DIE ZWEI EBENEN DES GEDICHTS
Erinnern wir uns der Selbstverständlichkeit, daß die Leseordnung poetischer Texte anders ist als die von Mitteilungstexten. Während diese ein nur schwach widerständiges Ineinanderschachteln der aufeinanderfolgenden Aussagegruppen zulassen und im, sei es auch zögernden, Fortgang des Lesens sich hinreichend darbieten, löst sich bei jenen zunächst einmal die Folge der Gruppen, prägt sich das Einzelbild, die Einzelgruppe hart isolierend hervor, stellt sich neben frühere und spätere und verlangt für sich, was dem ganzen Text natürlich gegönnt wird, zunächst nur als sie selbst wahrgenommen zu werden. Auch intellektuell stark durchgegliederte Texte reißen, wenn sie mehr bieten wollen, immer wieder ab wie Wassertropfen vom Rohr.
Wie groß kann oder muß eine poetische Gruppe sein? Ein Satz – gewiß. Manchmal aber schließt sich der Tropfen schon um ein, zwei Laute, die Wörter mit sich führen – genaue erregende Gebärde, die Lippen und Zunge miterleben während der Artikulation, ein Skelett im Treibsand des Vokabelsinnes, das mich plötzlich erinnert. Auf das allein es vielleicht ankommt. Schon die Geste einer kleinen Lautfolge kann genug sein, kann das Gedicht sein. Ein epigonaler Lettrismus vergaß nur, daß Gebärden sich nicht unvermittelt setzen lassen, daß sie Zusammenhang, einen Hintergrund nötig haben, damit ihre Formalität zur Leseart wird. Das kann, wie es Raoul Hausmann tut, durch begleitende Mimik geschehen. Das kann der Sinn der Vokabeln mitbringen, in denen die gestischen Laute stecken. Es kann durch den Bedeutungsstrom geschehen, der sich in uns erinnernd bewegt – zumeist kaum erreichbar, im Tagtraum plötzlich blendend an der Oberfläche. Wenn ihn ein mir bedeutsames poetisches Zeichen berührt, so dient er dem als Kontext; der riesige Stromkreis latenter Bedeutungen, den wir jahre- und jahrzehntelang aufgespeichert haben, schließt sich, und die Blinklichter leuchten ineinander. Die einzelne poetische Figur ist Katalysator jenes nie völlig „vorhandenen“ Ganzen, das wir vermuten, sobald wir uns bemühen, auf der Höhe zu sein.
Zunächst noch einmal zum Lesen: Die Poesie heute reflektiert die eigentümlichen Bedingtheiten der Sprache, des Sprechens selbst. Die Form der „poetischen Gruppe“ stellt sich ein, sobald man auf die Form des sprachlichen Augenblicks acht hat. Die Zeitordnung der ausgeübten Sprache ist nicht das locker sich fortbewegende Kontinuum, wie man angesichts der geschriebenen, der vorbereiteten Aussage überhaupt meinen möchte, sondern Zusammenschluß weniger Elemente um die eine gedankliche Spur, die aus dem Gewirr vieler gewählt wurde. Sprechen geschieht wie die Wanderung eines Scheinwerfers: fleckenhaft und doch ununterbrochen. Die Fleckennatur des gewöhnlichen Sprechens folgt aus der konstitutiven Schwäche unseres Bewußtseins – es ist immer zugleich auch abwesend, abgesogen von im Untergrund hausendem Nichtbewältigtem, Nichthervorkehrbarem. Somnambul bedingt ist auch das Fleckenhafte der poetischen Sprache: Die „kleine Form“, eines Wortes, einer Verbindung, fängt die Aufmerksamkeit ein – nicht weil sie ästhetisch reizt, sondern sie fasziniert, weil sich darin plötzlich mehr vorfindet, als im Kranz meines Bewußtseins vorhanden sein kann. Nichts scheint selbstverständlicher als meine Rede, und doch stürze ich in die dunkle Grube eines Wortes, das ich schon immer zu kennen glaubte. Ein Augenblick winzigen Schreckens bildet den poetischen Augenblick, ja man wird sagen können, die poetische Gruppe ist die sprachliche Fügung, die uns mit dem, was wir „nicht wissen wollen“ und was uns dennoch nächstens betrifft, in Rapport bringt. Als Bewußtseinswesen haben wir die heteronomen Ordern, die ständig auf uns gerichtet sind und in Krankheit, Affekten, Tod sich von Fall zu Fall durchzusetzen wissen, verschalt. In den Pausen zwischen den Verwundungen aber können wir uns herumwenden und uns gerade in Anstrengung des Bewußtseins dem Heteronomen, das schon unserem Keim und jedem Atemzug beigemischt ist, ausliefern. Dies und die Vorbereitung fürs Gedicht ist derselbe Vorgang. Der Eintritt ins Unterschwellige (nennen wir es vorläufig so, mitgemeint ist alles „jenseits der Grenze“) geschieht nicht gegen, sondern mit dem Bewußtsein auf Wegen höchster Wahrheit, einer Wachheit, die sich den Schlaf einverleibt hat. Von ihr hängt alles ab. Während sie eintritt, schmilzt die Konformität mit der Umwelt, die wir zum Leben brauchen, ab, ein Hohlspiegel bleibt, ein Ohr, welches endlich nur noch ein Punkt ist mit Namen Ich. Dieses Ich hat es nicht mehr nötig, sich abzusetzen, es ist mit den Figuren, die dort erreichbar werden, einverstanden, es bewegt sich in deren Gestik mit, ohne sich verlieren zu können.
