SCHELLACKSONETT
Ich habe dir ein Angebot zu machen
Wir rufen uns die alten Zeiten wach
Als man noch frei und rein von Liebe sprach
Mußt dich nicht schämen, laß die andern lachen!
Komm sei schon stolz und spiel die alten Sachen
Spann Dir im Bauch die Uhrwerkfeder straff
Wir gönnen uns noch einmal die Piaf.
Reiß gähnend auf den schwarzen Riesenrachen!
Schwing mich im Kreis mit deiner Zahnradzwille!
Leg deinen Messingarm, leg in die Rille
Den Finger mir – ich spiel dir das Chanson.
Nostalgisch wird das Zimmer zum Salon
– Raub meinem greisen Kinderherz die Stille –
Dann fliegt es knisternd durch den Raum davon…
Bertram Reinecke
– Kristian Kühn und Kai Pohl im Gespräch zur geplanten Anthologie zum Jahrbuch der Lyrik 2015 und zu Fragen politisch motivierter Dichtung. –
Kristian Kühn: Wenn ich mich recht erinnere, war der Auftakt des Richtungsstreites über Lyrik in diesem Jahr, als Fritz Deppert, seit 1979 einer der drei Vorjuroren des Leonce-und-Lena-Preises, öffentlich äußerte (im Darmstädter Echo vom 20. Februar 2015):
Wir suchen seit 30 Jahren tolle politische Gedichte und finden sie nicht.
Kai Pohl: Solche Preisgeschichten bilden ja nie das gesamte Spektrum ab. Einige wissen nichts von dem Preis, andere bewerben sich nicht… Im Übrigen habe ich so meine Probleme mit dem voraussetzungslosen Gebrauch des Begriffs „politisch“ im Zusammenhang mit Gedichten. Wenn ich mir „Politik“ heute ansehe, dann möchte ich – als Dichter und als Mensch – damit nichts zu tun haben.
Kühn: Ob Deppert nun selber sagte, es sei bei den Einreichungen kein neuer Brecht oder Erich Fried in Sicht, oder das Darmstädter Echo seine Äußerungen dementsprechend montierte, ich habe zur Einstimmung auf unser Gespräch ein bisschen in Brechts Schriften zur Literatur nachgelesen und fand dort die Stelle, in der er (möglichst höflich) notiert:
Beim Durchlesen des Lyrikhaufens, den mir die Literarische Welt ins Haus schaffen ließ, habe ich also den Eindruck gewonnen, daß heute jeder Deutsche ein Gedicht schreiben kann.
Auch heute moniert Deppert in dem Zeitungsbericht:
Das Mittelmaß macht die Arbeit, da muss man zwei- und dreimal nachlesen.
Pohl: Zu „Brecht oder Fried“ fallen mir spontan Andreas Paul und Jannis Poptrandov ein, die in der öffentlichen Wahrnehmung keine große Rolle spielen. Aber sie gehören zu den durchaus vorhandenen lebenden Verfassern renitenter Lyrik; nicht zu vergessen Bert Papenfuß, der 1998 den Erich-Fried-Preis bekam. Und klar, Auswahlprozesse sind mühsam. Man wühlt sich durch einen Haufen Müll, um eine Perle zu finden.
Kühn: Brecht zieht über die lyrische Jugend förmlich vom Leder:
Von Anbeginn eine unglückliche Veranlagung, Hang zum Sinnieren, rasch beleidigt sein, dann wieder alles so schön finden. Eine durch ein ganzes Jahrhundert konsequent durchgeführte verfehlte Erziehung tat das übrige. Ich habe das Gefühl, ich muß diese Leute mit einem schallenden Hohngelächter empfangen.
Das sei die „Marke Jugend“?
Die Leute sollten mal erst zum Militär kommen.
Auch Deppert zieht das Fazit, beim 19. Literarischen März sei die Auswahl geprägt von Innerlichkeit:
Das lyrische Gedicht ist einzelgängerisch, entsteht im stillen Kämmerlein.
Politische Aussagen erforderten eben die klare Formulierung:
Diese direkten Aussagen sind im Grunde unlyrisch, das ist viel schwerer umzusetzen.
