NACH DER LEKTÜRE MEHRERER GEDICHTE
VON JANNIS RITSOS
jetzt, denke ich, bin
ich endlich so weit
dasz ich sie alle
rufen lasse nach mir
ohne Laut zu geben :
endlich, denke ich, jetzt,
ohne mir Vorwürfe machen
zu müssen, jetzt, denke ich,
endlich, habe ich aufgehört hinter mir
herzulaufen
An welchen Merkmalen erkennt man eigentlich ein gutes modernes Gedicht? In einer bekannten Rede gab 1951 ein Sachverständiger den ebenso praktischen wie schlichten Rat: „Nehmen Sie bitte einen Bleistift wie beim Kreuzworträtsel und beobachten Sie: Andichten, WIE, Farbenskala, seraphischer Ton, und Sie werden schnell zu einem eigenen Urteil gelangen.“ Doch die vier negativen Kennzeichen, die Gottfried Benn hier anführt, sind, so fürchte ich, so unbrauchbar wie seine einschüchternde Feststellung, daß beim großen Lyriker alles auf die „sechs bis acht vollendeten Gedichte“ ankomme, daß Lyrik „entweder exorbitant sein“ müsse „oder gar nicht“.
Wichtiger als Kategorien der „Vollendung“ oder „Exorbitanz“ des Einzelgedichts scheint mir in der zeitgenössischen Lyrik der Blick auf das ganze Œuvre zu sein, und die in ihm realisierte Methode, Erfahrungen zur Sprache zu bringen. Für diesen Sachverhalt bietet eine überzeugende Probe aufs Exempel die immer noch zu wenig beachtete österreichische Lyrikerin Friederike Mayröcker. Sie hat seit 1946 über zwanzig Bücher veröffentlicht (neben Gedichten auch Prosa, Bühnentexte und Hörspiele) und ein thematisch und formal erstaunlich vielseitiges Werk zur Diskussion gestellt.
Ihre zahlreichen Texte lassen sich, grob gesprochen, in mindestens vier Phasen gliedern. Die erste scheint durch eine durchaus produktive Nähe zum Surrealismus, vor allem durch dessen Tradition des sprachlichen „Stillebens“ und Gertrude Steins Publikation Tender Buttons (1914) bestimmt; die zweite durch den Einfluß der experimentellen und linguistischen Dichtung (von Eugen Gomringer über Max Bense und Helmut Heißenbüttel bis hin zu Ernst Jandl und der Wiener Gruppe); die dritte Phase ist durch den Übergang zur Prosa charakterisiert, und die vierte, vorläufig letzte, deutet eine Abwendung von der surrealistischen und linguistischen Spielart poetischer Texte zugunsten von mehr kommunikationsoffenen Arbeiten an. Statt Wirklichkeit und Welt ausschließlich aus Sprache herzustellen, setzt die Autorin nunmehr Sprache in ihre alten Rechte ein: es wird mit ihr und durch sie wieder Wirklichkeit und Welt beschrieben. Friederike Mayröckers neuester Gedichtband versammelt unter dem auffallend unscheinbaren Titel Gute Nacht, guten Morgen 139 Texte mitgenauer Datierung (eine leider seltene Tugend unter Lyrikern); der größte Anteil stammt aus dem Jahre 1981, ein kleineres Kontingent aus den Jahren 1980, 1979 und 1978. An diesen Texten läßt sich auch die für die vierte Phase reklamierte Veränderung ablesen. Die wenigen vitalen und materialreichen Langgedichte (zum Beispiel „IN THE STILL OF THE NIGHT“, „Salle des Machines“) die der neue Band enthält, wurden ausnahmslos vor 1981 geschrieben; sie verweisen außerdem auf frühere Phasen zurück, in denen die Autorin mit komplizierten Methoden jene „Wortpolyeder“ schuf, jene offenen Textmengen, an denen der Leser beißen und zu kauen hatte und die ihn außerdem ständig zur eigenen kreativen Mitarbeit provozierten.
In dieser neuen Publikation finden sich wohl noch manche Exempel des alten „freien“; oder „totalen“ Gedichts, harmonisiert sie weiterhin „Disparatestes“, versucht sie noch „eine vielgestaltige Koexistenz der verbalen Kräfte“, arbeitet sie zuweilen mit „Collagen, Montagen, Assemblagen“, liefert sie immer wieder Ausschnitte aus der „Gesamtheit ihres Bewußtseins von der Welt“, wie sie selbst einmal die Ziele ihrer Poesie beschrieben hat; allerdings geschieht das alles mit sparsameren Mittel sind die Texte leichter verständlich, enthalten sie weniger Leerstellen, das heißt Rätsel für den Leser, Diese Tendenz zur Kommunikation zeigt sich an darin, daß im Text oft der Kontext und damit der Sinnzusammenhang, in dem die verbalen Aussagen stehen, mitgeliefert wird.
Obwohl selbst in den vielen kürzeren Gedicht, aus dem Jahre 1981 manchmal noch Sprache metasprachlich reflektiert und objektiviert wird, ist hier Wirklichkeit eindeutig nicht mehr als ein bloßer „Vorwand für Wörter“ (Max Bense), sondern dienen Wörter wieder dem Ausdruck von Wirklichkeit. Mit anderen Worten: in den neuesten Arbeiten von Friederike Mayröcker läßt sich deutlich eine Abwendung von der konkreten Materialästhetik der experimentellen Dichtung diagnostizieren. Poetische Texte wie „Masse des Mondes“, „Trafikantin“, „Menschenalter“, „durch die Nelken“, „Äquilibristik“ weisen überdies eine geschlossene Form auf; die einzelnen Teile sind geradezu epigrammatisch auf einen Höhe- und Endpunkt bezogen, nach dem es keine Fortsetzung geben kann:
es windet
weisz, der
Vogel
knarrt im
Wald
umhalsend
zarte Fremdheit wenn
die Knospe
welkt
Die meisten der neuen Gedichte Friederike Mayröckers aus dem Jahr 1981 sind zwar leichter zugänglich als die früheren Texte, aber keineswegs Lyrik für ungeduldige Leser. Sie sind im besten Sinne poetisch anspruchsvoll. Die schwachen Stellen schleichen sich nur dort in ihre Texte ein, wo die Autorin aus ihrem produktiven „Poesie-Reservat“ (so ein Zitat aus dem Text „das Licht der Welt“) ausbricht und sich zu unvermittelt auf Alltagsmaterial („nicht ein noch aus“, „Depression“, „Kontaktlinsen“) einläßt oder verbrauchte Vokabeln („Schmerz- / milch“, „Gesicht von / Hals / und Hals von / Herz“) ohne Distanzierungssignale reproduziert.
Friederike Mayröcker gehört zu den einfallsreichsten Lyrikerinnen nach 1945. Ihre sinnliche, lyrische Rede hat Methode.
Walter Hinderer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.7.1982
Anonym: o. T.
Börsenblatt des deutschen Buchhandels, Heft 20/82, 9.3.1982
Anonym: o. T.
Wiener Zeitung, 23.4.198
Dieter Bitterli: Montgofieren und Panoramafieber
Luzerner Neueste Nachrichten, 8.5.1982
Beth Björklund: o. T.
World Literature Today, Frühjahr 1983
Alfred Focke: o. T.
Literatur und Kritik, Heft 171/172
Hans-Jürgen Heise: „Alle, alle Träum“
Stuttgarter Zeitung, 12.6.1982
Hans-Jürgen Heise: Tag- und Nachtträume
Kieler Nachrichten. 24.8.198
Alexander Hildebrand: Tradition und Experiment
Wiesbadener Kurier, 1.4.1982
Walter Hinderer: Poesie zum Beißen und Kauen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.7.1982
kb.: Surreale Bilder und Lebenserfahrung
Mittelbayerische Zeitung, 10.10.1986
Joseph Kissner: Die Welt des Buches (824)
Deutsche Zeitung, Sao Paulo, 21.2.1987
Patscheider: o. T.