Die Grenze gegen den Traum kann jedoch nicht scharf genug gezogen werden. Dieser überliefert das Ich dem Getriebe der heteronomen Ordern, setzt seine Selbständigkeit außer kraft. Die Figuren drängen heran und hinweg, sammeln sich um den Ichpunkt und haben ihn doch nicht zum Zentrum. Was geschehen ist, ist auch schon wieder gelöscht, kaum einer Erinnerung fähig in dieser Luft, nur als Impuls, als Provokation an die folgenden Szenen weitergegeben. Der Traum ist reinste Sukzession, wie sie hinfälliger das Wachbewußtsein nicht erleben kann. Das Ich ist Mitspieler, aber einer der schwächsten, es kann nichts aufheben, nichts ansammeln, es ist nur noch ein Rest, alles andere ist „draußen“ in den Figuren der Szene. Dieser Ausverkauf hat nichts gemein mit dem Abschmelzen, aus dem jene „Wachheit“ entsteht. Ein Reiz muß sie einstoßen, einen Einfall provozieren. Es braucht dazu wenig, ein Wort, eine Lautordnung. Nicht jedes Gebilde erweist sich eben als geeignet, die Sympathie ist plötzlich und unmotiviert – tatsächlich freilich auch auf Grund einer Antwort, wie im Traum die Figuren „antworten“.
An dieser Stelle wird die Sprache in ihrem Elementaren wieder hart, frisch, genießbar. Das Urwortstadium scheint zu wetterleuchten, und der Spaß an der bloßen und doch komplexen Vokabel mag dem des Grammatikers Schottel gleichen, der solche Reihen fand: „Raub, Tod, Sand, Scham, Fried, Schlaff…“ oder: „Leder, Luder, Messer, Ohr, Paar…“ Die Wörter waren Gehäuse der Dinge, jetzt sind sie eine neue Art von Dingen selbst, ebenso innig wahrgenommen. Was sie einmal namhaft umfingen, ist mit darin, auch die metaphorische Verfassung, eine Weile abgründiges Entzücken, ist mit eingesunken wie eine der Stadtschichten Trojas. Die verzweigten Ereignisse der Begriffe, Vorstellungen, Metaphern, Assoziationen sind alle mit da, bewirken das Zugleich von Kontur und Diffusion. Davor aber tanzen Lippen, Zunge, Zähne im Artikulieren, vollbringen Gebärden, die erst angesichts jener Bedeutungsaura zu funkeln vermögen und sich doch so reichhaltig anfühlen, als brauchten sie nichts als ihre Sekunde. Und sie bringen aus der Kraft der gestischen Artikulation neuen Sinn auf, gelten plötzlich als Gebilde, als Gegenstände, von Mund und Gaumen getöpfert, die nahezu einer Bezeichnung fähig wären, die jedoch niemand bezeichnen wird, weil sie sich von ihrem Namen nicht unterscheiden lassen.
