Werk, recht verwaltet, wäre ein Arbeitgeber für eine Reihe von Kennern, ich glaube, auch darüber hätte er sich amüsiert.
Ich habe einmal an einem kleinen Beispiel versucht darzulegen, wie bei Carlfriedrich Claus direkte körperliche Befindlichkeit in unmittelbarem Zusammenhang steht mit dem Prozess geistiger Verarbeitung und Ausführung, wie sich beide Komponenten gegenseitig bedingen, wechselseitig ergänzen und zu der Ausführung gelangen, die dann das Epochale seiner Werke ausmacht, weil Körper und Geist in seinen künstlerischen Entwurf eingehen (hierin sehe ich sein großes Beispiel für jede authentische künstlerische Arbeit, ganz unabhängig von ihrem Ergebnis).
Er sitzt an einem Blatt seines Zyklus Aurora, setzt wie selbstverständlich hebräische Schriftzeichen als Metaphern neben mit ihnen korrespondierende chinesische, sprachlich und zeichenhaft verdichtete Kürzel für die souverän abgesteckten Koordinaten eines nur ihm vertrauten welt- und zeitumspannenden Netzwerks, das wiederum neue Affekte auslöst, Bewegung vom Innen heraus, logische Folge wie in einem Vollzug. Etwa wenn er dazu dann in der „Geschichte der Maya“ auf die Stelle stößt:
Sie schliefen nicht, aufrecht warteten sie. An Herz und Nieren
griff die Hoffnung auf Morgenröte und Licht –
Als ich, solchen mir zunächst rätselhaften Beziehungen nachgehend, nun sämtliche Stellen in der Bibel nachschlug, in denen Morgenröte aufleuchtete, stieß ich schließlich in den Psalmen, Psalm 139, Vers 9–13, auf die Stelle, die mit der weit entfernten, in Distanz stehenden „Erkenntnis“ der Maya seltsam übereinklingt, wenn es heißt:
Nähme ich Flügel der Morgenröte […].
Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die
Nacht auch Licht um mich sein.
Denn auch Finsternis nicht finster ist bei dir, und die
Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht.
Denn du hast meine Nieren bereitet […].
Carlfriedrich Claus, in seiner Stube in Annaberg-Buchholz, mitten im Arbeitsprozess, das war 1975, von Exmittierung aus der Wohnung bedroht, man lässt ihn sogar wissen, er möge doch das Land verlassen (wir haben das im Buch zu Aurora mit dem Briefwechsel zwischen Claus und Rudolf Mayer dokumentiert), schreibt, in rigider Selbstbeobachtung geübt, eben von einer Nierenkolik heimgesucht, in einem Brief vom 18.4.77 an uns:
Im Rückblick erscheint das Phänomen ,Schmerz‘ in eigenartigem Licht: es hatte die Tendenz, das Bewusstsein aufzusaugen. Der Sog jener verkrampft zuckenden Stelle hatte ungeheure Kraft. Es schien, als würden Verbindungen im Bewusstseins-Koordinatensystem zerrissen… Verzögerungen, ja Unterbrechungen zwischen Impuls, Intention und Realisation eines Gedankens traten ein. Man wollte etwas sagen oder schreiben, konnte es aber nicht. Zunge bzw. Hand führten die gedanklichen Impulse nicht mehr aus. – Naja, das sind so Dinge, Vor-Erfahrungen. – […] Deine Gedankengänge, liebe Christa, zu ,Die Galgen werden grünen‘ trafen gerade während der Zeit der rezidivierenden Kolik ein und leuchteten über den Schmerzen wunderbar sanft.
Die hebräischen Schriftzeichen aber auf dem Blatt, das den grünenden Galgen zeigt, liest Claus in dem Sinne atheistischer Kabbalisten als den Satz „Unser Körper grünt“ und erläutert die chinesischen Zeichen mit einem Zitat des Dschwang dsi: Alle Dinge und ich sind eins.
Claus wollte ja, dass sich die Betrachter seiner Denklandschaften in sie hineinbegeben, also sich ihnen selbst mit ihrer Existenz konfrontieren, indem sie ihren Spuren nachgehen und sich dabei selbst stärker empfinden und zu sich finden. Sicher ein utopischer Wunsch, so wenig erreichbar wie die große kommunistische Utopie seines Gesamtwerkes.
Dass die Transponierung der „Aurora-Sprachblätter“ zum großen „Experimentalraum Aurora“ im neu gestalteten Reichstag in Berlin zu sehen ist, ist gewiss ein gutes Omen, und vielleicht ist es für eine ihm gemäße Präsentation noch zu früh (kein „Früher politischer Morgen“, um eine seiner Blattbotschaften zu zitieren) – zumal in diesem Ambiente, wo schon die CSU sich darüber beschwerte, dass in Günther Ueckers Meditationsraum für alle Weltreligionen das brave Kruzifix fehlt, das bei ihnen in Bayern in jedem Klassenzimmer hängt. Was würde sie zu den Signalen dieser Aurora sagen, wenn sie in ihnen zu lesen verstünden?
