– Zu Jürgen Beckers Gedicht „Vorläufiger Verlust“ aus Jürgen Becker: In der verbleibenden Zeit. –
JÜRGEN BECKER
Vorläufiger Verlust
Mühlen entfernt auseinander liegend im Traum
die Frage beschäftigt wie atmende Bilder
entstehen und weiterleben einige graue Tage
wie jetzt als wir sprachen
über den vorläufigen Verlust der Eifel
die Quelle und das Wasserrecht
die private Turbine
das eigene Rudel Fisch
auch war es die Zeit für Rückzüge
wenn die Luft fehlte zwischen den Räumen
es gab den Nutzen der Leere
die Lust der Unteilbarkeit war beständig
im Traum die Fortsetzung entscheidet nichts
ein Mann verfügt über Gelände
und arbeitet am Zaun für die Ruhe
baut Gespenster auf
für die Nacht die Nähe der Straße
ein Recht der Vielen und Anderen
allein der Ort für dich
der Ort erreichbar im Konjunktiv
eine Tarnung aus Geflechten des Gerüchts
schon viele Schriften entstanden
als eine Beschreibung der Suche
des aufwachenden Zweifels
der Selbstkritik später
Ungewißheit auch für Eulen
das Beispiel für mögliches Überleben
oder ein Anfang wieder vor der Dämmerung
ach Gegenwart zuviel ist erledigt
und zuwenig getan gegen den Fortschritt der Klage
aufwachend im Knistern der Sonne
Steine rutschen zurück hinter dir in die Tiefe
und der Himmel ist noch grün
noch unsichtbar die neue Front der Kälte
nicht lange warten die Gärten
auf das Verschwinden der Schatten unter den Bäumen
was wert ist für keine Nachricht
ein stilles Entstehen beschäftigt uns weiter
Becker legt es darauf an, den Leser an einem doppelten Prozeß, dem von Verfall und Aufbau, ,spontan‘ teilnehmen zu lassen. Er bietet nicht fertige ,Produkte‘, sondern stellt das ,Produzierende‘ mit dar – die frühere Poetik, der allerdings andere ideologische Prämissen zugrunde lagen, sprach angesichts solcher Struktur von „Transzendentalpoesie“ (so Friedrich Schlegel im Athenäum-Fragment 238). Es handelt sich um ein prozessuales Konzept des Gedichts. Diesem Konzept entsprechend, wird in den vorliegenden Versen nicht eigentlich über Zerstören und Schaffen, über Auflösung und Entstehenlassen als ein ,Thema‘ geredet. Der komplexe, zwiespältige Vorgang selbst ist vielmehr in gewisser Hinsicht das Gedicht.
Das Gedicht ,bewegt‘ sich vor dem Leser, vollzieht sich assoziativ, in Sprüngen oder in konturenloser Übergänglichkeit. Eine Art semantisches Drama läuft ab, eines ohne große Gesten, ohne das lyrische Ich als Helden, ohne inhaltlich greifbares Ende. Das Gedicht ist vielleicht in extremer, partiell an irritierende Ambivalenz heranreichender Weise offen. Das ist eine Offenheit, die grundsätzlich der Skepsis des Autors, seinem Bewußtsein von der Schwierigkeit, Position zu beziehen, entspricht. Doch gibt sich der Autor mit der gefährlichen Nichtfestlegbarkeit, zu der sein Dichten tendiert, diesmal keineswegs zufrieden. Er beansprucht, offen zu sein für etwas und nicht für nichts: „ein stilles Entstehen beschäftigt uns weiter“, heißt die Schlußzeile.
Das klingt bei aller Diskretion des Ausdrucks ein wenig forciert, fast wie ein Programm, und eine den Gedichtgehalt nicht paraphrasierende, das verschwiegene Drama der Verse nicht zusätzlich dramatisierende, seine tatsächlich oder scheinbar intendierte finale Struktur nicht in begeisterter Zustimmung verstärkende Lesart, eine, die vielmehr analytisch-kritisch verführe und sich gegen das Gedicht und seinen Schein von Positivität gegebenenfalls zu wehren wüßte, hätte wohl zu prüfen, ob dem Autor die Behauptung jenes ,Endes‘ – formal und inhaltlich – geglückt sei.
Die erste Zeile des Gedichts läßt ein sehnsuchtsvolles Motiv anklingen:
Mühlen entfernt auseinander liegend im Traum.