Österreichischer Rundfunk, Landesstudio Kärnten, 17.3.1982
Elsbeth Pulver: Verlust und Nähe. Friederike Mayröckers Gedichtband Gute Nacht, guten Morgen
Neue Zürcher Zeitung, 14.8.1982
Roswitha Reichart: Den Schein zu greifen
Salzburger Nachrichten, 24./25.4.1982
Franz Richter: „Ein Frauenleben“
Die Furche, 4.8.1982
Heinz F. Schafroth: „Nicht trost-, aber trotzspendend“
Frankfurter Rundschau, 2.10.1982
Wendelin Schmidt-Dengler: Friederike Mayröcker: Gute Nacht, guten Morgen
Österreichischer Rundfunk, 13.3.1982
Ingeborg Teuffenbach: Subtile Sprachmuster voll Biographie: Neue Lyrik der Wildgans-Preisträgerin Friederike Mayröcker
Tiroler Tageszeitung, 16.4.1982
Ingeborg Teuffenbach: Friederike Mayröcker
Österreichischer Rundfunk, Landesstudio Steiermark, 17.5.1982
Alfred Warnes: Rezension
Wiener Zeitung, 23.4.1982
Christina Weiss: Gute Nacht, guten Morgen
Saarländischer Rundfunk, 27.6.1982
− Bodo Hell im Gespräch mit Friederike Mayröcker in deren Wiener Arbeitszimmer – am 28. September 1985. −
Bodo Hell: du hast in den vergangenen 30 Jahren an die 40 Bücher veröffentlicht
Friederike Mayröcker: ja, das kann ungefähr stimmen, verschiedene Bücher sind entweder in andere, größere Sammlungen von mir eingegangen oder in erweiterten Auflagen neu erschienen
Hell: und dann sind da noch die Hörspiele, die später eingesetzt haben, es sind, glaube ich, über 25 Hörspiele
Mayröcker: ja, die vier ersten Hörspiele sind zusammen mit Ernst Jandl entstanden
Hell: dann sind bisher 3 Bücher über dich erschienen, eines bei Heimrad Bäcker in der edition neue texte, dann bei text + kritik und das dritte bei Suhrkamp von Siegfried J. Schmidt, das ist das umfangreichste
Mayröcker: ja −
Hell: jetzt sind da viele Fakten, die zusammenkommen – fühlst du dich auch vom Zahlenmäßigen her in der Leserschaft gleich verankert?
Mayröcker: wenn man von dem Sich-Verankertfühlen überhaupt sprechen kann, fühle ich mich am ehesten mit meinen jüngsten Büchern in der Leserschaft verankert, z.B. von den Abschieden an, da war und ist der Widerhall groß, es gibt Leser, die mir schreiben, daß sie von diesen Büchern sehr betroffen sind, daß da Dinge drin sind, die sie ganz persönlich betreffen und daß sie das Gefühl haben, daß eine Identifikation stattfindet zwischen Autor und Publikum – jedenfalls hat die Rezeption im allgemeinen sich gebessert, seit ich meine Texte mit Freude und Engagement selbst vorlese, und das geschieht eigentlich erst seit Ende der sechziger Jahre, vorher habe ich auch Lesungen gemacht, aber sehr ungern. Manchmal war ich damals sogar froh, wenn ich Sprecher oder Schauspieler finden konnte, die für mich lasen
Hell: wobei die Kenner deiner Gedichte und Prosa sagen, daß du die ideale Interpretin bist, obwohl nicht schauspielerisch, also sprecherisch, geschult – viele Rezitatoren und auch die Sprecher in deinen Hörspielen machen ja etwas ganz anderes aus deinen Texten
Mayröcker: das ist etwas, worüber ich schon oft nachgedacht habe, was die Realisation beim Hörspiel betrifft, müßte man sich entscheiden, selbst mitzumachen, selbst Regie zu führen, usw., davor habe ich eine Scheu – ich glaube auch, daß man eine weitere Dimension hereinbringt, wenn man den richtigen Regisseur und die richtigen Sprecher für ein Hörspiel hat, d.h. verlangt
Hell: ich denke, daß eine gewisse Schamanisierung durch deine Stimme… wenn du liest, wenn nur genug Zeit verstreicht, wenn du genug Zeit zur Entfaltung hast, daß dann eine Schamanisierung des Publikums stattfindet, ist dir das recht?
Mayröcker: das ist mir, glaube ich, noch nie bewußt geworden, es hat auch noch nie jemand mit mir darüber gesprochen aber ich glaube, daß ich aus meinen jüngsten Büchern, aber auch aus den frühen Gedichtbüchern – manche Gedichte stammen ja aus den vierziger und fünfziger Jahren – recht gut lesen kann, wenn ich stimm- und stimmungsmäßig drin bin in der Sache: ich habe mir durch meine 24jährige Lehrtätigkeit eine Transversusschwäche, d.i. eine Stimmbandschwäche, zugezogen, so daß mich manchmal meine Stimme total im Stich läßt, das kann dann bei einer Lesung sehr unangenehm sein, d.h. man hört also im Kopf ganz genau, wie es jetzt gehört, wie man es sprechen, also lesen sollte und man kann es aber nicht, das sind ganz zermürbende Erfahrungen, Gefühle der Ohnmacht der Stimme… aber es gibt, besonders in jüngster Zeit, Lesungen, wo ich am Schluß das Gefühl bekomme, das habe ich gut gemacht, das ist gelungen, usw., vor allem sind solche Lesungen dann wirklich authentisch nämlich in dem Sinn : ich realisiere lesend das, was ich mir vorstelle, wenn ich für mich selbst meine eigenen Bücher lese, d.h. es ist nicht die Realisation dessen, wie man es geschrieben hat, sondern es ist die Realisation dessen, wie man die eigenen geschriebenen Bücher, wenn man sie frisch gedruckt in die Hand nimmt, sie aufschlägt und darin liest, also wie man selber die eigenen Bücher liest – wenn das dann übereinstimmt, macht mich das sehr glücklich, ich mache eigentlich in jüngster Zeit sehr gerne Lesungen… dazu wäre vielleicht noch zu sagen, daß ich bei manchen meiner Texte, auch bei jüngeren und jüngsten, so etwas wie Leseversionen mache, d.h. ich streiche mir bei der Vorbereitung auf die Lesung gewisse Stellen an, bei denen ich etwas auslasse oder dazufüge, es handelt sich nur um geringe Veränderungen, es handelt sich aber manchmal auch um die Streichung eines Absatzes z.B., nicht deshalb, weil ich dazu nicht mehr stehe, sondern weil es mir innerhalb des Lesevorgangs irgendwie zum Hindernis wird, also dem Prozeß des Vorlesens im Weg zu stehen scheint
Hell: dann wäre doch ein Unterschied, ob jemand die stille Lektüre bei sich zu Hause oder −
Mayröcker: ja sicher, das ist ein großer Unterschied, aber ich kann die Frage, was dem Publikum mehr gibt, nicht beantworten – gibt es dem Leser mehr oder gibt es dem Hörer mehr
Hell: wenn wir jetzt auf die Titel deiner letzten Bücher eingehen, die bei Suhrkamp erschienen sind, vom ersten DAS LICHT IN DER LANDSCHAFT bis zum jüngsten, DAS HERZZERREISSENDE DER DINGE – wenn man die Titel also schnell für sich durchgeht, FAST EIN FRÜHLING DES MARKUS M., DIE ABSCHIEDE, REISE DURCH DIE NACHT, HEILIGENANSTALT, DAS HERZZERREISSENDE DER DINGE, dann gibt’s sozusagen ein gewisses Bild vom Titel her, das für dich als Autorin gelten kann oder gewünscht wird, für meine Begriffe sagen also die Titel noch sehr wenig über das, was in den Büchern steht, ich habe eher das Gefühl, sie sind sozusagen geglättet − − sie geben eine gewisse Art poetischer Lebenshaltung, die dir ja anhängt, in gewissem Sinn, die aber nichts mit der Präzision und der Kühnheit deiner Texte zu tun hat, würdest du das unterstreichen oder −
Mayröcker: ich sehe es zum Teil so wie du, aber auch ein wenig anders : einerseits arbeite ich oft vom Titel her, d.h. am Anfang eines Buches, eines Prosabuches, schwebt mir ein Titel vor, und dieser Titel strahlt dann etwas aus für mich, eine gewisse Magie oder so etwas, andererseits weiß ich, daß ein Titel, der von Anfang an den Leser nicht irgendwie anzieht und reizt auch verhindern wird, daß sich der Leser dieses Buch kauft – ich habe auch selbst das Gefühl, daß mich Bücher anderer Autoren vom Titel her anziehen und reizen, wenn mich etwas am Titel eines Buches reizt, muß ich dieses Buch auch sofort haben −
Hell: kannst du uns einen dieser Titel aus der letzten Zeit sagen – hast du einen in Erinnerung?
