– Zu Peter Huchels Gedicht „Dezember 1942“ aus Peter Huchel: Chausseen Chausseen. –
PETER HUCHEL
Dezember 1942
Wie Wintergewitter ein rollender Hall.
Zerschossen die Lehmwand von Bethlehems Stall.
Es liegt Maria erschlagen vorm Tor,
Ihr blutig Haar an die Steine fror.
Drei Landser ziehen vermummt vorbei.
Nicht brennt ihr Ohr von des Kindes Schrei.
Im Beutel den letzten Sonnblumenkern,
Sie suchen den Weg und sehn keinen Stern.
Aurum, thus, myrrham offerunt…
Um kahles Gehöft streicht Krähe und Hund.
… quia natus est nobis Dominus.
Auf fahlem Gerippe glänzt Öl und Ruß.
Vor Stalingrad verweht die Chaussee.
Sie führt in die Totenkammer aus Schnee.
„Dezember 1942“ – Ein Gedicht von Peter Huchel. Regie und Produktion: Silvan Maximilian Hohl; Sprecherin: Renate Wüst
Es gibt nicht viele Gedichte, die im Deutschunterricht von Klasse 5 bis 13 fast alle Schüler beeindrucken. Zu ihnen gehört Peter Huchels 1955 veröffentlichte Ballade „Dezember 1942“. Wenn ich sie bespreche, schreibe ich zuerst „Dezember“ an die Tafel und frage nach Assoziationen: Winter, Weihnachten, Frieden, dann „1942“: Krieg. Zerstörung, Tod.
Dann lesen wir das Gedicht und vergegenwärtigen uns seinen Inhalt: die Realität des Winterkriegs bei Stalingrad (das zerstörte Dorf, die ermordete Frau, das schreiende Kind, deutsche Soldaten) und eine Vision Bethlehems: Maria mit dem Kind, die Heiligen Drei Könige und ihre Gaben. Diese schon im Titel vorhandene dialektische Struktur findet sich in sechs Strophen, manchmal sogar in zwei aufeinanderfolgenden Wörtern: „Maria (Bethlehem) erschlagen“ (Stalingrad), „Drei (B) Landser“ (St), „des Kindes (B) Schrei“ (St). In der letzten Strophe ist Bethlehem ausgelöscht. Das Christkind fiel bei Stalingrad menschlicher Gewalt zum Opfer. Deshalb kann es keine Erlösung geben.
Das Schicksal der 6. Armee scheint dies zu bestätigen. Von 220.000 Soldaten kamen nur sechstausend zurück. Ein Entlastungsangriff im Dezember 1942 scheiterte. Sein Deckname: „Wintergewitter“. Solche Andeutungskunst zeigt sich mehrfach: Nicht nur der Frost, auch der Schrei des Kindes müßte den Soldaten im Ohr „brennen“. Statt Ochs und Esel überleben „Krähe und Hund“. Statt Gold, Weihrauch und Myrrhe „glänzt Öl und Ruß“. Dazu kommt eine Fülle von Alliterationen, Assonanzen und Binnenreimen: „Wie Wintergewitter, zerschossen“ – „Chaussee“, Stall – Stalingrad, fror – Ohr, drei – vorbei, thus – Ruß, kahl – fahl. Wie in Schillers „Nänie“, Trakls „Grodek“ oder Celans „Todesfuge“ ist das Schreckliche in der Schönheit der Sprache scheinbar aufgehoben und gebannt.
Zuletzt die Form, das daktylische Metrum, die männlichen Paarreime. Ähnliches kennen die Schüler wohl schon von Heines Ballade „Belsazar“. Warum aber hat Huchel diese seltene Form gewählt? An was erinnern die Worte „Bethlehems Stall“? Wenn ich sie mit den Noten g – e – g – fis vorsinge, merken einige Schüler, daß Huchels Gedicht eine Antwort ist auf Christoph von Schmids „Ihr Kinderlein, kommet, o kommet doch all! / Zur Krippe her kommet in Bethlehems Stall.“ Es ist eine Kontrafraktur, eine Parodie, ein „Gegen-Gesang“, in dem das Tröstliche der Weihnachtsbotschaft widerrufen wird.
Aber ist die Aussage dieses Antiweihnachtsliedes endgültig? Nach christlichem Glauben hat die Erlösung, die mit der Katastrophe der Kreuzigung begann, für alle Zeiten schon stattgefunden. Aber schon Christi Geburt war gefährdet. Schon das Kind sollte, so die Legende, getötet werden. Und auf wie vielen alten Bildern leuchtet der Stern von Bethlehem über einem Stall, der zerfallen und zerstört ist.
Und während im Dezember 1942 Zehntausende deutsche, aber auch russische Soldaten und Zivilisten in den „Totenkammern aus Schnee“ umkamen und zugleich Zehntausende Juden, oft in Gaskammern, ermordet wurden, wurden überall Kinder geboren. Und Millionen überlebten die Schrecken des Krieges, auch Peter Huchel, dessen Gedicht die Nachgeborenen zum Frieden mahnt.
Friedrich Denk, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999
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