– Zu Friederike Mayröckers Gedicht „wird welken wie Gras“ aus Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. –
FRIEDERIKE MAYRÖCKER
wird welken wie Gras
wird welken wie Gras · auch meine Hand und die Pupille
wird welken wie Gras · mein Fusz und mein Haar mein stillstes Wort
wird welken wie Gras · dein Mund dein Mund
wird welken wie Gras · dein Schauen in mich
wird welken wie Gras · meine Wange meine Wange und die kleine Blume
die du dort weiszt wird welken wie Gras
wird welken wie Gras · dein Mund dein purpurfarbener Mund
wird welken wie Gras · aber die Nacht aber der Nebel aber die Fülle
wird welken wie Gras wird welken wie Gras
Das Thema dieses Gedichts – die Vergänglichkeit alles Irdischen, zumal des Schönen und der Liebe also – ist uralt und ewig aktuell; immer wieder aufs Neue manifestiert es sich darum auch in der Dichtung, oft in ähnlichen oder gar denselben Bildern. Es ist deshalb nicht überraschend dass sich bei dem um 1950 entstandenen Gedicht Friederike Mayröckers nicht sofort erschließt, aus welcher Zeit es stammt. Vielmehr fühlt man sich bei der Lektüre zunächst in einen Hallraum versetzt, in dem Verse aus verschiedenen Epochen und in verschiedenen Sprachen durcheinander klingen.
Man wird an die Oden des Horaz erinnert, an die Psalmen – aus denen die Metaphorik tatsächlich teilweise übernommen ist –, an die Sonette Shakespeares, an die Vanitas-Dichtungen des Barock und auch an die vergänglichkeitstrunkenen Verse des jungen Brecht. Musikliebhabern wird zudem der zweite Satz des „Deutschen Requiems“ von Brahms in den Sinn kommen, dessen Text seinerseits auf die Bibel zurückgeht:
Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.
Auch aufgrund seiner Versform kann dieses Gedicht zunächst nicht eindeutig einer bestimmten Epoche zugeordnet werden: Auf derartig parallel gefügte, ungereimte Langverse stößt man in der modernen Lyrik, aber eben auch schon in den Psalmen. Zu dem Eindruck der Zeitlosigkeit tragen weiter der fehlende Titel und das offene durch kein abschließendes Satzzeichen markierte Ende bei: Das Gedicht hat keinen wirklichen Anfang und kein wirkliches Ende, es scheint aus den Tiefen der Zeit zu kommen und dorthin auch wieder zurückzukehren.
Und nicht weniger eindringlich als in den erwähnten älteren Texten wird das unausweichliche Vergehen- und Sterben-Müssen in diesem Gedicht beschworen. Sein Aufbau ist so einfach wie zwingend: Auf den unerbittlich wiederkehrenden, rhythmisch und klanglich prägnanten Halbvers „wird welken wie Gras“ folgt jeweils ein stark kontrastierender zweiter Halbvers von fragiler Musikalität und zarter Bildlichkeit. Während der erste Halbvers einer unpersönlichen, nicht näher bestimmten Instanz zugeordnet ist, äußert sich in dem darauf folgenden zweiten ein individuelles Ich. Diese Form erinnert an eine Litanei, also an ein Gebet, das abwechselnd von Vorbeter und Gemeinde gesungen oder gesprochen wird.
Ähnlich wie in einem solchen Wechselgebet ergibt sich in Friederike Mayröckers Gedicht ein Widerspiel zweier Stimmen, einer aufbegehrenden und einer verneinenden; ein Widerspiel, das immer wieder neu ansetzt und sich steigert bis zu dem Höhepunkt des Gedichts in der sechsten Zeile, in der die Verneinung zunächst ausbleibt und der Leser für einen Augenblick die Hoffnung schöpft, die aufbegehrende Stimme werde das letzte Wort behalten. Doch der erste Halbvers kehrt zurück, zweimal hintereinander sogar, und macht diese Hoffnung zunichte. In der letzten Zeile schließlich wird das Aufbegehren von dem wiederum zweimal wiederholten, nunmehr aber unwidersprochen bleibenden ersten Halbvers endgültig beendet. Das Gedicht wird so zu einem zwar kurzen, aber in seiner Wirkung umso gewaltigeren Gesang von der Liebe, der Schönheit und dem Tod – eine weitere Strophe des alten Liedes von der Sterblichkeit.
Bei genauerem Hinsehen werden dann aber doch Besonderheiten erkennbar, die das Gedicht als ein spezifisch modernes ausweisen, das so wohl erst im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben werden konnte. Anders nämlich als etwa in den Psalmen und in den Sonetten von Gryphius oder Hofmannswaldau fehlt in diesem Text jegliche metaphysische, transzendente Dimension. Hier gibt es keine Heilsgewissheit und kein Vertrauen auf Erlösung, weder im Glauben noch in der Liebe; das einzig Gewisse ist der Tod. Und auch eine andere Vorstellung, die in vielen der älteren Texte eine Rolle spielt, besitzt hier keine Geltung mehr: die Vorstellung, die Dichtung und allein die Dichtung könne dem allgemeinen Verfall widerstehen. Denn während Horaz der Vergänglichkeit voller Selbstbewusstsein sein „Exegi monumentum aere perennius“ („Ein Denkmal habe ich mir gesetzt, dauernder als Erz“) entgegenhalten und Shakespeare dem geliebten Du seiner Sonette (in Georges Übersetzung) verheißen konnte: „In ewigen Reimen ragst Du in die Zeit“, ist bei Friederike Mayröcker offenbar auch das Vertrauen in das Überdauern der Dichtung erschüttert. Zumindest lässt in diesem Gedicht nichts auf die Zuversicht der Autorin schließen, ausgerechnet ihr Gedicht könne vom Vergehen ausgeschlossen sein. Im Gegenteil: Es heißt ausdrücklich, auch das „stillste Wort“ werde welken, und es liegt nahe, dies auf das Gedicht selbst zu beziehen. Doch davon unberührt, sind diese Verse von berückender, von berauschender Schönheit. Wer sie einmal gelesen hat, vergisst sie nicht mehr.
Frieder von Ammon, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011
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