Eine Landschaft mit Mühlen und Raum genug dazwischen wird vom Städter als etwas Märchenhaft-Mythisches empfunden. Dorthin sähe er sich, sei’s auch nur im Traum, gern versetzt. Da hätte das Auge einen Halt; die Phantasie fände Raum, in die Ferne schweifend sich zu entwickeln. Solche „atmenden Bilder“ braucht wohl das Gemüt, wenn Häßlichkeit, Enge, tristes Einerlei vorherrschen. (Impliziert ist die Aussage: An solchen Bildern mangelt es.)
Jürgen Becker wirft hier in den ersten Zeilen im Grunde das Problem ,ästhetischer‘ Produktion auf. Allerdings stellt sich die Frage höchst einfach, elementar: Wie kann sinnliche Wahrnehmung erreicht werden, die etwas zeitigt („atmende Bilder“), was – wenn auch vielleicht nur für „einige graue Tage“ – vorhält, was, lebendig, seinerseits Leben erzeugt? Zugleich ist das Thema Besitz und Ort, das – in welchem Sinn immer – im folgenden eine Rolle spielt, angeschlagen: Auch „Bilder“, als Resultat von Wahrnehmung und Phantasieproduktion, können aufgefaßt werden als eine Form von Besitz, als ein Ort, um an ihm zu verweilen.
Die Reflexion über das mögliche Entstehen „atmender Bilder“ entspringt einem Zusammenhang, in dem die Tatsche eines „Verlusts“, angeblich eines „vorläufigen“ Verlusts, ins Bewußtsein gehoben wird. Zwischen beiden Komplexen, kann man mutmaßen, gibt es einen ursächlichen Zusammenhang. Verluste sind gewöhnlich Anlaß, neue Werte zu produzieren. Je umfassender der Verlust, um so dringlicher um so fundamentaler die Frage nach dem, was ihn ausgleichen könnte.
So pointiert und so prinzipiell wie der Interpret soeben spricht das Gedicht allerdings nicht. Die Redeweise ist bemerkenswert locker, vorübereilend, konversationell, fast als wäre, der da spricht, unbetroffen – unbetroffen jedenfalls von dem materiellen Verlust, der hier erwähnt wird: dem „Verlust der Eifel“ (5). Auch fällt auf, daß der Sprechende, genau genommen, nur von der Gelegenheit redet, bei welcher unter anderm jener „Verlust“ Gegenstand eines Gesprächs war. Die präteritale Zeitform, die an dieser Stelle trotz des „jetzt“ gebraucht wird, bewirkt zusätzlich eine gewisse Distanzierung, die den Eindruck der Unbetroffenheit erweckt. Auch ist der Verlust offensichtlich einer, den mehrere Menschen erlitten haben. Die „wir“-Rede, in welcher auf das Thema Bezug genommen wird, hebt die negative Erfahrung in eine gewissermaßen gesellige Sphäre jenseits eines individuellen vehementen Schmerzes (4: „wie jetzt als wir sprachen“ usw.).
Wie es in fast allen Gedichten Jürgen Beckers der Fall ist, in denen das sich artikulierende Bewußtsein mehr oder minder deutlich als ein historisch und soziologisch vermitteltes in Erscheinung tritt (vgl. insbesondere das „Berliner Programm-Gedicht; 1971“), wird das Gedicht an dieser Stelle andeutungsweise konkret. Topographisches und Lebensgewohnheiten einer bestimmten sozialen Schicht werden umrißhaft sichtbar. Auch ein Reflex persönlicher Lebensumstände des Autors spielt möglicherweise in die Zeilen hinein. Becker lebt in Köln, keineswegs als isolierter Einzelgänger (wie man hört), versehen vielmehr wie viele seinesgleichen mit allerlei greifbaren Lebensmöglichkeiten. Aufenthalte auf privaten Besitztümern in unverdorbener Natur der nahegelegenen Eifel mögen bei den bessergestellten Bürgern Kölns ein beliebter Luxus gewesen sein. Aus welchen Gründen immer haben einige diesen offenbar aufgeben müssen. Ein Verlust zwar, aber keine existentielle Katastrophe. Genug, eine gewisse Komfortabilität, bleibt übrig. – Solche Komfortabilität, aus der sozialen Situation erklärbar, pflegt in Beckers Versen und ihrer spezifischen Stimmung häufig durchzuschlagen. Es handelt sich dabei um einen Impuls ,gesellschaftlicher‘ Ehrlichkeit, der die dieser Lyrik immanente poetische Reflexion auf Verfall keineswegs schwächt, sie indes auf eigentümliche (fast möchte man sagen: bundesrepublikanische) Weise färbt.
