– Zu Franz Mons Gedicht „perkussion“. –
FRANZ MON
perkussion
trittst aus dem haus nach rechts dich wendend da siehst du.
trittst aus dem haus nach links dich wendend da hörst du.
trittst aus dem haus dich umdrehend triffst du.
ahnungslos. schadhaft. wär so gut wie.
wäre genauso gut wie ganz und gar.
bis auf den finger. hör nicht drauf. laß davon.
und auch in keiner gefahr nicht.
um den kleinen finger. wickelkind.
ins ohr auch. auch ins herz.
geblasen. o du fröhlich. gib das pfötchen.
wer sich in gefahr. mein hauptgeschäft.
ist die braut. will nicht länger. blut und bier.
vom scheitel bis zur sohle.
geht er hin und singt und singt und singt.
so andernteils. doch du, du hörst nicht drauf. du omega.
des haares fülle schwillt und rinnt
und fällt in faden weich vom scheitel. schädel.
wickelkind. so windelweich an haupt und gliedern.
willst du nicht mein krauter sein.
sollst nicht länger warten.
(1981)
Das Gedicht beginnt mit einer alltäglichen Situation: Jemand verlässt das Haus und tritt ins Freie. Er sieht etwas, er hört etwas, man erfährt aber nicht, wen oder was er sieht oder hört. Der Text eilt weiter zu einer dritten Möglichkeit: Im Moment, da du das Haus verlässt, wendest du dich um und triffst – wieder wird verschwiegen wen oder was. Die Stelle bleibt leer, es sei denn der Hörer oder Leser selber entscheidet, blitzschnell, worum es geht. Das „ahnungslos“, das dann folgt, lässt eine Überraschung vermuten. Du wendest dich um – und triffst dich selber?! So könnte es sein, und du, Leser, Hörer, bist der stille Zuschauer bei diesem Gespräch eines Du mit sich selbst. Da du danebenstehst, musst du ertragen, dass in dem Zwiegespräch auch dir unbekannte Sachverhalte angesprochen, nur angedeutet werden; dass blinde Flecken, für dich blinde Flecken vorkommen, deren Sinn du erraten und ergänzen musst.
Das klingt schlimmer, als es ist. Wie jede Rede hat auch diese Rede eine Innenansicht, die nur dem Sprechenden völlig vertraut ist, weil er es ist, der die Wörter, Sätze und Satzfolgen genauso wählt, fügt und färbt, wie es seinen Impulsen, seinen Zwecken und vor allem seinem Zumutesein entspricht. Die Innenansicht ist sein Geheimnis, und jeder Gesprächspartner, und auch du Zuhörer, bleibst im Ungewissen, wie viel davon durch die Äußerung zu dir durchdringt. Es wäre zum Verzweifeln, gäbe es nicht die Außenansicht der Wörter, Sätze, Texte, und die gehört niemandem oder allen bzw. jedem, der sie zu verwenden weiß. Jedes Sprachfetzchen wurde schon vieltausendfach gebraucht, und es werden unkontrollierbar Bedeutungstöne und Nebentöne mittransportiert, vor allem wenn wir Redensarten, feste Wortverbindungen, Sprichwörter und Zitate gebrauchen. Doch auch an jedem Wort können Erinnerungen an Schreckbilder, Glücksmomente, an Schatten, Gesichter, Vorfälle hervorblitzen, die sich darin im Laufe seiner Verwendungsgeschichte gespeichert haben.
Zur Besonderheit des Gedichts „perkussion“ gehört, dass es voller solcher kleiner Sprachteile steckt. Ein paar sollen herausgehoben und verdeutlicht werden. Meist genügt schon ein Antippen, weil sie jeder kennt oder kennen könnte, so etwa bei den beiden volkstümlichen Liedern, die der Text anspricht: „O du fröhlich“ heißt es einmal, und das Wortbröckchen ruft das Weihnachtslied herauf. Zwei Zeilen weiter steht: „ist die braut. will nicht länger.“ Der Anfang ist weggelassen, doch jeder erkennt das Kinderlied „Unser Ännchen ist die Braut“. Zwillingsformeln, oft mit gleichem Wortanlaut, gibt es in unserer Sprache in Hülle und Fülle. Im Gedicht wird eine solche Formel erfunden, sie heißt „blut und bier“ und wirft gespenstisch frühere Blutwortgruppen an die Wand, wie „Blut und Boden“ – eine Naziparole mit fatalen Folgen –, „Blut und Tränen“ – Churchills Perspektive zu Beginn des Zweiten Weltkriegs – oder Bismarcks „Eisen und Blut“.