Alte Freundschaft gilt wieder. Aber sie tönt auf einem Grund, der nicht mit ins Wort, in die Gebärde der Vokabeln tritt, den die Wahrheit als ihren intimen, kurzfristigen Gewinn zeitigt. Gläsern und dunkel (wie „Geist“) fordert er dazu heraus, der sympathetischen Figur eine andere, eine durchaus andere zu gesellen, zu der hin offenbar keine Assoziationsbrücke zu schlagen ist: Und wenn sie zusammengeraten sind, zeigt sich’s, daß nichts enger zusammengehört als das, was nichts miteinander zu tun hatte. Die Formel Lautréamonts fällt uns hier ein. Wir verstehen diese Erfahrung als Äußerung des „Grundes“, dessen Natur dem Tanz auf den Zehenspitzen günstig, zum Salto zwischen den Hörnern des Stiers, zum Versuch an der Grenze lockt. Dessen Natur „Grenze“ ist und sich darin immer wieder darzustellen verlangt. Nur der eigene Versuch kann dich überzeugen, daß dort nicht wahllos alles mit allem verspannt werden kann, vielmehr genaue Sympathien bestehen, die aufzuspüren Sinn des Poems ist. Gewiß, es ist alles mit allem verflochten, und die Sprache ist ein riesiges Netz, von unabsehbaren Bild- und Sinnschüben verfilzt, doch die Konstellationen sind einmaliger, wenn auch vieldeutiger Art, nicht starr übrigens, sondern stillstehende Dramen, die auf das „wache“ Bewußtsein warten, um ihre Geschichte herzugeben (wie der königliche Hof unter den Dornen). Das Bewußtsein bringt seinen Begriff des Ganzen mit, der formend am Fond beteiligt ist; das Ereignis zwischen Entferntem jedoch bezeugt eine Wirklichkeit, die wir nicht zu erfinden vermöchten, obwohl wir mit ihr, ist sie erst einmal aufgewiesen, völlig einverstanden sind.
Alexandrinische Verhältnisse bestimmen unseren Tag, und den Dingen der Umwelt kam die Grenze, die Bruchfläche abhanden, durch die sie entzückten. Noch blieb, oder vielmehr jetzt finden wir die Konkretheit in der Sprache, dem flüchtigsten Wesen. Mit ihrer Hilfe erfahren wir Unmittelbarkeit und Vermittlungen eigener Art, wie jede Zeit die ihren.
Das homöopathische Gedicht genügt. Es wird, krasse Unterscheidung vom Traum, gekennzeichnet durch die Übersicht, das Zusammen- und Zugleichhaben der Elemente, wie es im Hin- und Herwandern entsteht, Grund intellektueller Heiterkeit. Überschüssiges schießt mit ein aus dem Hintergrund des Bedeutungsstromes, bis im Bewußtsein endlich das Gedicht in höherer Potenz da ist, als es die Figuren zuerst ahnen ließen. Die erste Stufe, deren Kristalle aufgezeichnet erscheinen, entstand vor der leeren Membran, über dem dunkel-gläsernen Grund. Hier hatte der Versuch sein Feld. Der Überschuß aber, das Zwischen steht nicht auf dem Papier, es läßt sich nicht mitteilen, entspringt vielmehr jeweils dem Spaß und der Übung des Geistes, Gelegenheit zu bisher nicht gewohnter Selbsttätigkeit des Lesers.
Der vorliegende Band enthält Essays und theoretische Arbeiten aus den Jahren 1957 bis 1969. Bis auf einen sind sie bereits gedruckt oder gesendet. Die Texte wurden für den Zweck dieser Sammlung stellenweise gekürzt, um Wiederholungen zu vermeiden, und hin und wieder ergänzt. Sie folgen aufeinander in der Reihenfolge ihres Entstehens. So zeigt sich die Konsequenz ihrer Fragestellungen. Im ganzen steckt auch die Intention, eine Poetik zu skizzieren, für die es keine Systematik gibt; deren Systematik zwangsläufig fragmentarisch und transitorisch und die nur darum erträglich und akzeptabel ist, weil sie immer auch Element im Vorgang der Produktion ist. Denn Produktion und Theorie sind aufeinander angewiesen, wenn sie sich auch immer wieder voneinander abzustoßen, ja zu zerstören versuchen. Für die Produktion ist die Theorie Helfer zur Innovation, zum Aufgeben des Ausgangspunktes; in der Theorie steckt die Tendenz, den absoluten Text zu entwerfen und zu begründen, der von keiner Realisation mehr erreicht wird und erreicht zu werden braucht, weil das Konzept bereits die Mitteilung ist.