Mayröcker: WARTEN. VERGESSEN, z.B., von Blanchot, das wäre ein Titel, der mich sehr angezogen hat, aber auch alle Titel der Prosatexte von Beckett, wenn man Beckett liest, wenn man diese Prosatexte liest, überschwemmt einen das ja so, daß man sprachlos wird, daß es einen sprachlos macht, und man das Gefühl bekommt, man sollte, man kann überhaupt nichts mehr schreiben
Hell: der Beginn deiner Arbeit, ich weiß, daß du manchmal sagst, wenn eine Arbeit abgeschlossen ist, dann ist das große Loch da oder man fällt ins große Loch, um das ganz einfach zu sagen, als ob nichts mehr geschrieben werden könnte, wie du es sagst, und dann gibt es wieder einen neuen Anfang, entwickelt sich aus einer Keimzelle ein kleinerer oder größerer Text, und ich glaube, du kannst das vorher nicht abschätzen, was das wird −
Mayröcker: es ist so verschieden, oft, meist, weiß man ja gar nicht, wohin man will, es passiert immer wieder, daß Otto Breicha, Herausgeber der Zeitschrift protokolle, bei dem ich seit 1966 mitarbeite, so einen Hinweis gibt, auf die Art : also, ich würde für die neue Nummer der protokolle eine Prosa brauchen von dir, Thema soundso
Hell: es stört dich nicht, wenn ein Thema von außen an dich herangetragen wird?
Mayröcker: im Gegenteil, das ist mir sehr willkommen – es gibt aber auch andere Anfänge, es gibt diese Phasen des Gedichteschreibens… man hat bis zu einem gewissen Tag, wenn man länger an einer Prosa gearbeitet hat, eine lange Prosa beendet hat, das Gefühl, man kann überhaupt keine Gedichte mehr schreiben, nie mehr werde ich wieder ein Gedicht schreiben können, und plötzlich ist dann dieses Körpergefühl da, dieses Körpergefühl, das einen veranlaßt, ein Gedicht zu schreiben, kaum ist das erste Gedicht da, so wie es im heurigen Sommer war, dann geht schon eins ins andere, eines geht ins andere über, eines zeugt das andere, oder ein Titel zeugt das nächste Gedicht, das nächste Gedicht zeugt den nächsten Titel zu einem Gedicht… in den letzten Monaten habe ich eigentlich ziemlich viele Gedichte geschrieben, oft 4 oder 5 lange Gedichte an einem Tag, und seltsamerweise ist das überhaupt nicht anstrengend gewesen, in dem Sinn anstrengend, wie es einen anstrengt, wenn man eine Prosa schreibt, also nicht anstrengend in dem Sinn, daß man keine Einfälle hat, sondern daß es einen körperlich und seelisch anstrengt, ich weiß nicht, es ist so ein Feuerrad, und das war bei diesen jüngsten Gedichten überhaupt nicht so, das war einfach so, daß man das Gefühl hat, ich suche jetzt in der Wohnung nach irgendwas, in der Früh, ich suche irgendwas, es ist aber nicht ein Gegenstand, den ich suche, ich suche nach einem emotionalen Anstoß, und dieser emotionale Anstoß bringt dann schon, wirft sozusagen, schleudert, die ersten Worte heraus, das alles hat sehr viel mit körperlichen Dingen zu tun, ich meine, auch mit erotischen Dingen. Rilke, glaube ich, hat gesagt, Schreiben ist gleichzusetzen mit Liebe, für mich sind das eigentlich Liebesakte, das Schreiben ist eine Art von Liebesakt, und diese Gedichte in den letzten Wochen und Monaten waren eine Befreiung für mich, also nicht das Geringste an Anstrengung, und es sind Gedichte dabei, die ich nicht ein einziges Mal überarbeiten mußte, sondern die dann einfach da waren, die sind eigentlich fast von selber aufs Papier gekommen – also das ist eine sehr glückliche Phase gewesen
Hell: früher war es so, daß du ja von den äußeren Bedingungen her nur hier, wo wir hier sitzen, in deinem Arbeitszimmer, in deinem Elendsquartier, wie du es einmal genannt hast, arbeiten kannst und nirgends anderswo, heuer im Sommer wars aber das erste Mal, daß −
Mayröcker: es war für mich eine ungeheure Überraschung, es war wirklich das allererstemal, daß ich außerhalb dieser Wohnung etwas geschrieben habe, ich glaube aber – ich habe da so einen Verdacht, ich glaube, daß die Gedichte, die ich in Rohrmoos im heurigen Sommer geschrieben habe, doch anders geworden wären, hätte ich sie hier geschrieben, d.h. sie wären wahrscheinlich noch intensiver geworden −
Hell: führst du es auf die Umgebung der Stadt oder auf die Konzentration hier im Raum zurück −
Mayröcker: ich führe es vor allem darauf zurück, daß ich mir sozusagen selbst überlassen bin, daß ich allein wohne hier und daß ich in jeder Beziehung schalten und walten kann wie ich will, daß ich niemandem verantwortlich bin, daß ich auch nicht irgendwelchen Umständen verantwortlich bin, mich verantwortlich fühlen muß, das spielt eine große Rolle, denn ich bin ja im Grunde ein gewissenhafter Mensch, so erzogen, und habe 24 Jahre lang brav diesen Unterricht in der Schule gegeben – in dem Augenblick aber, wo ich das Gefühl habe, ein anderer Mensch neben mir würde auch nur eine Winzigkeit von mir erwarten oder brauchen, dann ist es aus
Hell: auf manchen deiner Materialkisten oder -schachteln steht dann auch das kleine Schildchen drauf TABU −
Mayröcker: das TABU geht in meine ganz frühe Kindheit zurück, ich bin aus Erziehungsgründen nie ins Kino mitgenommen worden als Kind, aber einmal, ich glaube mit 6 oder 7 nahmen mich meine Eltern mit ins Kino, zu meinem allerersten Film, der hat TABU geheißen, und dieser Film hat mir einen ungeheuren Eindruck gemacht, seit dieser Zeit gibt es bei mir, existiert bei mir das Wort TABU, ja besetzt mit allen diesen ersten Kinokindheitseindrücken und auch -schocks, ich weiß jetzt noch das letzte Bild: das wellenschlagende Meer und ein ertrinkender Mensch, und wie seine Hand noch aus dem Wasser herausragt – dieses TABU habe ich mir sozusagen angeeignet, da ist natürlich auch so eine humorvolle oder absurd-groteske Kindheitseinstellung dabei, so wie die Zeigehändchen an meinen diversen Stößen von Büchern, Manuskripten und dergleichen, d.h. BITTE HÄNDE WEG : das gehört nur für mich und niemand soll daran rühren, das praktiziere ich dann auch im besonderen Maße vor einer Reise, weil ich ja immer damit rechne, daß ich vielleicht eines Tages nicht mehr zurückkomme, aus irgendwelchen schrecklichen Gründen, und daß dann die Leute sich einmischen in Dinge, die unfertig sind, z.B. oder so, das ist eine große Angstvorstellung für mich, jemand könnte an etwas rühren, das mir sozusagen heilig ist −
Hell: es gibt von dir nicht nur die Zeigehändchen, sondern es gibt auch Zeichnungen, die in ähnlicher Art groteske oder wilde Situationen darstellen, z.B. eine brennende Kerze unterm Arm oder zwischen den Beinen, machst du diese Zeichnungen als automatische Zeichungen nebenher oder in Zyklen?
