– Zu Eugen Gomringers Zeichen aus Eugen Gomringer: vom rand nach innen. die konstellationen 1951–1995. –
EUGEN GOMRINGER
– Zu einer Arbeit von Eugen Gomringer . –
Ursprünglich wurde diese Arbeit als sechs Meter hohe Fahne realisiert, die während einer Ausstellung Mitte der 8oer Jahre gezeigt wurde. Die Beweglichkeit des Tuches wird die starre Geometrie des turmartigen Zeichens gelockert haben. Die über den Köpfen schwebende Überdimensionalität mag dazu verführt haben, sich nicht auf die, vergebliche, Suche nach einer Wortgestalt zu begeben, sondern sich mit der Vermutung eines windbewegten, unbekannten Logos zufrieden zu geben. Immerhin lässt sich trotz des durchgezogenen senkrechten Strichs die dritte Form von oben augenfällig als03 ein ,E‘ lesen, und die zweite könnte ein ,F‘ enthalten, beim genaueren Hinsehen jedoch als stilisiertes ,A‘ begriffen werden. Ist so erst einmal der Alphabetcode aufgerufen, entpuppt sich die oberste Form als ein nach oben offenes U-Quadrat und die unterste als ein eckiges ,Ü‘.1
Die einfach konstruierten Lettern gewinnen ihre eigene Plausibilität, wenn man als thematische Implikation die Vier oder die Vierheit annimmt, die sich in ihrer Vierzahl und in der beherrschenden Quadratform verkörpert. Zu deren Gunsten werden schrägstehende Winkel und Rundungen der Buchstabenschemata eliminiert, und der rechte Winkel wird als alleiniges Bauprinzip verwendet. Diese viervokalische Lesbarkeit reizt freilich den Trieb zur Vervollständigung des gewohnten Vokalsystems. Noch fehlt das ,I‘. Da nur noch der senkrecht durch die vier gestapelten Lettern gezogene Strich übrig ist, wird er versuchsweise, auch wenn seine Länge nicht zu der der anderen Lettern passt, als Platzhalter für das ,I‘ genommen, sodass sich die Befriedigung über die erreichte Vervollständigung eines Systems einstellen kann. Dieses I-Surrogat füllt zwar die traditionelle Vokalreihe, nicht jedoch findet es einen Platz in der Vierung. Wie es durch den Turm der anderen Vokale senkrecht hindurchstreicht, gewinnt es eine extra-reguläre Position im Ensemble.
Je nach der mentalen Orientierung des lesenden Auges streicht dieser I-Strich mit negierender Geste die Viererordnung durch (und damit würden die darauf beruhenden Sinnbezüge abgetan); der Strich teilt aber auch die Bausteine in ihre Hälften, sodass sie nunmehr aus zwei Teilformen gebildet erscheinen; und er verklammert alles zu einer übergreifenden, kompakten Figuration, stellt ein Konstrukt her, bei dem die Letternformen sekundär werden. Dass der durchgezogene Strich unten und oben übersteht, bewahrheitet in gewisser Weise die Gültigkeit aller konkurrierenden Lesarten: die der negierenden, durchstreichenden Geste wie die des teilenden Schnitts und die der zusammenhaltenden, ein Ganzes allererst gründenden Achse. Die Lesarten lassen sich nur analytisch unterscheiden, wirken beim Wahrnehmen jedoch ineinander. Dabei werden Bedeutsamkeitsschichten abgeblendet, und es wird die Mechanik, welche die elementaren geometrischen Formen verbindet, hervorgeholt. Wandert das Auge, wie bei senkrecht stehenden Zeilen gewohnt, von oben nach unten, so entdeckt es einen um die Achse sich vollziehenden Bewegungsablauf. Das oberste, als U-Gestalt nach oben offene, d.h. aber auch den vierten Vierungsstrich entbehrende Quadrat kippt um 180° nach unten. Dort wird es zwar um einen vierten Strich bereichert, jedoch nicht zum Zweck des Quadrats, vielmehr bewirkt er, in die Mitte eingefügt, eine Kreuzfigur. Dies wiederholt sich, wenn diese (die A-Gestalt repräsentierende) Fassung nun um 90° um ihren Mittelpunkt gedreht wird, sodass die Öffnung nach rechts weist (und die E-Gestalt erscheint). In der vierten Phase ist dieser waagrechte Strich, der in den vorangehenden einmal stabilisierend, einmal dynamisierend gewirkt hatte, endlich in die offene Seite eingerastet. Die vollkommene, in sich gefestigte Vierform ist erreicht, die zugleich für das ,Ü‘ steht.
An der Achse entlang verläuft somit in einfachen Bewegungen ein Vierungsspiel, das, beweglich aufgefasst, nicht nur im Gefälle von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben gelesen werden kann, wenn das stabile unterste Quadrat wie die Basis eines Turmbaus erscheint, dessen architektonische Gestik sich Stufe für Stufe entwickelt. Oder indem sich zwei Zweiergruppen absondern: eine, die sich in ,Massivität‘ (ganz unten) und ,Leichtheit‘ (ganz oben) polarisiert, und eine zweite, die von dieser in die Mitte genommen, die beiden Kreuzformen beherbergt.