Vermeldet also wird der Verlust einer quasi-kapitalistischen Idylle mit Privilegien, die halb feudal anmuten, wie „die Quelle und das Wasserrecht / die private Turbine / das eigene Rudel Fisch“ (6–8). Warum wird der „Verlust“ als „vorläufig“ bezeichnet? Erklärt sich das mildernde Beiwort aus der Lässigkeit und Halbbewußtheit des erwähnten Gesprächs oder aus der Tatsache, daß der Verlust alles in allem leicht verschmerzt werden kann? Oder soll auf einen sinnlich-materiell vermittelten Selbstgenuß hingewiesen werden, der – in welcher sozialen Gestalt immer – für menschliche Existenz auf die Dauer unabdingbar ist? – Die lockere Komplexität des Gedichts erlaubt es, Fragen solcher Art zu stellen; sie immer präzis beantworten zu wollen empfiehlt sich nicht; es wäre dem Stil des Gedichts wenig angemessen. – Immerhin ist festzuhalten, daß die Wendung vom „vorläufigen Verlust“ den Versen ihren Titel gegeben hat. Wohl kaum hat der Dichter damit jedoch der Hoffnung auf die privatkapitalistische Wiedergewinnung der Eifel Ausdruck verleihen wollen.
Der nächste Versabschnitt spielt die Vorstellung des „Verlusts“ weiter – mit einer Wendung, die vom quasi Konkreten zum Allgemeinen, Epochal-Historischen überleitet (9: „auch war es die Zeit für Rückzüge“). „Rückzug“, das ist ein Ausdruck, gebräuchlich im Kontext militärischer Berichterstattung. Der Autor erklärt mit der Wendung nichts, er konstatiert lediglich die Notwendigkeit einer Bewegung, die das Abstandnehmen von Kampf, von unmittelbarer physischer oder politisch-ideologischer Auseinandersetzung bedeutet. Etwas von der resignativen Mentalität derer scheint in jener Formulierung zu liegen, die angesichts einer verlorenen Sache das Verbleibende zu retten suchen.
Die Zeit, in der solches Verhalten sich empfiehlt, wird mit den folgenden Zeilen näher charakterisiert (10: „wenn die Luft fehlte“ usw.). Ist der Hinweis auf den „Nutzen der Leere“ (11), auf die „Lust der Unteilbarkeit“ (12) positiv oder negativ zu deuten? Die additive Fügung der Sätze läßt den Leser darüber im unklaren. Die „Lust der Unteilbarkeit“ z.B. könnte als Wille zur Selbstbehauptung, aber auch als Ausdruck eines anachronistischen, entfremdeten Verhaltens gedeutet werden. – Auffallend die hilflos wirkende Abstraktheit des Sprechens in diesem Abschnitt. Abstrakt, vage sind die Substantivkonstruktionen ebenso wie die verbalen Floskeln („war es“, „es gab“, „war“). – Solche scheinbar ästhetisch ,durchhängenden‘ Partien erklären sich bei Becker zum Teil aus einer ,Poetik des Rückzugs‘ (um es so auszudrücken): Es fehlen Kraft und Fähigkeit zu umfassender Lagebeurteilung. Das Bewußtsein duckt sich unter die historische Tendenz, die wie eine Welle über es hinweggeht, und sucht aus der Dimension der kleinsten Größe Haltung und Bestand zu gewinnen. Von „eingreifendem“ Denken (wie Brecht es nannte) sind wir meilenweit entfernt. Eher schon liegt Gottfried Benns geschichtliche Chiffre des „Phänotyps“ nahe, in dessen poetisch verschlüsselter Gestalt ebenfalls eine Oberflächen- und eine Tiefen-Reflexion irritierend miteinander verschmelzen.