In der darauffolgenden Zeile steht ein weiteres sprachliches Fertigteil. Es heißt „vom scheitel bis zur sohle“. Wir kennen es aus Redewendungen wie „ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle“. Auch hier weiß man nicht, was alles dahintersteckt, bis man erfährt, dass die Floskel einem Vers des Alten Testaments entstammt und zu Zeiten, da den Menschen Bibelsprüche noch auf der Zunge lagen, in die Alltagssprache übernommen wurde. Der biblische Vers bedrohte Gesetzesbrecher mit bösen Geschwüren von der Sohle bis zum Scheitel. Den alten Sinn sieht man heute der Floskel nicht mehr an, und doch steckt er verborgen darin und lässt sich aufdecken. Scheinbar fugenlos schließt die nächste Zeile an und hebt damit oberflächlich den Bruch auf. Es klingt, als liefere sie in einem gemeinsamen Satz Prädikat und Subjekt, wenn es heißt: „geht er hin und singt und singt und singt“. Da hat man doch im Ohr die Formulierung: „Da geht er hin und singt nicht mehr“. Was bei uns heißt: Jemand macht sich nach einer erfolglosen Anstrengung enttäuscht und mutlos davon. Im Gedicht ist der negative Ton beseitigt. Er „singt und singt und singt“ – dagegen kann doch keiner was haben. Über eine Einwendung hinweg – „doch du, du hörst nicht drauf“ – geht es leicht und fließend weiter, übrigens mit dem einzigen vollständigen Satz im ganzen Text. Ich zitiere die Zeilen:
des haares fülle schwillt und rinnt
und fällt in fäden weich vom scheitel. schädel.
wickelkind. so windelweich an haupt und gliedern.
Da herrschen helle, wohlklingende Vokale vor: ü – i – ä – ei, und sie werden von weichen, fließenden Konsonanten eingefasst. Zu schön, um wahr zu sein? Eine erste Warnung zuckt, wenn dem Scheitel, durch eine Assonanz verbunden, der Schädel folgt, in dessen Bedeutungshof doch auch das Todeszeichen, der Totenschädel sitzt. Das „wickelkind“ gleich danach, also ein Lebenszeichen erster Güte, löscht das jedoch wieder und bewirkt vermutlich auch, dass der lautlose Bezug zu brutaler Gewaltanwendung in dem Wort „windelweich“, das doch so wickelkindgemäß klingt, dass dieser Gewaltbezug gar nicht erst registriert werden kann. Das geschieht erst hinterher, wenn man sich klarmacht, dass wir das gute deutsche Wort windelweich nur in einer einzigen Redewendung kennen, nämlich „jemanden windelweich schlagen“ im Sinn von „jemand fürchterlich verhauen“. Fast offen zutage liegt der Drohton jedoch in der nächsten, der vorletzten Zeile. Durch den Satz „willst du nicht mein krauter sein“ wird die Redensart „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein“ angetippt – die vordere Satzhälfte reicht aus, die brutale Konsequenz zu vergegenwärtigen. Wie hinter einer Maske wird der „Bruder“ hinter dem „krauter“ versteckt, womit früher ein alter Sonderling bezeichnet wurde.
Mir kommt das ganze Gedicht vor wie eine Goldwaage, die imstande ist, winzige Bröckchen, Teilchen, ja Spurenteilchen von Sprache abzuwägen. Freundliche, lebenszugewandte Momente sammeln sich auf der einen Seite; die andere registriert bedrohliche, gewalthafte, todesnahe Elemente. Jede neue Wortgruppe bringt den Zeiger erneut ins Schwanken, und bis zur letzten Zeile kommt er nicht zu einem sicheren Ergebnis.
Die Sprache des Textes weist, mit einer Ausnahme, keinen vollständigen Satz auf. Sie springt aus einem Zusammenhang in den nächsten und in einen dritten. Die Welt dieser Sprache zeigt sich zerklüftet. Es ist, als wäre etwas in Gang, was nicht aufzuhalten ist, seit der Angesprochene das Haus verlassen hat; auf das er doch, und zwar ohne zu zögern, antworten sollte. Sind wir das? Ist das unsere Situation, unser Zustand? Es muss nicht – doch es könnte so sein.
Franz Mon, in Franz Mon: Sprache lebenslänglich, Gesammelte Essays. Herausgegeben von Michael Lentz, S. Fischer Verlag, 2016
Die Schulfunkredaktion des Bayrischen Rundfunks erbat sich für die Reihe „Zehn Minuten Lyrik“ einen Beitrag. Dafür wurde das Gedicht „perkussion“ gewählt und zusammen mit einer einführend-erläuternden Darstellung am 3. November 1992 gesendet.
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