Je mehr die anfängliche Buchstabenqualität der Quadratformen verblasst ist, nicht zuletzt dank der zerschneidenden, teilenden und zugleich verkoppelnden Senkrechten, desto stärker vermag die visuelle, nicht mehr sprachgerichtete Qualität der Zeichenkörper hervorzutreten. Da durch den beschriebenen Bewegungsvollzug nicht nur der formale, sondern auch der mentale Horizont angeschnitten wird, können an den Zeichenkörpern ikonische Momente aufscheinen, wie sie ursprünglich in jeder Schrift gesteckt und sie getragen haben. Was beim imaginierenden Ablesen nun auch an Bildzeichen auftauchen mag, es bewegt sich, unabhängig von vorweglaufenden Codes, im Spielraum probierender Projektionen. Auch sie ziehen den Begriff wieder an sich und bleiben somit im ideographischen Gefüge. Man kann die Probe aufs Exempel machen und zum Beispiel im obersten Zeichenkörper (,U‘) sei es einen aufgerichteten Dreizack, sei es eine Menschenfigur mit erhobenen Händen erkennen; darunter (,A‘) etwa das Bild einer zweiflügligen Tür, wie es für das chinesische Radikal „Tor“ (Men) benutzt wird.2 Die dritte Form (,E‘) erschiene wie beflaggt und ihre linke Hälfte wie ein Haus- oder Fenstergebilde (diese Form dient in der chinesischen Schrift als Radikal für „Sonne“ (Rì).3 Zuunterst (,Ü‘) wäre ein an einer Stange befestigtes Schild zu erkennen, dessen Vorderseite abgekehrt ist, oder auch die Draufsicht auf zwei spiegelgleiche, von einem Weg durchschnittene Felder. Wie beim Umspringen des Blicks beim Betrachten von Vexierbildern orientiert sich das Auge jeweils an einem bestimmten optischen Zentrum, wobei die mentale Vorgabe ausschlaggebend mitspielt. So können im zweiten und dritten Zeichenkörper auch die Kreuzfiguren hervortreten, dank ihrer Verdoppelung mit abweisender Eindringlichkeit.
Die Wanderung durch die so unterschiedlichen Leseverfahren vom ersten Hervorlesen der Vokalzeichen über das Nachvollziehen des Bewegungsverlaufs der Quadratformen bis zum Herauslösen ikonischer Partikel hat die als Basis benutzten Alphabetzeichen aus ihrer semantischen Leere gelockt. Ermöglicht wurde dies durch die Quadratformalisierung der Lettern, vor allem aber durch die Umfunktionierung des I-Striches zu einem mehrsinnigen De- und Konstruktionszeichen. Das anfängliche Tasten nach einer verbalen Lesart, das die Alphabetpartikel ausgelöst hatten, ist bei der Beschäftigung mit den visuellen Befunden einem allmählichen Aufdecken der konstruktiven, gestischen, mentalen und ikonischen Einschließungen gewichen.
Dies sind wesentliche Bestimmungsmomente von Ideogrammen. Der ideographischen Komposition, um die es in diesem Zusammenhang ging, fehlt allerdings die Einbindung in die Codierung, die eine Sprachgesellschaft herstellt, womit die Qualität der allgemeinen, verbindlichen Lesbarkeit gewonnen wird. Die konventionale Qualität wird hier ersetzt durch die ,singuläre‘. Eine singuläre ideographische Vertextung wird – allerdings im Horizont einer Mehrzahl von konventionalen Codesystemen – erst von ihrem Autor erfindend konstituiert und von ihrem Leser in seinem Verstehensraum geortet und ausgefüllt.
Keine Frage, dass die Entzifferung, die hier versucht wurde, noch weitergetrieben werden könnte; dass die ikonischen Partikel, die hier noch isoliert voneinander auftauchen, sich miteinander verknüpfen ließen. Der Leser kann den Vorgang an der für ihn erreichbaren Stelle für beendet halten oder erklären. Er kann ihn verbalisierend Dritten zum Nach- und Weitervollzug anbieten. Doch es gibt keine Basis, von der her eine bestimmte Lesart und die von ihr mitgeführten Bedeutungen und Deutungen mit zwingender Gültigkeit auf Dritte übertragen werden könnten. Jeder Leser findet, entdeckt und öffnet diese für sich mit Hilfe seiner, im Grunde lebenslänglich, entwickelten und vergenauerten eidetischen, anamnetischen und mentalen Sensibilität.
Franz Mon, 1997, in Franz Mon: Sprache lebenslänglich. Gesammelte Essays, Herausgegeben von Michael Lentz, S. Fischer Verlag, 2016
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