Mayröcker: nicht als automatische Zeichnungen, auch nicht phasenweise, sie entstehen nur ganz vereinzelt, und sie entstehen meist dann, wenn ich entweder eine längere Arbeit gemacht habe, die mich total erschöpft hat, so daß ich also irgendetwas, ein Gefühl, zeichnen will, oder, beim Briefschreiben, wenn ich spüre, jetzt kann ich eigentlich nichts mehr anfügen, dann mach ich meist noch eine Zeichnung dazu, die Zeichnung sagt dann unter Umständen mehr als dieser ganze Brief −
meine Zeichnungen sind sehr primitiv, meist auch naiv, sie bestehen fast immer aus Strichmännchen, die mir ähnlich sehen sollen, oder aus seltsamen runden Köpfen, meist katzenähnlich, oder hundeähnlich, weil ich mich ja manchmal als Hund fühle – ich habe ja eine große Affinität zu Tieren überhaupt, vor allem zu Hunden, und so kommt also immer dieses Hunde- bzw. Katzengesicht zum Vorschein, so eine Art Double von mir, aber auch absurd gemeint oder so −
ich habe Phasen gehabt, z.B. während des Schreibens der ABSCHIEDE, da habe ich Zeichnungen gemacht, da habe ich Verschiedenes in den Zeichnungen ausgedrückt, das mir nicht möglich gewesen wäre in den Text der ABSCHIEDE einzubringen, z.B. dieses Bild mit dem auf zwei dünnen Beinen gehenden Herz an einer langen Leine, eine dünne Figur hält dieses gehende Herz an der langen Leine wie einen Hund und dazu die Bildunterschrift : AN DIE KANDARE GENOMMEN −
Hell: es gibt ja auch eine Sammlung einer Reihe von Zeichnungen in der HERBSTPRESSE : IM NERVENSAAL −
Mayröcker: IM NERVENSALL, ja da sind ein paar Zeichnungen drin, aber ich finde viele Zeichungen auch nicht mehr, hier in diesem Chaos bei mir, ich habe auch viele verschenkt, ich weiß gar nicht mehr, wer die alle besitzt – aber es ist auch gar nicht so wichtig
Hell: das Optische spielt bei dir schon vor der Arbeit, wenn man das überhaupt trennen kann, die Niederschrift und die sonstige Arbeit, die Vorarbeiten, eine große Rolle, du hast ja auch in deiner Staatspreisrede das erotische Auge als wahres Instrument des Autors benannt
Mayröcker: ich bin ein Augenmensch und erfasse eigentlich alles nur durch die Augen, vieles entsteht bei mir durch optische Erfahrungen im Alltagsleben, was ich sehe, was mir auffällt, kann sich augenblicklich verwandeln in eine Metapher, d.h. das Bild wird unter glücklichen Umständen sofort zum Wort, zu Wortkonstellationen, zur Metapher, und darum ist es wahrscheinlich manchmal so schwierig, meine Metaphern aufzulösen, ich selbst kann das oft kaum, weil ich im Nachhinein oft nicht mehr rekonstruieren kann, aus welcher Alltagssituation, aus welchem Alltagslebens-Bild es sich mir verwandelt hat
das nächste wäre die Affinität zur bildenden Kunst überhaupt, besonders zu Magie enthaltender Malerei, in den fünfziger Jahren die große Nähe zum Surrealismus, aber auch z.B. zu einem Maler wie Chagall, ich erinnere mich, ich war wie verrückt nach einem Plakat, in den frühen fünfziger Jahren, es war ein Werbeplakat für Paris, ich sah es in einem Reisebüro, und es zeigte das berühmte Chagallbild BRAUT UND BRÄUTIGAM MIT DEM EIFFELTURM, da entstand später dann auch ein Gedicht mit dem gleichen Titel, obwohl ich damals Paris nicht kannte, war ich fasziniert von dieser Paris-Atmosphäre auf dem Chagallbild, ich weiß noch, ich hängte es mir über dem Schreibtisch auf, während ich dieses Gedicht schrieb, ich war fasziniert von diesem Plakat −
das geht dann weiter, es geht über Magritte und Max Ernst und Dali und Goya, auch Zeitgenossen – … Duchamp, es ist auch schwer zu sagen, was mich so reizt an der Malerei, oft sind es die unscheinbarsten Dinge an bestimmten Bildern von bestimmten Malern, die mich so in ihren Bann ziehen, ich kann es nicht beschreiben, was es ist, was dann in mir solche Schreib-Parallelen hervorruft, sicherlich spielt eine gewisse Magie, also Bildmagie mit, etwa bei Rousseau, auch bei Magritte, vor allem bei Max Ernst, es ist Verschiedenartigstes, es ist eben nicht der Kanon, ich weiß nicht bei Goya z.B., während ich die REISE DURCH DIE NACHT geschrieben habe, habe ich ziemlich viel von Goya angeschaut, gelesen, usw., und da hat mich z.B. am meisten diese Serie von Altersbildnissen fasziniert, wie er diese Bettler, diese alten heruntergekommenen Männer zeichnet, mit Bildunterschriften wie : arm und hilflos, schuldhaftes Elend, Unglücklicher am Straßenrand, kniender Greis mit gefesselten Händen, usw. – diese Bilder gehen einem ja durch und durch
Hell: und du liest auch die Biographien, schreibst aber in deinem letzten Buch, daß die Biographien dich immer etwas unzufrieden zurücklassen
Mayröcker: die letzte Biographie, die mich ungeheuer fasziniert hat, und die sicherlich auch ein Antrieb bei meinem jüngsten Buch DAS HERZZERREISSENDE DER DINGE war, ist die Autobiographie Salvadore Dalis gewesen, das ist ein Monsterwerk, und ein wirklich poetisches Werk, es wurde in den dreißiger Jahren geschrieben, ist aber jetzt erst deutsch erschienen – daß ich dann einen Satz schreibe wie: Biographien sind nicht immer interessant, manchmal auch langweilig, das ist nicht als autobiographische Aussage zu verstehen, natürlich lese ich auch Biographien, aber ich bin nicht besonders versessen darauf −
Hell: kann es sein, daß deine Bildauswahl oder deine Faszination von bestimmten Bildteilen, Inhalten oder Details ähnlich vor sich geht wie deine Lektüre, die ja auch eher sprunghaft, gleichzeitig mehrere Bücher, wie du es beschreibst, vor sich geht?
Mayröcker: das ist richtig, denn es geht ja kreuz und quer beim Lesen, ich lese meist 4 bis 5 Bücher durcheinander, oder es fällt mir irgendwas auf in einem Nachschlagewerk, eine Bildreproduktion, ganz schlecht und briefmarkenklein wiedergegeben zum Beispiel, und ich bin sofort davon begeistert – andererseits kann ich durch Ausstellungen gehen ohne die geringste Regung
Hell: ja du hast Bücher gemacht, um auf das noch zurückzukommen, mit zeitgenössischen Künstlern, eines mit Maria Lassnig ROSENGARTEN, dann mit Hubert Aratym CONFIGURATIONEN, mit Ernst Jandl HEISSE HUNDE, da sind Zeichnungen von Ernst Jandl, von Max Weiler, und, in der Eremiten-Presse von Klaus Rinke, und dann das Kinderbuch mit Angelika Kaufmann – wie siehst du den Zusammenhang zwischen Illustration – wenn man das überhaupt so nennen kann, und deinem Text : kennst du die Bilder vorher, kommen die nachher dazu, besprichst du dich, läuft es parallel, geht der Anlaß woanders her −
Mayröcker: fangen wir mit Ernst Jandl an, er zeichnet sehr gerne, und es war eine Serie von Zeichnungen da, zu denen ich gerne einen Text gemacht hätte, trotzdem war es nicht ganz einfach, denn seine Zeichnungen stehen so für sich, daß man kaum etwas hinzufügen kann, das nächste war dann die Zusammenarbeit mit Max Weiler, dem ich Gedichte aus den späten sechziger Jahren zur Verfügung gestellt habe, die ein wenig aus meiner sonstigen Gedichtproduktion, was die Form anbelangt, herausfallen, sie sind ein bißchen altertümelnd, barockisierend, etwa in der Art, wie Artmann einmal gearbeitet hat, zu diesen Gedichten hat Max Weiler Anfang der achtziger Jahre Grafiken gemacht und auch den Buchumschlag entworfen (SCHWARZE ROMANZEN). Dann habe ich zusammen mit Maria Lassnig das Buch ROSENGARTEN gemacht, sie kannte meinen Text und hat dafür eine frühere Radierung überarbeitet – ich schätze Maria Lassnig sehr und war sehr glücklich über diese Zusammenarbeit, zuletzt habe ich mit Hubert Aratym das Buch CONFIGURATIONEN gemacht, ich war einige Male in seinem Atelier und habe mir seine Bilder und Plastiken angesehen, es gibt da eine Serie von physisch-geistigen Vergewaltigungsbildern, die mir den größten Eindruck gemacht haben – eines davon, das mir am meisten herzugeben versprach für meinen Text, habe ich mir als Polaroidfoto machen lassen, weil ich für das Schreiben solcher Texte unbedingt eine Bildunterlage brauche, da wird ein Mensch eingezäunt, also hinter Zäunen eingesperrt, eigentlich eingemauert, also vergewaltigt, seltsamerweise habe ich dieses Bild verbunden mit Kindheitserinnerungen in Deinzendorf, dieser Sommeridylle meiner Kinderjahre, ohne daß es mir verständlich wird wieso – denn das war ja mein Paradies, der große Garten, der geräumige Vierkanter… aber es hat mit dem Begriff Zaun und Garten zu tun, die doch etwas Negatives für mich an sich gehabt haben müssen, ohne daß ich es mir bewußt machen hätte können