Sich in seine kommunistische Utopie hineinzubegeben und wie Carl Vogel zugleich zu erkennen, dass hier auch ein „großer Konservativer“ am Werke ist, der „hohe Werte in reiner Form“ bewahrt, weil diese Utopie Rückbesinnung und Vorausschau zugleich umfasst in einem über sein Jahrhundert weit hinausreichenden, kaum erschlossenen Daseinsentwurf, der ein dem Menschen würdiges Leben verheißt – es bleibt uns als sein Vermächtnis, dem wir nur schwer nachkommen werden.
Wir können bescheiden sagen, wir sind dabei gewesen und wollen das unsere dazu tun – und auch eine so bemessene Ausstellung tut es auf ihre Weise –, den Kosmos des Carlfriedrich Claus zu erforschen und für uns lebendig zu machen – ganz in unserem eigenen Interesse und damit wohl auch in seinem Sinne.
Gerhard Wolf, Vortrag zur Ausstellung im Fritz-Heckert-Haus, Chemnitz, am 6.9.2000, aus Gerhard Wolf: Herzenssache. Memorial – Unvergessliche Begegnungen, Aufbau Verlag, 2020
– In Memoriam Carlfriedrich Claus. –
Kurz vor seinem Tod hatte ich die Gelegenheit Carlfriedrich Claus kennenzulernen. Es war nach der Eröffnung seines Lautaggregates im Chemnitzer Museum. Der Raum um seine Kunst und der Raum um seine Person. Seine Kunst ist Dokument eines Menschen, der seinen Weg ging, unabhängig von der politisch realen Gestalt der Utopie. Das heißt, dass er das, was sie verhieß, nicht aufgab oder preisgab, wiewohl er um ihre selbstzerstörerischen Momente unbedingt wusste. Umspannte ihn in der DDR ja ein gesellschaftspolitisches Scheitern, das autoritäre Züge trug. Und das selbst von einer Reinheitsvorstellung getragen war, die lange in Ideologie umschlug.
Vielleicht erzeugt jede Gesellschaft eine Vorstellung des reinen Raumes, als den sie sich dann selber begreift. Das wäre ihr autoritäres Moment.
Auf den ersten Blick kann einem das auf den Clausschen Blättern Dargestellte als Gewirr erscheinen. Undurchdringlich. Im konventionellen Sinn unverstehbar vielleicht. Wir haben gewissermaßen unsere Sinnfilter übergestülpt. Übergestülpt bekommen. Um darunter wieder Freiheit zu erkennen, hilft mir, mich in die Bilder zu denken. Und wieder aus den Blättern heraus in ein Allgemeines.
(…)
7 Carlfriedrich Claus
Auf den ersten Blick scheint es, als suche Claus im Reizmüll nach Lauten, die nur noch entfernt an Worte erinnern, nach Zeichen, die einmal Buchstaben gewesen sein mögen.
Seine Sprachblätter und Lautaggregate präsentieren den Abfall, so scheint es, das nicht zur Information Gewordene und das über sie Hinausgewucherte. Diesen Wühlereien gibt er den Namen Exerzitien. Nicht unbedacht wählt er diesen der mittelalterlichen theologischen Praxis entstammenden Begriff, dem auch etwas Militärisches anhaftet.
Vor der Erfindung des Buchdruckes wurden Schriften durch Abschrift vervielfältigt. Die Mönche, die damit betraut waren, hielten sich sklavisch an die Buchstaben des Urtextes. Merkwürdigerweise zeugte dieses Tun einen doppelten Effekt. Die Schreiber nahmen die Texte auch körperlich auf und versahen sie dadurch fast unmerklich mit dem Stempel ihrer eigenen Individualität.
Mit jeder Kopie der Kirchentexte entstand so paradoxerweise ein Unikat.
Im Gegensatz zur maschinellen Vervielfältigung konnte die Physis des Kopisten nicht eliminiert werden. Nicht auszuschließen ist, dass Schreibfehler zu Bedeutungsverschiebungen geführt haben. Erfahrung, die über die Texte hinausgeht, war in diesem Prozess das Unerwünschte aber schlechthin Unvermeidliche.
Dennoch sind für uns die in die Kirchenschriften eingegangenen Erfahrungen kaum nachvollziehbar. Nur eine Ahnung davon können wir uns erarbeiten.
Während meines Philosophiestudium habe ich mich an die zwei Jahre mit Hegeltexten herumgeschlagen, ohne auch nur einen Schimmer davon zu bekommen, was der Autor im Sinn hatte. Alle Einführungen in Hegels Werk erwiesen sich angesichts der Originaltexte als nutzlos.
Erst als ich damit begann, einzelne Passagen der Phänomenologie des Geistes mit Hand abzuschreiben, konnte ich mich dem Text verstehend nähern.
Claus geht es nicht um Textexegese. Er will uns und sich einen Erfahrungsraum öffnen, in dem die semantisch unauffälligen Momente von Sprache beredt werden. Dabei missachtet er jegliche Regel des korrekten Schriftbildes.
Lesbarkeit im herkömmlichen Sinne ist nicht Intention seines Schreibens, Verstehbarkeit ist nicht Intention seines Sprechens.