Mit Walter Höllerer habe ich um 1955 den Plan, gemeinsam eine zeitgemäße Poetik zu schreiben, gewälzt. Übriggeblieben ist nur ein Aufsatzkonglomerat in den Akzenten 3/1957, zu dem auch der erste Beitrag dieses Bandes gehörte. Ein zweiter gemeinsamer Ansatz sollte besser gelingen und wurde daher umfassender und zugleich lockerer angelegt. Von den geplanten Jahrbüchern, in denen wir die Kategorien zeitgenössischer künstlerischer Phänomene umsichtig erfassen und aufeinander beziehen wollten, war das erste auch das letzte, movens, 1960 von Max Niedermayer mit verlegerischer Todesverachtung herausgebracht. Daraus sind zwei Beiträge übernommen worden.
Schon bei den Arbeiten für movens war es klar geworden, daß es nicht mehr um eine Synopse oder Synthese verschiedenartiger künstlerischer Disziplinen und ihrer Arbeitskategorien gehen konnte; daß vielmehr die konventionellen Einteilungen am Bersten waren und intermediale Produktionen entstanden, die mit den herkömmlichen Begriffen nicht mehr zu fassen waren. Ausstellung und Katalogbuch Schrift und Bild (Baden-Baden 1963) machten das Ausmaß der Verquickung von Sprache und optischen Medien zum ersten Mal sichtbar. Aus diesem Umkreis stammen die Beiträge „Texte in den Zwischenräumen“, „Zur Poesie der Fläche“ und „Schrift als Sprache“. Die Beschäftigung mit dem akustischen Medium hat sich niedergeschlagen in dem Aufsatz „Literatur im Schallraum“, der hier leider ohne die Tonbeispiele wiedergegeben werden muß. Im Begriff Collage findet die intermediäre Produktion ein hilfreiches Stichwort, das ihre sehr divergierenden Phänomene wenigstens teilweise zu vergleichen erlaubt („Collagetexte und Sprachcollagen“, zu ergänzen durch die „Thesen zum Prinzip Collage“ in Prinzip Collage, Neuwied 1968).
Franz Mon, Nachwort
– Die zwei Ebenen des Gedichts
(Akzente 3/1957)
– Artikulationen
(movens, Wiesbaden 1960, geschrieben 1958)
– Artikulieren und Lesen
(nota, studentische zs. f. bildende kunst und dichtung, 3/1959)
– Theater
(geschrieben 1960/61)
– An einer Stelle die Gleichgültigkeit durchbrechen
(Vortrag auf der Tagung „Lyrik“ des Internationalen Kongresses der Schriftsteller deutscher Sprache, Berlin November 1960. – Abgedruckt in Akzente 1/1961)
– Texte in den Zwischenräumen
(geschrieben 1961. Zuerst abgedruckt in diskus, Enthalten in serielle manifeste 66, edition galerie press, St. Gallen 1966)
– Zur Poesie der Fläche
(geschrieben 1963; abgedruckt in serielle manifeste 66, a.a.O.)
– Schrift als Sprache
(Hessischer Rundfunk 1964)
– Beispiele
(Westdeutscher Rundfunk 1965)
– Text als Prozeß
(Vortrag auf dem 5. Seminar des Arbeitskreises Grafik und Wirtschaft der Gruppe 56 im BDG, Stuttgart, April 1966)
– Literatur im Schallraum. Über phonetische Poesie
(Sender Freies Berlin 1967)
– Collagetexte und Sprachcollagen (Vortrag auf der Tagung Prinzip Collage des Instituts für moderne Kunst, Nürnberg 1968 – erweitert)
– Über konkrete Poesie
(Ausstellungskatalog mostra di poesia concreta, Venedig 1969)
– Nachwort
„Konkrete“ Dichtung kommt, manchen (wohl den meisten) Lesern „abstrakt“, bestenfalls „spanisch“ vor; selbst ein hervorragender, polyglotter Kenner der modernen Poesie – Hugo Friedrich – weiss mit den „Konkreten“ wenig anzufangen und möchte deren „Silbenschutt“ am liebsten in den Abfallgruben der Literaturgeschichte verschwinden lassen. Doch das professorale Anathema kommt zu spät, ist verfehlt. Die konkrete Poesie ist fast schon zwanzig Jahre alt und wird bald einmal volljährig sein, erwachsen. Erste Anzeichen dafür, dass das Abitur der Konkreten