Hell: ja zu Deinzendorf, zu diesem Thesaurus oder Schatz, aus dem du immer wieder geschöpft hast, obwohl du einmal gesagt hast, du willst eigentlich nie mehr wieder über Deinzendorf schreiben, ist aber doch einiges erschienen… und du bist lange Zeit nicht mehr hingefahren und und bist aber dann doch wieder… dann ist auch ein Film dort entstanden
Mayröcker: es wurde 3 oder 4 mal dort gedreht, zuletzt mit dem Südwestfunk anläßlich des Südwestfunk-Literaturpreises, das war Anfang Juli, und da habe ich ein ganz eigenartiges Erlebnis gehabt, während mir die Jahre vorher alles doch sehr in die Ferne gerückt schien, war an diesem Tag im Juli, als wir dort filmten, genau die gleiche Stimmung wie in der Kindheit, die gleiche Luft- und Wetterstimmung, es war wirklich sehr merkwürdig, und die Schwalben… ich habe das Gefühl gehabt, die Schwalben sind die gleichen Schwalben wie damals vor 50, vor 55 Jahren, die haben genauso die Schnäbel aufgerissen, wie damals, und ich war so glücklich dort, und es war ein so herrlicher Tag, kein Mensch auf der Straße, es ist ein fast abgestorbenes Dorf sehr nahe der tschechischen Grenze, es war kein Mensch auf der Straße, es war alles völlig verzaubert, ich habe mich so gefühlt wie damals als Kind dort −
Hell: in einem deiner letzten Hörspiele wird das Thema Kindheit und Deinzendorf sehr stark umkreist, SO EIN SCHATTEN IST DER MENSCH, und auch in dem Hörspiel BOCCA DELLA VERITÁ −
Mayröcker: und in Bocca della veritá gibt es eine Assoziation von Ortsvorstellungen, also eine Art Übereinanderbelichtung von verschiedenen Orten, Rom, Venedig und Deinzendorf das hat mich damals sehr gereizt, so etwas zu versuchen, so daß ein Ort über dem anderen liegt, daß man plötzlich die Parallelen erkennt, obwohl ich schon einsehe, daß kaum jemand von vornherein überzeugbar ist, daß zwischen Rom und Deinzendorf irgendwelche Parallelen bestehen −
Hell: dann spielt nicht nur die Umgebung in Deinzendorf sondern auch ein gewisses Wiener Viertel, das allerdings sehr viele negative Erfahrungen für dich gebracht hat, eine Rolle, ich erinnere mich in dem Hörspiel SO EIN SCHATTEN IST DER MENSCH, wo also von diesem Keller im achten Bezirk die Rede ist und von deinem ersten Gedicht und einem brennenden Dornbusch und einem Klavier –
Mayröcker: ja – das erste Gedicht und der brennende Dornbusch – ja da kommen verschiedene Dinge zusammen, in der Wohnung meiner Eltern, ein Zimmer mit dem Fenster auf einen großen Gartenhof, struppiger, ungepflegter Garten, Häuserruinen, es war an einem Pfingsttag, ich saß am Fenster und schaute in diese Wildnis hinaus, und da hat plötzlich eines der Gebüsche zu brennen begonnen – ich hab das gesehen, und hab nachher etwas darüber geschrieben, aber kein Gedicht, ich hab es als kurze Prosaskizze aufgeschrieben, ich habe damals Prosaimpressionen gemacht, meine ersten Schritte waren also nicht Gedichte sondern Prosaskizzen. Erst viele Jahre später habe ich dieses Erlebnis in einem Gedicht verwendet, und nochmals in einem Prosatext, alles hat sich dann aber auch wieder verschoben, ist aus dem Autobiographischen herausgetreten, es ist dann plötzlich das erste Gedicht auf einem „grünseidenen Kanapee“ entstanden (HAMMERKLAVIERE) −
Hell: existieren auch die Vorformen, die alte Prosaskizze?
Mayröcker: alles vergraben, verkramt, ich schrieb das damals in ein sogenanntes Stammbuch, und ich begann auf der verkehrten Seite mit der Hand diese erste Prosaskizze zu schreiben es sollte das auch alles einmal, beizeiten, vernichtet werden, denke ich
Hell: ja vielleicht noch, ich habe mir gedacht, weil ja soviel an Bildern in deinem Arbeitszimmer hängt und aufgespießt ist oder mit Tixo ganz grob angeklebt ist, könnte man das eine oder andere benennen, beschreiben, die Geschichte, und weil wir schon so viel vom Einfluß der bildenden Kunst oder des Bildes überhaupt auf deine Arbeit gesprochen haben −
Mayröcker: ich umgebe mich gern mit Bildern oder Abbildungen oder Reproduktionen, die irgendwelche Beziehung zu meinen Schreib-Vorstellungen haben oder gehabt haben, aber am liebsten würde ich in einer riesigen Zelle hausen, mit kahlen Wänden, in einem riesigen Raum, nur Bücherregale an den Wänden, Zeichentische zum Auflegen des Arbeitsmaterials und viel Platz zum Herumgehen während des Schreibens, aber nun lebe ich schon 35 Jahre hier in dieser Wohnung, und da hat sich alles mögliche angesammelt – also es ist so, wenn mir was unterkommt, in einer Zeitschrift, oder ein Plakat, oder Reproduktionen von Bildern, Fotos, die mir etwas bedeuten, die mich zum Schreiben anregen, dann werden sie entweder hinter die Maschine gesteckt oder an die Schreibtischlampe, aber das meiste kommt an die Wände, die sind jetzt ganz voll, kein Eckchen mehr frei – vor ein paar Jahren, als ich Francis Bacon noch nicht so gut kannte, habe ich in einer Zeitschrift eine Reproduktion eines Bildes von Francis Bacon gesehen, das hat mich verfolgt („Drei Studien von Figuren auf Betten“), das hab ich vor Begeisterung nicht herausgeschnitten sondern wild herausgerissen und an die Wand geklebt, am liebsten würde ich ja alle Bilder, ich meine Reproduktionen von Bildern Francis Bacons hier aufhängen −
wenn ich hier vor dem Mikrophon sitze und über deinen Kopf hinwegsehe, sehe ich z.B. eine Photographie die du gemacht hast an der Wand hängen, gerahmt und verglast, die auch in dein Buch STADTSCHRIFT Eingang gefunden hat, die mag ich sehr, dann gibt es noch einige Bilder von Mia Williams (Künstlername Daniela Rustin) hier, die ich sehr schätze als Graphikerin und Malerin, dann gibt es noch Zeichnungen mit Schriftbildern von Raoul Hausmann, die er mir vor etlichen Jahren geschenkt hat, die betrachte ich immer sehr gern, dann gibt es noch eine Skizze der Martha Jungwirth über der Tür, Vorarbeit für ein größeres Projekt, das sie dann ausgeführt hat…
Hell: das Klavier das da ist, das Klavier ist schon so vollgeräumt und es ist schon so viel drauf, daß es kaum mehr benützt werden kann und auch nicht mehr benützt wird −
Mayröcker: das ist mir ein ganz heiliger Gegenstand (lacht), es stand ursprünglich in der elterlichen Wohnung, ich hatte es als Kind zu Weihnachten bekommen, ein Bösendorfer Flügel, habe als Kind Klavierspielen gelernt, aber überhaupt keine Begabung gehabt und bald wieder aufgehört damit, später habe ich dann das Klavier hierher mitübersiedelt −
und allmählich hat sich da allerhand angesammelt auf dem Klavier, sowohl auf als auch unter dem Klavier, so daß Besucher, wenn die Rede darauf kommt, wie viel Platz das Klavier einnimmt, erstaunt sind und fragen, wo denn das Klavier eigentlich ist, wo ist denn eigentlich der Flügel, fragen sie, also das Klavier ist vollkommen überwuchert von Büchern und Schriften und sonstigen wichtigen Dingen, es ist nicht mehr möglich, den Klavierdeckel aufzuheben, also die Tastatur ist nicht mehr zugänglich
Hell: trotzdem spielt die Musik eine große Rolle, das ist also der zweite wesentliche Bereich, der akustische Bereich
Mayröcker: ja die Musik spielt eine große Rolle −
Hell: wenn ich da nur rekapituliere, was du schon alles zur Musik oder in Anregung von der Musik her geschrieben hast, da sind diese wunderbaren Biographien unter dem Titel HEILIGENANSTALT, zeitgenössische Biographien vergangener Musikerleben, und du hast dich mit Chopin, mit Brahms, mit Bruckner, mit Schubert und zuletzt jetzt mit Bach beschäftigt in einem kurzen Text, und wenn ich die Titel rekapituliere hast du diese wunderbaren und in ganz andere Bereiche vorstoßenden Titel wie TISCH DER MATERIE bei Chopin, oder ODEON BRUCKNERS ÖDGARTEN, oder WETTERZETTELCHEN WIEN bei Franz Schubert…
… und jetzt bei Bach, in diesem kurzen Text bist du ja eigentlich von einer ganz anderen Sache ausgegangen, ich kann mich erinnern, obwohl du soviel Bach gehört hast und ihn auch in dich aufgenommen hast und gut kennst, hast du ein bißchen gezögert, zu diesem Giganten der Satzkunst etwas zu schreiben, es ist dir aber dann doch gelungen −