Pohl: Die „lyrische Jugend“ kommt ja erstmal aus dem Sumpf der Verhältnisse. Der omnipräsente Konkurrenzzwang und die Zurichtung zum Marktsubjekt macht um niemanden einen Bogen. Es geht darum, wie ich mich entscheide: Will ich dem Anpassungsdruck widerstehen, oder will ich mithalten beim Rennen um die Fleischtöpfe… Wir leben nicht gerade in einer Protestkultur, abgesehen von dem neuerdings grassierenden Mob in Sachsen und anderswo. Werden angesichts dieser Situation Gedichte „über so gegensätzliche Themen wie den Giersch im Garten oder Koalabären“ (Denis Scheck) in den höchsten Tönen gelobt, dann liefert die Beschaulichkeit des Anerkannten die Orientierung für die Jugend. Schon 1952 beschwerte sich Gottfried Benn über „diese deutschen Bewisperer von Gräsern und Nüssen und Fliegen“.
Kühn: Für Brecht kommen die Hauptschwierigkeiten der Literatur „von dem Zustand der Welt“. Etwa 1937 sagt er (in einer Selbstkritik):
Der immer mehr anwachsende Widerspruch zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und den Produktivkräften des Kapitalismus irritiert die Literatur immer mehr; sie wird nachgerade der Ausdruck dieses Widerspruchs. Die Darstellung des menschlichen Zusammenlebens wird desto schwieriger, je schwieriger dieses Zusammenleben selber wird.
Deshalb das Distanzgefühl, der Humor, die Ironie. Und:
Unsere Literatur ist überraschend standpunktlos.
Pohl: Wenn ich mich in der Gesellschaft bewege wie ein Fisch im Wasser, kann ich die Umstände gar nicht begreifen. Es braucht schon eine kritische Distanz, eine Radikalität der Betrachtung – im Sinne des Erkennens der Ursachen, anstatt auf die Phänomene zu starren. Das Medienspektakel und die tendenziöse „Wissens“-Vermittlung an den Schulen tun ihr Übriges.
Kühn: Schon Brecht spricht von dem Verfall der abendländischen Kultur und hat Zweifel, wie die neue Kunst auszusehen habe, um diesen aufzuhalten:
Von diesem Zweifel ist nur noch ein kleiner Schritt zu der Gewißheit, daß die Künste und Wissenschaften nicht nur nicht dazu imstande sind, sondern daß sie sogar an diesem rasenden Verfallsprozeß aktiv beteiligt sind. In der Tat sind sie so mächtig und erfolgreich, wo sie menschliche Werte zerstören, ohnmächtig und erfolglos, wo sie solche aufzubauen oder zu schützen versuchen!
Pohl: Daß die Wissenschaft unter den gegebenen Verhältnissen zu einer Destruktivkraft gerät, ist offensichtlich. Kunstwerke, in denen der „Zustand der Welt“ komplett ausgeblendet bleibt, sind entweder naiv oder affirmativ. Kunst als reine Ästhetik, die dazu noch auf Marktgängigkeit aus ist, kann ich nicht ernstnehmen. Was für einen Sinn soll es haben, mit einem schönen Spruch auf den Lippen von der Klippe zu springen?
Kühn: Kommen wir zum Jahrbuch der Lyrik 2015. Angeblich mussten 7.000 eingereichte Gedichte gesichtet werden. Heike Kunert schreibt für die ZEIT:
Liest man dann aber die ausgewählten 149 Gedichte, verfällt man schnell in eine von Langeweile und Empörung angetriebene Schnappatmung.
Und:
Es ist kein guter Jahrgang: verhalten, trocken, unreif, artig. Manche Poesie will einfach zu viel (…) reiht unaufhörlich monströse Kopfgeburten seelischer Schieflagen aneinander.
Bist du auch dieser Meinung?
Pohl: Der Gesamteindruck, den das Jahrbuch bietet, ist eher fad. Ich plädiere allerdings für eine konkrete, sachliche Kritik, die am einzelnen Text oder Statement ansetzt. Eine allgemein gehaltene Kritik trifft immer die Falschen und die Richtigen zugleich, bzw. umgekehrt.
