… UND DANN AUF EINMAL …
Federico Fellinis „Amarcord“ (1973)
Der Bildschirm ist klein, zu klein
für die Fülle der Bilder,
für die prallen Brüste der Frauen,
die klaren Gesichter der Kinder.
Der Ton ist leise, zu leise
für die Lebhaftigkeit der Menschen,
für Nino Rotas’ Musik,
für den dünnen Onkel im Baum,
der herzzerreißend brüllt:
„Ich will eine Frau!“
Die Faschisten marschieren schon
vorbei an einer schönen Dame in Rot,
mit einem bezaubernden Lächeln,
Gradisca, ihr Name,
von allen begehrt,
Schuljungen, Ehemännern,
Junggesellen und Priestern,
heiratet einen Carabiniere,
gefeiert wird an langer Tafel am Strand.
In der Ferne der Ozeanriese
auf der Fahrt in eine bessere Zukunft.
… und dann auf einmal…
umhüllt dichter, milchiger,
undurchdringlicher Nebel
Häuser und Plätze,
ein kleiner Bub in kurzen Hosen,
in einer braunen Pelerine,
die Kapuze auf dem Kopf,
tritt auf die Straße,
bleibt stehen,
erstaunt, verwundert, gebannt.
Vor ihm mit stolz erhobenem Haupt
ein kräftiger weißer Stier,
der ihn unverwandt anblickt.
Nun senkt er graziös die mächtigen Hörner,
setzt Fuß vor Fuß,
tritt aus dem Bild.
… und dann auf einmal …
beginnt es zu schneien,
in dichten großen Flocken,
heben die Menschen die Augen zum Himmel,
rufen laut durcheinander,
zwischen den Häusern schwebt
ein großer Vogel langsam zur Erde,
landet auf den Stufen des Brunnens,
die Menschen verstummen,
und in das Blau der Nacht
schlägt der Pfau ein grüngoldenes Rad.
(2010)
Franziska Raimund wurde im Jahr 1944 im oberösterreichischen Bad Hall als Franziska Stransky geboren. Ihre Mutter war aus Wien zu Bauern in einem Dorf in der Nähe von Bad Hall evakuiert worden, zusammen mit der 1932 geborenen ersten Tochter, Elisabeth. Der Vater, aus einer Prager jüdischen Familie stammend, schon früh zum Katholizismus konvertiert, von Beruf Chemiker, war damals, nach mehreren Verschickungen in deutsche Lager, in einem Arbeitslager, einem Nebenlager von Mauthausen, nicht weit von Bad Hall, interniert.
Der Fußmarsch der Mutter durch das vom Krieg zerstörte Land von Linz nach Wien bei Kriegsende, allein, an einer Hand die 12-jährige Tochter, im Kinderwagen das einige Monate alte Baby, darauf ein Koffer mit den wenigen Habseligkeiten, war ein beeindruckendes, widerstrebend hin und wieder thematisiertes Element der Familienerzählung.
Franziskas Kindheit war glücklich: sie wurde geliebt, sie, das spätgeborene Kind, war das Symbol für das Überleben in einer Schreckenszeit der Verfolgung und des Kriegs, war der Garant eines Neubeginns, eines Aufbruchs voll prekärem Optimismus.
Franziska wuchs zuerst in Kagran auf, dann im ersten Wiener Gemeindebezirk. Sie absolvierte ein Gymnasium, maturierte mit Erfolg, studierte Germanistik und Romanistik an der Universität Wien, überstand unbeschadet mit Hilfe ihrer Eltern und in der Gewissheit einer exzeptionellen familiären Geborgenheit die mehr oder weniger tragischen Wirren der Pubertät und des frühen Erwachsenenalters.
Ein Schlüsselereignis, das ihr Leben bis heute bestimmt, war im Alter von 13 Jahren, während einer Abwesenheit ihrer Eltern, die zufällige Entdeckung von versteckten Dokumenten aus der Zeit des Nationalsozialismus, auf denen der Name ihres Vaters, Karl, mit ISRAEL überstempelt war und der ihrer Großmutter, Olga, mit SARAH. Der Vater hatte ihr nie gesagt, dass er Jude war. Als Heranwachsende empfand sie diese Tatsache lange Zeit als eklatanten, unverzeihlichen Vertrauensbruch.
So wie in den Familien der Täter des Nazi-Regimes – dort allerdings aus Gründen des Verschweigens, manchmal vielleicht sogar aus Scham – wurde auch in den Familien der Opfer des Holocaust konsequent nicht über die tragischen Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus geredet. Das Vergangene war vergangen und tabu. Das war quasi Gesetz.
Dario Calimani sagt in seinem Buch Der Jude auf der Kippe über dieses „Gesetz des Schweigens“:
Das Schweigen als Notwendigkeit und als Verteidigung. Um den Schmerz nicht hochkommen zu lassen, um ihn den anderen nicht aufzubürden. Oder aus einfachem Mangel an Worten, die das Unmenschliche sagen und darstellen könnten.