Mayröcker: ich liebe Bach, aber ich besitze überhaupt keine musiktheoretischen Voraussetzungen, etwas vom Musiktheoretischen her zu verstehen, zu ergründen, auseinanderzunehmen, sondern ich reagiere ganz gefühlsmäßig auf seine Musik – und dieser Versuch, jetzt einen Bach-Text zu schreiben, das ist mir vorgekommen wie eine Frivolität, wo ich doch gar nichts von Bach weiß, also fast nichts bis auf ein paar biographische Daten, aber dieser Bach-Text hat mir trotzdem große Freude gemacht −
das andere, zu HEILIGENANSTALT, es hat mit dem Schubert-Text begonnen, es war wieder eine Auftragsarbeit für die protokolle, wie schon des öfteren vorher, Otto Breicha wünschte sich eine „Schubert-Montage“, ich hielt entgegen, ich sei längst über die Phase des Montagetechnik-Arbeitens hinaus, aber er bestand darauf, und er deckte mich mit allem ein, was überhaupt aufzutreiben war über Franz Schubert, Bücher, Platten, Bänder, ich habe mich dann wochenlang mit diesen Sachen beschäftigt, habe dann den Titel geträumt : WETTERZETTELCHEN WIEN – mit dem Titel war schon die halbe Arbeit getan. Der nächste Auftrag, wieder für die protokolle, war, etwas über Brahms und Schumann zu schreiben, ich habe dabei versucht, das Verhältnis Robert, Clara Schumann / Johannes Brahms zu behandeln, oder aufzulösen, dann schrieb ich über Bruckner, und zuletzt den Chopin-Text, obwohl ich zu Bruckner am wenigsten Zugang hatte, habe ich mich dann doch recht eingehend mit seiner Musik, vor allem aber mit seiner Biographie beschäftigt, da habe ich einige Parallelen zu meinem eigenen Verhalten und meiner eigenen Lebenssituation gefunden, auch diese Art – ja eine Art… Gottesfürchtigkeit, eine Art kindlicher Gläubigkeit, daß man eigentlich nur durch den Heiligen Geist arbeiten kann, oder so alle diese Dinge, die ich bei Bruckner gefunden habe, kenne ich von mir selbst, das (scheinbar) Demutsvolle und (scheinbar) sich Unterordnende. Dann, als ich die Vorarbeiten zu Chopin begann, – ich ging in die Musikabteilung der Albertina, um Einsicht in seine Briefe an Freunde zu nehmen, exzerpierte auch einiges, aber zu Anfang des Sommers, als ich zum drittenmal kam, war die Sammlung geschlossen, das hat mir damals sehr zugesetzt, ich war ja mitten in den Vorarbeiten, hatte schon einige wunderbare Briefe Chopins an seinen Jugendfreund Titus Wojciechowski gelesen und teilweise exzerpiert, dann dachte ich mir, die einzige Möglichkeit, das Projekt zu retten, ist, daß ich eben diese nichtvorhandenen Briefe erfinde, erfinden muß
Hell: darum heißt ja auch der Titel : DIE GÄNZLICH VERSCHOLLENEN BRIEFE DES FREDERIC CHOPIN AN SEINEN FREUND TITUS WOJCIECHOWSKI
Mayröcker: da wollte ich noch dazu sagen, daß ich zu Chopin seit meiner frühesten Kindheit eine große Beziehung habe, eine Schulfreundin von mir, die schon als Kind komponiert hat und später die Pianistenlaufbahn eingeschlagen hat, leider mußte sie aus gesundheitlichen Gründen bald aufgeben, spielte schon als Kind sehr gut Klavier, aus diesen Kindertagen stammt meine Liebe zur Klaviermusik überhaupt, wir sind oft nachmittagelang bei ihr gesessen und sie hat gespielt und ich habe zugehört, Chopin, Schumann, Beethoven, Brahms, Liszt, besondere Vorliebe hatte ich für Chopin… das wurde später abgelöst durch eine Phase des Jazzmusikliebens, ausgelöst durch die von Ernst Jandl geliebte Jazzmusik, die er mir so eindringlich vermittelte, daß ich kein Jazzkonzert versäumen wollte und wir gemeinsam oft stundenlang Jazzplatten hörten, das war zu Ende, als ich auf die Rockmusik gestoßen bin, da habe ich mir dann nur Rockmusikplatten gekauft, und habe dann auch, angeregt durch diese Musik, und die ich während des Arbeitens abspielen ließ, etliche meiner Hörspiele geschrieben, meist habe ich immer die gleiche Platte abgespielt, bis sie unbrauchbar geworden war – aber dabei ist es nicht geblieben, Ende der siebziger Jahre, als ich begonnen hatte, HEILIGENANSTALT zu schreiben, kehrte ich wieder zurück zur Romantik, später dann auch Satie, inzwischen mein Liebling, zwischendurch aber auch immer wieder Bach, und mit der jeweiligen Plattenmusik ändert sich vermutlich auch irgendetwas an meiner Schreibhaltung, eine gewisse Art von Musik ruft eine gewisse Art von Schreibhaltung hervor, oder so ähnlich −
Hell: hörst du schon in aller Früh, bei Beginn der Arbeit, oder kommt es später, oder kannst du’s immer brauchen, oder nicht, oder
Mayröcker: ja, meist zu Beginn der Arbeit, oder während der ganzen Zeit des Arbeitens, manchmal nur als Anstoß, Anreiz, als Versuch, irgendwie unterzutauchen −
aber im Grunde tue ich der Musik ja unrecht, ich schreibe auch in meinem jüngsten Buch darüber, ich gebrauche sie, ich verwende sie, statt mich ihr zu widmen, mich ihr hinzugeben, sie ist fast nur ein Zweck, ein Mittel für etwas anderes, mir Größeres, eben das Schreiben, also ist mein Verhältnis zur Musik parasitär, manchmal habe ich eine Art Schuldgefühl der Musik gegenüber… ich habe das eigentlich nie gewollt, das Radio einfach so aufdrehen, und irgendeine Musik über mich ergehen lassen, das ist mir ein Greuel, das ertrage ich auch nicht, wenn es von der nachbarlichen Wand zu mir dringt, das ist dann wirklich schmerzlich
Hell: trotzdem stört dich der Stadtlärm nicht, hast du einmal gesagt, sondern im Gegenteil
Mayröcker: es stört mich viel mehr der individuelle Lärm, wenn ich in der warmen Jahreszeit die Fenster offen habe, höre ich dann natürlich auch Stimmen von der Straße herauf, oder ich höre Tritte, was mich sehr stört, aber das Vorbeifließen des Straßenverkehrs stört mich eigentlich nicht, es ist eine Art anonymes Geräusch…
Hell: und der Sommeraufenthalt im verwunschenen Garten von Rohrmoos, ohne gleich ein Klischee in die Welt zu setzen, wie siehst du die ganze und auch die akustische Umgebung dort vergleichsweise zu hier − − oder ist es gar nicht ruhig dort
Mayröcker: es ist nicht übermäßig still dort, eine Straße geht dort vorüber, aber es gibt keinen allzugroßen Verkehr, nur die Mopeds zum Wochenende empfinde ich als Ruhestörung… und was mich heuer sehr beeindruckt hat, waren die verschiedenartigsten Vogelstimmen, die ich leider nicht auseinanderkennen kann, es war manchmal wirklich ein Konzert
Hell: bedeutet die Natur irgendwas in deiner Arbeit oder ist sie ein kulturelles Versatzstück wie alles andere Benützbare oder ist es eine Gegenwelt oder ein ökologisches Problem
Mayröcker: ja, ja, ja, für die 1., die 3. und die 4. Frage von dir : also sie ist für mein Schreiben von Anfang an eine wesentliche Anregung gewesen, manches, was ich schrieb, habe ich sozusagen unmittelbar über die Natur empfangen, ich denke da nur an meine Kindersommer in Deinzendorf, wie oft habe ich darüber geschrieben, diese sanfte Natur in diesem niederösterreichischen beinahe abgestorbenen Dorf, die Lilien im Garten, die Weiden am Bach, die Gerstenfelder am Horizont, die Schwertlilien im Vorgarten, diese seltsam laue Feuchtigkeit in der Luft, der Fliederbaum im Innenhof… auch hier ist die Natur mir ganz nah, um die Ecke eine Robinienallee, die ich ins Herz geschlossen habe, jedes Jahr freue ich mich auf die 2 oder 3 Wochen, wenn die Bäume zu blühen, zu duften beginnen, dann ihre Blüten auf den Asphalt der Straße, auf die Gehsteige streuen… manchmal fühle ich mich auch als Baum, ich kann mich vollkommen mit einer Pflanze, einem Tier identifizieren, da war ein Baum auf einer Anhöhe in Rohrmoos, ich habe beim Anblick dieses Baumes (mit einer wunderbar weiten Krone) das Gefühl gehabt, ich bin dieser Baum ich strecke meine Arme weit aus ich stehe ganz in einer wunderbaren Freiheit da und blicke in die Welt…
Gegenwelt : schon auch, weil die Natur etwas ist, in das man sich flüchten kann, ich kann mich in den Anblick einer Blume, in den Blick eines Tiers, mit dem ich Kontakt aufnehme, in die Schönheit des Meeres flüchten, also Gegenwelten in mir errichten −
nein es ist kein kulturelles Versatzstück für mich –
und das Ökologische: ich würde was in meiner Macht steht, tun, um mitzuhelfen, dieses allgemeine Absterben in der Natur aufzuhalten −