„ […] im Traum die Fortsetzung entscheidet nichts“ (13), dieser lapidare, ,mutig‘ sich anhörende Satz greift assoziativ auf die Vorstellung des „Traums“ in der ersten Zeile zurück, scheint im übrigen aber eine Gegenbewegung zu signalisieren, so, als sei Verzicht auf „Traum“ die aktuelle Devise. Angenommen (wie anzunehmen man Grund hat), daß es noch immer um die Frage des Entstehens „atmender Bilder“ geht, dann scheint – trotz der historischen Diagnose, die Zeit sei eine „Zeit für Rückzüge“ – jedenfalls dem Rückzug in träumerische Innerlichkeit widersprochen werden zu sollen. Der „Mann“, der „über Gelände“ „verfügt“ (14), der „am Zaun für die Ruhe“ (15) arbeitet, „Gespenster“ aufbaut „für die Nacht die Nähe der Straße“ (17) – wäre er dann also derjenige, der das Rechte tut, um die Bewahrung elementarer Bestände zu gewährleisten, wäre er der, welcher, „wenn die Luft fehlte zwischen den Räumen“ (10), Voraussetzungen dafür schafft, daß immer noch „atmende Bilder“ entstehen? „allein der Ort für dich“, heißt es am Schluß der Verssequenz des dritten Abschnitts – in einer Formulierung, die eine Art emphatischer Selbstanrede zu sein scheint. Es ist in gewisser Weise ein geschichtliches Zitat, ein Programmwort der siebziger Jahre, das den Abschied von gesellschaftlichen Aufbrüchen, sozialistischen Träumen, das den neuen Individualismus markiert. Wird die ,privatistische‘ Haltung vom Gedicht als positive ausgegeben?
Bei mehrmaliger Lektüre der Passage wird diese Auffassung zweifelhaft. Der Mann, arbeitend am Zaun, zerfällt dann unversehens. Er transformiert sich gleichsam selbst zu einem Gartenlauben-Gespenst von der Art derer, die er aufrichtet, beinahe lächerlich in seiner Bemühung, die Nähe der lauten Straße (die doch da ist) vergessen zu machen. Gegen das „Recht der Vielen und Anderen“ (18) sein Recht behauptend, scheint er selbst plötzlich einer der „Vielen und Anderen“: die „Lust der Unteilbarkeit“, die er, naiver Homo faber demonstriert, scheint die eigentliche Illusion, scheint der eigentliche „Traum“, dessen „Fortsetzung“ „nichts“ „entscheidet“. – Es verhält sich also keineswegs so, daß das Gedicht hier eine positive Stellung eindeutig bezöge; es ,spielt‘ eine solche bestenfalls ,vor‘, läßt sie tatsächlich in ambivalenter Schwebe – was impliziert, daß scheinbar Positives auch nicht, etwa durch Ironie, als eindeutig Negatives erkennbar würde.
Jedoch kann das Folgende als ein ,Umschlag‘ der bisherigen Gedankenbewegung gelesen werden, vorausgesetzt, man hält sich auch hier bewußt, daß die Tendenz des Gedichts zur ,weichen‘ Montage solche massive Strukturierung (und eine entsprechend energische Hermeneutik) im Grunde nicht zuläßt. Eine Art Zweifelsbewegung erfaßt jedenfalls die Verse. Zugleich erscheinen für den rückblickenden Leser von hier ab die bisherigen Vorstellungen des Gedichts metaphorisiert. Der „Ort“, um dessen Erreichung es ging, erscheint im vierten Abschnitt als ein wesentlich ideeller. Die Arbeit am Zaun des „Geländes“ wird, einfach durch die ,logische‘ Entwicklung der poetischen Gedanken, der intellektuellen Tätigkeit ,verglichen‘, deren Terraingewinne „im Konjunktiv“ (20) stattfinden und offenbar ihrerseits „eine Tarnung aus Geflechten des Gerüchts“ (21) nötig haben; auch hier bedarf es also der „Gespenster […] / für die Nacht“ (16f.), anscheinend um sich vor sich selbst und der Kritik zu behaupten. – Wieder ist der Tenor der Aussage jedoch offen; er bleibt offen bis in die folgenden Zeilen hinein, die das Bild der „Eule“ heraufrufen (26: „Ungewißheit auch für Eulen“) und die mit einer Klage abschließen:
ach Gegenwart zuviel ist erledigt
und zuwenig getan gegen den Fortschritt der Klage (29f.).