Die Familie von Franziskas Vater, die Mutter, die Geschwister, sie alle wurden in verschiedenen Konzentrationslagern in Polen ermordet. Da die Eltern von Franziskas Mutter schon vor dem Krieg verstorben waren, wird Franziska ein Leben lang alle beneiden, die Großeltern, Onkel und Tanten haben…
Durch die Entdeckung ihrer jüdischen Herkunft jedenfalls wurde Franziskas Interesse für das Judentum, für alles Jüdische, trompetenstoßartig geweckt: sie frequentierte von da an nur mehr jüdische Kreise Gleichaltriger, rekrutierte später dann das Personal ihrer Liebesbeziehungen zumeist aus diesem Milieu, versäumte keine der Vernissagen jüdischer Künstler im damaligen Wien, beschäftigte sich vornehmlich, in der Schule gefördert von einer empathischen Deutschlehrerin, mit der Literatur jüdischer Autoren – so ergab es sich wie selbstverständlich, dass sie schließlich am Ende ihres Germanistikstudiums eine Dissertation über die für sie zu einem Idol gewordene Dichterin Else Lasker-Schüler verfasste…
Bemerkenswert allerdings ist, dass sie – instinktiv aus Selbstschutz? – bis zum heutigen Tag die intensive Konfrontation mit den Gräueln des Antisemitismus in der NS-Zeit und eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Holocaust bewusst vermieden hat sieht man von der sie tief beeindruckenden Lektüre von Ist das ein Mensch? von Primo Levi ab; auch hatte sie nie den Drang, zu einem umfassenderen Verständnis der Welt des Judentums zu gelangen oder gar die Konversion zum Judentum zu wagen.
Das öffentliche Bekenntnis zu einer kulturellen, religiösen, ethnischen, wie auch immer gearteten Gruppe, Gruppierung, Vereinigung oder Gemeinschaft oder gar das Sich-Identifizieren mit einer politischen, religiösen Weltanschauung ist für die unmittelbaren Nachkommen der Kriegs- und Holocaust-Generation bis heute fragwürdig, suspekt, problematisch, ja unmöglich geworden. Was sie allerdings unbeeinflussbar „in den Genen“ mitbekommen hatte, war die den Juden seit jeher zugeschriebene „Wortgläubigkeit“, der Glaube, dass das Gesagte, Ausgesprochene, Geschriebene, im Buch oder sonst wie „Festgemachte“ ein Gewicht hat, das UNBEDINGT zu respektieren ist, das UNBEDINGT verbindlich ist, das verpflichtet. Sie wird ihr Leben lang Probleme mit allzu leichtfertigem, nicht ernst gemeintem Gerede, mit dem gängigen „small talk“ haben, aber auch mit dem weit verbreiteten „Selbstschutzmittel“ Ironie.
Sprache und Literatur bestimmten auch nach dem Studium Franziskas Leben. Sie unterrichtete Französisch und Deutsch am Akademischen Gymnasium in Wien, erwarb sich privat ausgezeichnete Italienischkenntnisse, machte – vor allem auch aufgrund all dieser Sprachkenntnisse – später eine erstaunliche Karriere an einer Internationalen Schule mit Unterrichts- und Umgangssprache Englisch, am UNITED WORLD COLLEGE OF THE ADRIATIC in Duino/Italien, einem der inzwischen zahlreichen UWCs.
Einige Jahre vorher hatte sie – auch für sie selbst überraschend spontan – einen damals gerade verwitweten Lehrer und angehenden Autor mit einem dreijährigen Kind geheiratet, mit dem sie nun seit beinahe fünfzig Jahren lebt, mit dem sie auch alle „Höhen und Tiefen“ des Lebens eines „Freischaffenden“, eines Lyrikers, Autors von Kurzprosa und Übersetzers „mitgemacht“ hat und für den sie seit jeher ein unabdingbarer Stabilitätsfaktor ist, ein „Fels in der Brandung“ des beruflichen und familiären Alltags.