Hell: du gehsts ja von der Einheit und von der Verwandlungsfähigkeit alles Lebendigen aus und hast das auch als Zitat in deinen Büchern
Mayröcker: ja, das mit dem Identifizierenkönnen reicht ja überall hin, nicht nur, wie ich schon gesagt habe, mit Tieren, besonders die Hunde haben es mir angetan, und wenn ich hie und da in den Tiergarten nach Schönbrunn gehe, habe ich wirklich das Gefühl, da sind wahrhaftig Brüder und Schwestern von mir, der Rüssel des Elefanten, das ist mein Rüssel, die Traurigkeit der Äffchen, das ist meine Traurigkeit, die verwahrloste Gefangenschaft der Adler und Geier, das ist meine Verwahrlosung, meine Gefangenschaft, na ja, und da ist natürlich die Konsequenz von all dem, ich kann mich natürlich auch mit allen möglichen Menschen identifizieren, so daß ich spüre, wie ich dieser Mensch bin, ich spüre dann wie er sich bewegt, und was er mit seinen Muskeln tut und wie er schaut – in den Monaten nach dem Tod meines Vaters 1978 bin ich einmal in einem Taxi gefahren und habe plötzlich das schockierende Gefühl gehabt, ich schaue jetzt mit den Augen meines Vaters, d.h. ich habe jetzt die Augen, den Blick meines Vaters und ich schaue genau mit den gleichen Augen wie es die seinen waren, mit dem gleichen Blick, wie er geschaut hätte. aus diesem Seitenfenster des Wagens hinaus, so schaue ich jetzt immer öfter, das geschieht mir immer öfter jetzt, daß ich mit den Augen, aus den Augenhöhlen anderer Menschen schaue… aber ich glaube das sind alles so Dinge am Rande der Parapsychologie, oder des Verrücktseins oder Wahnwitzes −
Hell: der Bereich der untergründigen Verwandtschaft, der in allem, wenn mans nur wahrnehmen kann, aufblitzt, der ist ja auch in deiner Methode, die Dinge zu sammeln, nicht nur das Optische und Akustische, sondern auch das Sprachliche, also die diversen Wortfunde oder das Gehörte, das du notierst – wie ich weiß, hast du ja keine Notizbücher oder Tagebücher in dem Sinn, wie mans von anderen Autoren kennt
Mayröcker: ich habe Notizbücher, in die ich schreibe, auch während des Gehens auf der Straße, oder zuhause, wenn ich rasch etwas festhalten will, und neben mir auf dem Bett in der Nacht, damit ich sofort aufschreiben kann, wenn ich verbal träume, diese Verbalträume, so am Rande des Einschlafens oder Erwachens sind sehr ergiebig, deuten auf geheimnisvolle Quellen, die dem Tagesbewußtsein nicht zugänglich erscheinen, ich wundere mich oft am Morgen, was da alles aufgeschrieben steht…
Hell: aber du schreibst nicht kontinuierlich in Tagebücher wie Canetti oder daß du vielleicht drei Tagebücher hast
Mayröcker: nein, ich führe kein Tagebuch, in den letzten Kriegstagen habe ich in ein altes Schulheft tagebuchartige Notizen gemacht, sieben Tage lang, – es ist schwierig, ich sehe da große Schwierigkeiten, ich würde mir schon gerne Fakten notieren, wenn ich mir vorstelle, ich hätte alle Fakten seit meiner Kindheit notiert, vielleicht auf Kalenderblätter, das ergäbe eine wunderbare Möglichkeit des Rückschauhaltens, aber irgendwie steht und stand da immer etwas im Wege, etwas Psychisches wahrscheinlich, einerseits die Scheu, Dinge in tagebuchartiger Form preiszugeben, wir kennen das alle aus unseren Jugendtagen, andererseits die Unmöglichkeit, eine Art „literarisches Tagebuch“ zu schreiben, vielleicht sind aber Teile meiner jüngsten Bücher so etwas wie „literarische Tagebücher“, obwohl sie ja nicht autobiographisch sind – ich habe immer diesen Vorbehalt gegen das Tagebuchschreiben gehabt, weil ich dachte, es würde das wirkliche strenge Arbeiten, wie ich es mir immer vorgestellt habe und mir in immer größerer Ernsthaftigkeit und Strenge vorstelle und vornehme, im Grunde verhindern, ich würde irgendwelche Fakten oder auch emotionalen Konstellationen einfach so hinschreiben, das würde die eigentliche literarische Arbeit, besonders die Prosa, sabotieren −
Hell: das würde bedeuten, daß dir das zu vorläufig vorkommt, was dann dort steht −
Mayröcker: ja – es würde vor allem auch alles an vorbereitender Arbeit fürs strenge Arbeiten verhindern, das ja ganz anders passiert als tagebuchartig
Hell: und die verwendeten Stücke, Notizen, Aufzeichnungen auf den Zetteln oder in den kleinen Ringbüchern, also in den kleinen Spiralheften, was geschieht dann mit ihnen, wenn du sie nachhause bringst… oder wenn eines voll ist, wie ordnet sich das ein, reißt du das ab, ordnest es nach Themen, Themen im weitesten Sinn
Mayröcker: die Versuche, Ordnung in diesen Wust zu bringen, sind verschiedenartig, meist vergeblich, entweder ich gebe die Notizen als geschlossene Aufzeichnung in einen Karton oder Plastikkorb, oder ich stapele die herausgerissenen Blätter der Notizbücher auf dem Schreibtisch, oder ich ordne sie nach thematischen Verwendungsmöglichkeiten, z.B. literarischen Vorhaben der nächsten Zeit, oder in Kategorien wie: Prosa, oder Lyrik, etc., auch alles, was ich aus Büchern exzerpiere, kommt natürlich da herein, in die Körbe und Kartons, manchmal vergesse ich, den Autor zum exzerpierten Zitat zu notieren, dann kann es unter Umständen zu Schwierigkeiten kommen, den Autor wiederzufinden, usw. −
Hell: ich glaube, das war sogar ein Problem mit dem letzten Titel DAS HERZZERREISSENDE DER DINGE
Mayröcker: ja, aber während des Exzerpierens fallen mir immer so schöne Sachen ein – es ist eine Art Parallelprozeß, ich exzerpiere etwas, ich höre dann in meinem Kopf etwas Ähnliches, etwas Anklingendes, also ich werde sozusagen vom vom Akustischen her befruchtet, wenn ich lese, das ist auch sehr interessant, es ist beinahe wie ein VERLESEN, sich VERLESEN, ich höre etwas, schreibe, um es vom Exzerpierten später als mein eigener Einfall wiedererkennen zu können, ein großes „F“ dahinter, und so geht das alles völlig chaotisch −
wenn ich dann Notizen verarbeitet habe, kommen sie in die ORIGINALKONZEPTABLAGEKARTONS (helles Auflachen), das heißt, es wird abgelegt und aufbewahrt, vielleicht für die Zukunft, ein Nachlaßverwalter ist schon vorhanden… ich denke aber nicht gerne an solche Dinge −
Hell: du behältst die Kartons noch da
Mayröcker: ja… ich muß noch etwas Wichtiges sagen, nämlich daß mir deine Literatur, die du schreibst, eine Anregung für meine eigene Arbeit geworden ist, auch daß die Hinweise auf Lektüre, die ich durch dich, aber auch durch Liesl Ujvary empfangen habe, für mein Schreiben sehr wichtig sind…
das ist wichtig, daß man im Laufe der Jahre und Jahrzehnte des Arbeitens auf Menschen stößt, die einem innerhalb des Bereichs der Arbeit weiterhelfen, denen man da viel verdankt, Otto Breicha z.B. hat mir da auch immer wieder weitergeholfen, besonders in den sechziger Jahren, als ich so gegen Ende der Experimentierphase nicht recht wußte, wie es weitergehen könnte, da hat er mich bestärkt, weiterzumachen, durch diese Experimentierphase hindurchzugehen, d.h. sie vollkommen auszuschöpfen, bis wie von selbst dann ein anderer Weg sich öffnen würde, und natürlich kamen und kommen immer wieder wichtige Anregungen durch Ernst Jandl −
Hell: du gibst mir deine neuen Texte oder neuen Arbeiten oft im Manuskript und ich lese sie sofort und wenn ich das dann als Buch lese, kommt es mir wieder ganz anders vor, als würd ichs nicht kennen, obwohl alles textgleich ist
Mayröcker: ja das ist der große Unterschied zwischen Manuskript und gedrucktem Text, das ist ja auch für den Autor eine der wichtigsten Erfahrungen und die Möglichkeit, überhaupt weiterzuarbeiten und sich weiterzuentwickeln, indem man sich von dem Geschriebenen absetzen kann
Aus: Falter, Heft 26, 1985
Hans Ulrich Obrist spricht über die von ihm kuratierte Ausstellung von Friederike Mayröcker Schutzgeister vom 5.9.2020–10.10.2020 in der Galerie nächst St. Stephan
Friederike Mayröcker übersetzen – eine vielstimmige Hommage mit Donna Stonecipher (Englisch), Jean-René Lassalle (Französisch), Julia Kaminskaja (Russisch) und Tanja Petrič (Slowenisch) sowie mit Übersetzer:innen aus dem internationalen JUNIVERS-Kollektiv: Ali Abdollahi (Persisch), Ton Naaijkens (Niederländisch), Douglas Pompeu (brasilianisches Portugiesisch), Abdulkadir Musa (Kurdisch) und Valentina di Rosa (Italienisch) und Bernard Banoun – im Gespräch mit Marcel Beyer am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle.