In dieser expressiven, überdies sentenzhaften Aufgipfelung, die unerwartet erfolgt und in dem quasi konversationellen Kontext des Gedichts überraschend emotional erscheint, ,verdeutlicht‘ sich das Gedicht vielleicht am stärksten – gegen die in ihm vorherrschende komplex-labile Redeweise. Bildlich gesprochen: von dem bisher entwickelten Gemälde grauer Farbe, auf dem wenig deutliche Umrisse wahrzunehmen sind, leuchtet dem Leser ein lebhafter Farbtupfer entgegen.
So wirkungsvoll die ästhetische Seite der Dramaturgie dieses Gedichts hier in Erscheinung tritt, die Stelle vermag die kunstvoll-kunstlose diffuse Semantik des Ganzen nicht aufzuheben; der Leser bleibt ratlos – es sei denn, er nähme eine Trivialität für einen Rat; schon gar nicht wird einem Denken, das an Handeln interessiert ist, etwas wie eine Anweisung gegeben. Das hervorgehobene „ach“, das mangelndes Tun „gegen den Fortschritt der Klage“ beklagt (und implizit jenen Mut zu fordern scheint, dessen Reflex schon oben in dem Satz „im Traum die Fortsetzung entscheidet nichts“ sich zu melden schien), könnte besagen wollen, daß Bemühung um lebendige „Gegenwart“, um den „Ort“ „allein […] für dich“ vermißt und also herbeigewünscht würde. Wird also eben jene Bemühung vermißt und herbeigewünscht, die vorher – doch in Form einer Zweifelsbewegung, in Formulierungen, versehen mit ,ambivalenten‘ Lichtern – angedeutet worden ist? – Das Gedicht führt, so betrachtet, in Widersprüche auf der Ebene der Bedeutungen. Es ist nicht so positiv ,gerichtet‘, wie es am Ende scheinen mag.
Die „Eule“ Jürgen Beckers ist auch nicht die gedankenvolle, wissende „Eule der Minerva“, von der es in der Vorrede der Hegelschen Rechtsphilosophie heißt, daß sie „erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ beginne. Zwar läßt auch Becker erkennen, daß – mit Hegel zu reden – „eine Gestalt des Lebens alt geworden ist“ („Verlust der Eifel“, „Zeit für Rückzüge“ „graue Tage“). Doch betont wird, unhegelisch, die „Ungewißheit“ („Ungewißheit auch für Eulen“). Es ist die geschichtsphilosophische Ungewißheit, die sich, vom Rücken des Gedichts her, immer wieder gegen dessen Andeutung von ,Position‘, von optimistischen Aussagen über die Möglichkeit der Erlangung „atmender Bilder“ durchsetzt.
Ob der Autor selbst dies weiß? Das Gedicht jedenfalls ,weiß‘ es im allgemeinen und läßt sein Wissen der „Ungewißheit“ in der Sprache und der astrukturellen Struktur seiner Redeweise erkennen. Deren partielle Schein-Festigkeit erweist sich an entscheidenden Stellen als dünn, rissig; das kritische Lesen der Worte und Sätze führt weniger an einen „Ort“ als ins Bodenlose.
Bezeichnend, daß das Gedicht sich vor seiner geheimen Bodenlosigkeit im letzten Versabschnitt wie durch einen Sprung zu retten sucht. Da wird, als wäre dergleichen mühelos, ohne „Konjunktiv“ erreichbar, ein Naturbild, eins der „atmenden Bilder“ gesetzt (oder handelt es sich eher um ein geschickt präsentiertes naturlyrisches Klischee?).
Mit der Frage nach solchen Bildern hat das Gedicht begonnen. Mit dem Schein einer Antwort, ja dem Schein eines ,Beweises‘ – bitte, hier ist ein Bild! – endet das Gedicht. Was offen ist, tut am Ende so, als könnte es sich runden; und die Sentenz des Schlusses, die vielleicht ein wenig zu sehr nach Rilke klingt und deren „wir“ unabsichtlich mit einem Hautgout von Pluralis majestatis versehen scheint, unterstreicht den Versuch, eine Illusion inhaltlich-formaler Einheit zu erzeugen, die in Wirklichkeit so nicht vorhanden ist. – Jürgen Becker, der sich mit dem Titel seines Gedichts, „Vorläufiger Verlust“, gegen den zeitüblichen „Fortschritt der Klage“ diskret-mutig auflehnt, hat einen „Rückzug“ ins Positive angetreten, auf dem ihm die eigene Sprache zum Vorteil der Verse noch nicht immer hat folgen wollen.
Franz Norbert Mennemeier, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982
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