bevorsteht, sind bereits zu registrieren: Zahlreiche Autoren ziehen Fazit, beginnen ihre Texte zu sammeln und als Reader – genauer: Als Nachlass zu Lebzelten – zwischen neuen, mondän kaschierten Buchdeckeln herauszugeben (so etwa Achleitner und Rühm, Heissenbüttel und Gomringer). Retrospektive Ausstellungen von Textbildern, Textcollagen, Textobjekten lassen die Vermutung aufkommen, dass heute vorsorglich inventarisiert und gehortet wird, was gestern „ketzerische“ Avantgarde war. Konkretes Texten scheint, keine progressiven Möglichkeiten mehr zu haben, entwickelt sich – die Ausstellung im Zürcher Helmhaus, 1970, hat es deutlich gemacht – zusehends regressiv. Der Weg von Ernst zu Hermann Jandl erschliesst kein Neuland mehr; der faszinierende poetische Distrikt zwischen Jiri Valochs Einworttexten und Andy Warhols undurchdringlichen Wortdickichten („a“) ist abgeschnitten. Hermann Hesse feiert Auferstehung; Erich Segal verproviantiert sich bei Billy Graham und Hedwig Courths-Mahler, um Millionen – Millionen von Lesern, Millonen von Dollars – zu erobern… Es darf wieder erzählt und gedichtet werden! Aber noch hat die Grablegung der konkreten Poesie nicht stattgefunden; dazu ist sie, obwohl von zahllosen Epigonen geschwächt und in Misskredit gebracht, doch zu vital. „Vielleicht“, meint Mon, ein führender Vertreter der Konkreten, „haben sich heute ihre Möglichkeiten erschöpft; ihre Erfindungen jedenfalls gehen ein in die neuen intermedialen Versuche mit Text-Räumen und Hör-Spielen. Dem Verzicht auf die Krücken der konventionellen Syntax verdankt die konkrete Poesie die Simplizität ihrer Texte.“ Diese Texte wirken „als Alternative zum zeitgenössischen Sprachschwall, als unaufdringliche, aber radikale Kritik an der Masse von Gerede, dessen Hervorbringer nicht wissen, dass sie mit tausenden fertiger Versatzstücke hantieren“. – Mons Texte über Texte, die jetzt gesammelt vorliegen, bilden eine Art poetologischer Retrospektive; die zeitliche Spannweite der Auswahl reicht von 1957 bis 1969; alle Texte (mit einer Ausnahme) sind bereits anderweitig publiziert worden: das Buch als Konserve von Lesefrüchten. Die Schriften von Franz Mon ergeben, zusammengenommen eine gewichtige Dokumentation; sie bezeugen, was konkrete Poesie zu leisten vermag, belegen deren erstaunliche Vielfalt, lassen aber auch erkennen, dass ihre Zukunft bereits historisch, zu werden beginnt.
Karl Krolow: Schutzhülle aus Kunststoff
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 15. 11. 1970
Hans Christian Kosler: Theorie zum Mitmachen
Frankfurter Hefte, Heft 1, 1971
für Franz Mon
1 Grenzen überschreiten kann man nur dort, wo es Grenzen gibt.
2 Es gibt keine unabänderlich absoluten Grenzen. Grenzen sind immer gemacht, gezogen, hergestellt, eine Art der Sehweise. Die Grenzen von festen Körpern z.B. im Blick eines Elektronenmikroskops nur Übergangszonen.
3 Grenzen im Feld der Kultur sind immer in historischen Prozessen fixiert worden und lösen sich in historische Prozesse wieder auf. In einer denkbaren ursprünglich geschlossenen Gesellschaft konnten Bild, Ton, Sprache grenzenlos ineinander über- und aufgehn.
4 Grenzen der abendländisch-christlichen Kultur werden herkömmlicherweise benannt mit dem Begriff der Gattungen. Daß es Kunstgattungen und innerhalb dieser wiederum Einzelgattungen gibt, bezeichnet das historische Feld und die historische Problematik, in denen sich diese Kultur entfaltet hat. Umgekehrt ist der historische Zustand der Gesellschaft, die die Geschichte trägt, auch an der Grenzziehung der Gattungen ablesbar.