Klang und Bild als symbolhaft-diskursive Momente der Kommunikation werden zerstört. „In den Auflösungen und Unterbrechungen erhalten sich jedoch die Möglichkeiten für neue, bisher nicht bedachte Bezüge und Ausrichtungen. Ein statisches bloßes Wahrnehmen solcher Zerstörung kannte einen vernichten; ein handelnder tätiger Realismus wäre dagegen auf eine andere ,Wahrgebung‘ hin gerichtet“, so Claus. Dass er sich dazu der arabischen, hebräischen und asiatischen Traditionen bedient und sie mit der europäischen verbindet, liegt nahe. Asiatische und hebräische Schriftzeichen werden in andere Sinnzusammenhänge übersetzt und somit auch dem verständlich, der die Originalsprachen nicht spricht.
Claus unterscheidet sich von einem Verrückten, indem er neue Sprach- und Bildsysteme entwirft.
Diese universalisieren hinsichtlich einer individuellen Aussage, ermöglichen eine nonverbale Kommunikation des Betrachters mit dem Gebilde, ermöglichen Erfahrung und Verstehen. Im Lautprozessraum, den Claus 1995 im Städtischen Museum Chemnitz installierte, konnte der Besucher durch Bewegung im Raum über Bewegungsmelder die von Claus vorproduzierten Lautprozesse beeinflussen. Er konnte sie beeinflussen, aber nicht steuern.
Beobachtete man jene Besucher, die auf dieses Angebot eingingen, erinnerten ihre körperlichen Aktionen an Tanz. Ebensolche Bewegungen vollführt der Gedanke bei der Betrachtung clausscher Grafik. Schrift, ausdauernd verdichtet, bis zur Unkenntlichkeit geschrieben, gibt den Blick frei auf etwas Neues.
Denken als Sprache und Schrift bildet Landschaft.
Jan Kuhlbrodt, aus Jan Kuhlbrodt: Schrift unter Tage. Essays und Kolumnen, Gans Verlag, 2023
CARLFRIEDRICH CLAUS
Inzest im Sado-Schuppen.
Die Eicheln blank, mit Filzlis Gesichter drauf
gezeichnet und lustigen Hütchen drangebammelt,
von der Eisbude gegenüber (Na Girls, der da doch
wo ihr ihm dauernd den schnuckligen Italosüßen
beim Hintern grabschen tut, den find ich gut.
Wies Mädel mit dem Korb kommt grinst Bätzle
Ballermann, die Flinte blutig und die Augen groß wie
Lollis und lässt sich von der Alten einen abkauen. Die
beiden Jagdhunde Lutsch und Zutsch den Rock gerafft
und ihre langen dünnen Schwänze grob in den Spalt ge
kachelt. Warum habt ihr schon angefangen, fragte das
Mädchen und wirft den Korb wüten gegen die Wand.
Da wackelt der Vorhang aus durchsichtiger Seide in Rosa
von Braun
Peter Wawerzinek
binde der räume
nach carlfriedrich claus
er starrt
ach claus hieß er stets
dort schönes dem
fliessen des
spiel gen
ergeben von vorn
du ferne flut nun
erden dir bäume
befreiung klar
lettern ab
da meuterei
oder zwei argumente
kies reden
orko sonnen row
und
zu elendpflichten
minnegedicht am leib
faktor bruch: durch feuer
spie nel
phen lys
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leid aus sollte
von
lust minder lust
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fall denkt munter
lohn vom du
moment wo klarmund
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nun er
wurde ton
vom atem sonne genug
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die senker
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und
dich pelzen fluten
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faktor bruch durch feuer
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lust minder lust
von
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lohn vom du
moment wo klarmund
der mauern diebe
nun er
wurde not
vom osten name genug
Michael Lentz
Am 20.11.2012 war in der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik eine Legende der Avantgarde zu Gast in der Literaturwerkstatt Berlin: Franz Mon. Mit Michael Lentz sprach er über sein Werk.
Karl Krolow: Orpheus ohne Leier
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1986
Jörg Drews: „Der Sprache schlaue Fallen stellen“
Stuttgarter Zeitung, 6.5.1996
Harald Hartung: Staunen über die vielen Wörter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1996
Karl Riha: MON ist sein NOM
Frankfurter Rundschau, 6.5.1996
Sandra Kegel: Der Entfesselungskünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2016
Michael Lentz: Im Käfig der Freiheit
Süddeutsche Zeitung, 5.5.2016
JF: Wort-Feinkost zum 90. von Franz Mon
Buchmarkt, 25.5.2016
Claus-Jürgen Göpfert: Das Haus aus Sprache, an dem er lange baut
Frankfurter Rundschau, 3.5.2021
Christoph Schütte: Das Gras wies wächst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.6.2021
Franz Mon beim Festival PROPOSTA 2004 in Barcelona.
Jan Kuhlbrodt: An Claus denken (Aurora)
Carl Friedrich Claus – Menschliche Existenz als Experiment.
Carlfriedrich Claus und seine Sprachblätter im Fernsehen der DDR 1975.
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