räume für notizen: Friederike Mayröcker: Frieda Paris erliest ein Langgedicht in Stücken und am Stück, Juliana Kaminskajas Film das Zimmer leer wird gezeigt. Die Moderation übernimmt Günter Vallaster am 29.1.2024 in der Alten Schmiede, Wien
Fest mit WeggefährtInnen zu Ehren von Friederike Mayröcker Mitte Juni 2018 in Wien
Sandra Hoffmann über Friederike Mayröcker bei Fempire präsentiert von Rasha Khayat
Im Juni 1997 trafen sich in der Literaturwerkstatt Berlin zwei der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Friederike Mayröcker und Elke Erb.
Protokoll einer Audienz. Otto Brusatti trifft Mayröcker: Ein Kontinent namens F. M.
Daniela Riess-Beger: „ein Kopf, zwei Jerusalemtische, ein Traum“
Katalog Lebensveranstaltung : Erfindungen Findungen einer Sprache Friederike Mayröcker, 1994
Ernst Jandl: Rede an Friederike Mayröcker
Ernst Jandl: lechts und rinks, gedichte, statements, perppermints, Luchterhand Verlag, 1995
Bettina Steiner: Chaos und Form, Magie und Kalkül
Die Presse, 20.12.1999
Oskar Pastior: Rede, eine Überschrift. Wie Bauknecht etwa.
Neue Literatur. Zeitschrift für Querverbindungen, Heft 2, 1995
Johann Holzner: Sprachgewissen unserer Kultur
Die Furche, 16.12.1999
Nico Bleutge: Das manische Zungenmaterial
Stuttgarter Zeitung, 18.12.2004
Klaus Kastberger: Bettlerin des Wortes
Die Presse, 18.12.2004
Ronald Pohl: Priesterin der entzündeten Sprache
Der Standard, 18./19.12.2004
Michael Braun: Die Engel der Schrift
Der Tagesspiegel, 20.12.2004.
Auch in: Basler Zeitung, 20.12.2004
Gunnar Decker: Nur für Nervenmenschen
Neues Deutschland, 20.12.2004
Jörg Drews: In Böen wechselt mein Sinn
Süddeutsche Zeitung, 20.12.2004
Sabine Rohlf: Anleitungen zu poetischem Verhalten
Berliner Zeitung, 20.12.2004
Michael Lentz: Die Lebenszeilenfinderin
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.12.2004
Wendelin Schmidt-Dengler: Friederike Mayröcker
Elfriede Jelinek, und andere: Wer ist Friederike Mayröcker?
Die Presse, 12.12.2009
Gunnar Decker: Vom Anfang
Neues Deutschland, 19./20.12.2009
Sabine Rohlf: Von der Lust des Worte-Erkennens
Emma, 1.11.2009
Herbert Fuchs: Sprachmagie
literaturkritik.de, Dezember 2014
Andrea Marggraf: Die Wiener Sprachkünstlerin wird 90
deutschlandradiokultur.de, 12.12.2014
Klaus Kastberger: Ich lebe ich schreibe
Die Presse, 12.12.2014
Maria Renhardt: Manische Hinwendung zur Literatur
Die Furche, 18.12.2014
Barbara Mader: Die Welt bleibt ein Rätsel
Kurier, 16.12.2014
Sebastian Fasthuber: „Ich habe noch viel vor“
falter, Heft 51, 2014
Marcel Beyer: Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag am 20. Dezember 2014
logbuch-suhrkamp.de, 19.1.2.2014
Maja-Maria Becker: schwarz die Quelle, schwarz das Meer
fixpoetry.com, 19.12.2014
Sabine Rohlf: In meinem hohen donnernden Alter
Berliner Zeitung, 19.12.2014
Tobias Lehmkuhl: Lachend über Tränen reden
Süddeutsche Zeitung, 20.12.2014
Arno Widmann: Es kreuzten Hirsche unsern Weg
Frankfurter Rundschau, 19.12.2014
Nico Bleutge: Die schöne Wirrnis dieser Welt
Der Tagesspiegel, 20.12.2014
Elfriede Czurda: Glückwünsche für Friederike Mayröcker
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014
Kurt Neumann: Capitaine Fritzi
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014
Elke Laznia: Friederike Mayröcker
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014
Hans Eichhorn: Benennen und anstiften
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014
Barbara Maria Kloos: Stadt, die auf Eisschollen glimmt
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014
Oswald Egger: Für Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014
Péter Esterházy: Für sie
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014
Wilder, nicht milder. Friederike Mayröcker im Porträt
Einsame Poetin, elegische Träumerin, ewige Kinderseele
Die Presse, 4.12.2017
Claudia Schülke: Wenn Verse das Zimmer überwuchern
Badische Zeitung, 19.12.0219
Christiana Puschak: Utopischer Wohnsitz: Sprache
junge Welt, 20.12.2019
Marie Luise Knott: Es lichtet! Für Friederike Mayröcker
perlentaucher.de, 20.12.2019
Herbert Fuchs: „Nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens“
literaturkritik.de, Dezember 2019
Claudia Schülke: Der Kopf ist voll: Alles muss raus!
neues deutschland, 20.12.2019
Mayröcker: „Ich versteh’ gar nicht, wie man so alt werden kann!
Der Standart, 20.12.2019
Hannes Hintermeier: Zettels Träumerin
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.2024
Michael Wurmitzer: Das Literaturmuseum lässt virtuell in Mayröckers Zettelhöhle schauen
Der Standart, 17.4.2024
Barbara Beer: Hier alles tabu
Kurier, 17.4.2024
Anne-Catherine Simon: Zuhause bei Friederike Mayröcker – dank Virtual Reality
Die Presse, 18.4.2024
Paul Jandl: Friederike Mayröcker: Ihre Messie-Wohnung in Wien bildet ein grosses Gedicht aus Dingen
Neue Zürcher Zeitung, 17.6.2024
Sebastian Fasthuber: Per Virtual-Reality-Trip in die Schreibhöhle der Dichterin Friederike Mayröcker
Falter.at, 9.7.2024
Fabian Schwitter: Von Fetischen und Verlegenheiten
Kreuzer :logbuch, Oktober 2024
Friederike Mayröcker – Trailer zum Dokumentarfilm Das Schreiben und das Schweigen.
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