5 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnen die Grenzziehungen der Gattungen durchlässig zu werden. Die unterscheidbaren und zu unterscheidenden Einzelgattungen des Gedichts zerfließen z.B. in die vagere Gesamtgattung Gedicht. Unterscheidbar bleibt: in der Literatur nur noch Poesie und Prosa; in der bildenden Kunst Graphik, Malerei und Plastik; in der Musik Orchester-, Vokal-, Instrumentalmusik. Wo Reste und Spuren der alten Gattungsgrenzen weitergetragen werden, schleifen sie ab und parodieren sich selbst. Gesellschaftlich entspricht dem der Zustand der Demokratie.
6 Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird Grenzüberschreitung in der Kunst allmählich zu einer eigenen ästhetischen Kategorie. D.h., es kommt nun vor, daß Werke und Aktivitäten nicht mehr innerhalb der noch vorhandenen Grenzziehungen und an deren Einhaltung gemessen werden können, sondern allein an deren Überschreitung.
7 Grenzüberschreitung als ästhetische Kategorie sieht immer in einem abgegrenzten Bereich den anderen mit, wird immer vom einen auf den anderen hin durchsichtig gemacht, z.B. im Tonalen und Atonalen das Geräusch, im Geräusch die musikalische Artikulation.
8 Grenzüberschreitung als ästhetische Kategorie kennt keinen Vorrang des einen vor dem anderen mehr. Alles ist möglich im Maß des Einsatzes, den der vereinzelte Einzelne gegenüber der Gesellschaft und ihrer Grenzziehung aufzubringen vermag, also auch gegenüber der vergesellschafteten Emotionalität oder der möglichen vorgesellschaftlichen Libido. Von Versuch zu Versuch entsteht der je einzelne und als solcher widerrufbare Maßstab des Risikos, das eingegangen worden ist.
9 Auf der Tradition der ästhetischen Grenzüberschreitung aufbauend hat der Autor Franz Mon ein ihm eigenes und eigentümliches Versuchsfeld abgesteckt, ausgebreitet, erkennbar gemacht.
10 Franz Mon hat die Abgrenzung des Literarischen zum Außerliterarischen durchlässig gemacht, seine Literatur bringt Poesie und Linguistik auf einen Nenner. Franz Mon hat Text auf Bild hin durchlässig gemacht, Texttafeln und Texträume stehen gleichberechtigt neben Textbüchern. Franz Mon hat kompositorische Methoden der Musik in Textstruktur verwandelt und kombinatorisch Text, Geräusch und Musik zu neuen Gebilden konstruiert usw.
11 Der Begriff der Artikulation steht in bestimmter Hinsicht für das Werk Franz Mons zentral. Auf ästhetische Grenzüberschreitung bezogen, bedeutet Artikulation Durchsetzung des je eigenen Ausdrucksvermögens und Ausdruckswillens gegen alle gesellschaftlich vorgegebenen Abgrenzungen. Jede grenzüberschreitende Artikulation stellt einen Standpunkt her, auf dem stehend der Bezug Einzelner-Gesellschaft momentan auszuhalten ist.
12 Alle Versuche Franz Mons stellen solche Standpunkte her.
13 Der gesellschaftliche Zustand, der solchen Versuchen, solche Standpunkte herzustellen, ablesbar wäre, wäre der der noch nicht festgelegten, noch zu befragenden Gesellschaft.
Helmut Heißenbüttel, aus: Text + Kritik: Franz Mon – Heft 60, edition text+kritik, Oktober 1978
Franz Mon und der Zufall – „Ja, ich werde wach…“
Am 20.11.2012 war in der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik eine Legende der Avantgarde zu Gast in der Literaturwerkstatt Berlin: Franz Mon. Mit Michael Lentz sprach er über sein Werk.
Karl Krolow: Orpheus ohne Leier
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1986
Jörg Drews: „Der Sprache schlaue Fallen stellen“
Stuttgarter Zeitung, 6.5.1996
Harald Hartung: Staunen über die vielen Wörter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1996
Karl Riha: MON ist sein NOM
Frankfurter Rundschau, 6.5.1996
Sandra Kegel: Der Entfesselungskünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2016
Michael Lentz: Im Käfig der Freiheit
Süddeutsche Zeitung, 5.5.2016
JF: Wort-Feinkost zum 90. von Franz Mon
Buchmarkt, 25.5.2016
Claus-Jürgen Göpfert: Das Haus aus Sprache, an dem er lange baut
Frankfurter Rundschau, 3.5.2021
Christoph Schütte: Das Gras wies wächst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.6.2021
Franz Mon beim Festival PROPOSTA 2004 in Barcelona.
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