„Geschrieben“ hat sie schon früh – in jugendlichem Alter Gedichte, die im Lauf der Jahre verlorengegangen sind, später dann auch immer wieder Gedichte, u.a. im Rahmen eines von ihr jahrelang an der internationalen Schule veranstalteten „Poetry Workshops“, im Wettstreit mit den Schülern, Texte, in mehreren Sprachen, die dann auch in einer jährlich in der Schule erscheinenden Publikation mit dem Titel Sottovoce abgedruckt waren; in den letzten Jahren auch umfangreiche Notizen und Reisetagebücher…
Es war aber wahrscheinlich die gemeinsame Initiative von ihr und ihrem Ehemann, im Löcker Verlag in Wien eine COLLANA, eine Reihe internationaler Lyrik in Übersetzung, herauszugeben, in deren Verlauf sie sich vor allem als ausgezeichnete Übersetzerin und auch als kompetente, unbestechliche Lektorin bewährt hat – dass sie die Lust verspürte, einmal auch EIGENES, ihre oft insgeheim verfassten, irgendwie nicht ernst genommenen, ungedruckten, hier und dort verstreuten lyrischen Texte einmal zu sammeln und endlich AUCH zu veröffentlichen. Das Ergebnis dieser Sichtung liegt nun in dem Band CHIAROSCURO / DAS HELLE UND DAS DUNKLE vor. Nicht zufällig erinnert dieser Titel an den einer Sammlung von Gedichten von Else Lasker-Schüler: HELLES SCHLAFEN DUNKLES WACHEN. Stilistisch haben Franziskas Texte allerdings nicht das Geringste mit dem expressionistischen, das Ich voll Pathos und mit lakonischer Larmoyanz in Szene setzenden, lyrischen Gestus der großen Dichterin und großen Frau Lasker-Schüler gemein.
Die in die Abschnitte MENSCHEN / TIERE / PFLANZEN / ORTE gegliederten Texte bestechen schon auf den ersten Blick durch ihre Zugänglichkeit, ihre Unverstelltheit, Direktheit, Schlichtheit, derart also durch den offensichtlichen Verzicht auf jede Art literarischen, zeitgeistig „dichterischen“ Gehabes. Der italienische Begriff „Chiaroscuro“, deutsch: „Helldunkel“, französisch: „Clair-obscur“, ist in der Malerei und Grafik der Spätrenaissance und des Barock die Bezeichnung für ein Gestaltungsmittel, das durch starke Hell-Dunkel-Kontraste charakterisiert ist, durch „gehöhte Partien“, „Spitzlichter“, „Schlagschatten“, die vor allem der Steigerung des Ausdrucks dienen. Allerdings haben die vorliegenden Texte mit diesem Gestaltungsmittel der bildenden Kunst, das, auf die Sprachkunst zu übertragen durchaus reizvoll und einen Versuch wert wäre, nur indirekt zu tun: worum es in diesen unmittelbar verständlichen, in Aufbau und Aussage klaren Texten geht, das ist die Gegenüberstellung, das Neben- und Miteinander von Gegebenheiten, Ereignissen, Erlebnissen, Umständen einer Lebenswirklichkeit, die als HELL oder als DUNKEL erlebt, erfahren worden sind und erinnert werden – wobei die Qualität HELL nicht unbedingt positiv konnotiert ist und die Qualität DUNKEL nicht unbedingt negativ, vor allem, was die Lebensabschnitte Kindheit und Alter betrifft.
Die Texte dieses Buchs sind „offene“ Texte: der Leser muss keine Barrieren aus weit hergeholten Vergleichen, schwer nachvollziehbaren Metaphern, ausgeklügelten Wortspielen, drucktechnischen Finessen und anderen in der modernen Lyrik gängigen, dem Konsum des Textes aber oft abträglichen Eigenheiten überwinden, um i n den Text h i n e i n zu gelangen: es sind „barrierefreie“, leicht zugängliche, einladende Texte in – im besten Sinn des Wortes – einfacher Sprache, die dem Leser die Möglichkeit geben, sich im Sprachgebäude des Texts frei zu bewegen, sich – mit Zustimmung, mit Widerspruch – auf die Texte einzulassen, sich lesend in den Text „einzubringen“, mit ihm in einen Dialog zu treten, weil die Möglichkeit der Identifikation mit dem Gehalt, der Sprache, dem Ton des Texts von der Autorin gekonnt intendiert ist.
Hans Raimund, Hochstrass, im Dezember 2023, Vorwort
die das Helle und das Dunkle, die Kostbarkeit und Unwiederholbarkeit der menschlichen Existenz wahrnehmen. In ihnen ist das Ich der Dichterin stets präsent, unverstellt, uneitel und mit klarer Sprache, die ohne Kapriolen auskommt. Franziska Raimund vertraut auf die Kraft des Wortes, wenn es denn das richtige ist. Und sie sucht und wählt mit Bedacht. Was ihr wert ist, in diesem Gedichtband bewahrt zu werden, umfasst einen großen Zeitraum. Ihre Gedichte richten sich oft an ein Du, an das Kind, dem man die Vergangenheit verschwiegen hat, den Vater, den Partner. Nicht allen ist sie zugetan, befremdlich erscheint manchmal, was Menschen glauben, tun zu müssen. Aus der selbstgeschaffenen Ruhe heraus betrachtet ein lyrisches Ich die Vergangenheit und die Gegenwart. Poetische Sprachbilder erzählen von einem Leben im Einklang mit den Geschöpfen und der Natur, der Schönheit und der Würde alles Lebendigen, aber auch von der Angst vor Verlust und Zerstörung.
edition lex liszt 12, Klappentext, 2024
Klaus Ebner: Kontraste
poesiegalerie.at, 5.10.2024
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