Kühn: Dann nennt Kunert als „kleine Oasen in diesem geistigen Brachland“ ein paar bekannte Namen, Herta Müller, Elke Erb, Michael Krüger, Silke Scheuermann. Gerade letztere lese sich „recht gewöhnlich und als typisches Liebesgedicht recht vorhersehbar“. Kunert nimmt das als Lob – Vorhersehbarkeit in der Lyrik sei kein Kavaliersdelikt, sagt sie. Wenn ich mal auf die alte Novalis-Einteilung von Gedichten zurückgreifen darf, bevorzugt sie – und mit ihr wohl das Gros der Medien – die mythische Ausrichtung der Lyrik. Er nennt die drei: „grammatisch, oder verändernd, oder mythisch“ – mythisch, ja, wenn auch in der konventionellen Form bei Kunert: „Brodsky sprach davon“, schreibt sie, „dass sich der Verfasser eines Gedichtes mit Hilfe eines einzelnen Wortes, eines einzelnen Reims an einem Ort wiederfinden kann, wo vor ihm noch niemand gewesen ist, tiefer im Unbekannten, als ihm selbst lieb ist. An diesen Ort möchte und muss der Leser mitgenommen werden. Man möchte nicht einen letzten Vers lesen, der da lautet: ,und im Keller faulen die Äpfel von innen‘, wie im Gedicht von Andreas Altmann. Er sollte an den Äpfeln vorbeigehen, den Geruch tief inhalieren und weiter hinabsteigen als in den Keller, viel weiter – vielleicht wird er ja dort etwas finden, woraus Lyrik entsteht.“ Wobei wir auch beim Jan-Wagner-Streit angelangt sind, der fast zeitgleich im März mit dem Leonce-und-Lena-Wirbel Hand in Hand ging.
Pohl: Die „Novalis-Einteilung“ mag für Germanisten sinnstiftend sein, in der Praxis überschneiden sich die „Ausrichtungen“ in der Regel. Und die Medien schätzen den Mythos, weil sie ja in gewisser Weise ein sich selbst ernährender Mythos sind. Als der „Jan-Wagner-Streit“ losbrach, hatte ich sofort den Eindruck, dass da der x-te Aufguß einer innerlyrischen Neiddebatte tobt. Es gab natürlich auch kluge Äußerungen und Klärungsversuche, aber sowas bringt im Grunde keinem was, und außerhalb des literarischen Feldes interessiert sich niemand für dieses Betriebsrauschen. Als Nora Bossong in der ZEIT die Preisverleihungskritiker kritisierte, ging es weniger um die Sache – es ging um die Deutungshoheit. Dazu hat Jan Kuhlbrodt treffend bemerkt:
Nora Bossong [nahm] nicht etwa Jan Wagner gegen Angriffe seitens seiner Kollegen in Schutz, sondern sie [diffamierte] die Angreifer als verlorene Avantgardisten, als weltfremde Träumer und verbitterte Einzelkämpfer.
Sie „schiebt Kollegen, die sich der Möglichkeiten bedienen, die ihnen zur Verfügung stehen, sich öffentlich zu äußern, in die Schmollecke“.
Kühn: Kunert scheint ebenfalls zur Absicherung Brecht gelesen zu haben, wenn sie resümiert:
Denn es ist doch so, dass die Lyrik auch immer ein Seismograph des Geisteszustandes einer Gesellschaft ist; ein Destillat der Erfahrungen und Schmerzen.
Und es fällt ihr in diesem Zusammenhang auf, „dass sich so gut wie kein politisches, zumindest gesellschaftskritisches Gedicht im Jahrbuch findet. Möchte man kein Mahner mehr sein oder ist Politik nur noch ein Synonym für Langeweile?“ Nun drängt sich bei dir der Verdacht auf, das Jahrbuch hätte die politischen Texte ausgemustert. Wie kommst du darauf? Was veranlasst dich, das zu glauben?
Pohl: Dieser Verdacht kam nicht bei mir auf, er wurde in der Lyrikzeitung vom 18. Juli geäußert. – Mir fiel ein, dass das Gedicht „die zwei Körper der Kanzlerin“ von Marion Poschmann bereits 2011 als einer der ersten Texte in der damals frisch in Szene gesetzten Politlyrikreihe der ZEIT erschienen war. Zumindest dieses Gedicht sollte dann wohl ein „politisches“ aus der Sicht der Kritikerin sein, hatte sie es doch selbst schon einmal zum Abdruck freigegeben. Wenn ich den Text lese, frage ich mich allerdings, ob man es stellenweise nicht doch mit „Kopfgeburten seelischer Schieflagen“ zu tun hat:
was man nicht sieht: im Inneren klebt mahagonigemusterte Folie, sparsam,
ermüdungsarm. innen ist sie ein scheinreicher Vogel
aus Fotoholz, aus gerasterten Ansichten, Fernsehkörnung.
der unerhört flimmernde Körper der Staatsmaschine
landet auf pockennarbigem Platz.
Kühn: Oder liegt es wirklich daran, dass die Jugend, und das Jahrbuch der Lyrik hat sich ja in den letzten Jahren geöffnet und zur Jugend gewandt, vielleicht um mehr bzw. jüngere Leser zu erreichen, dass diese zu wenig Erfahrung hat, mutlos und introvertiert ist und auch (wie viele Bürger) politikverdrossen?
Pohl: Die Auswahl ist Sache der Herausgeber. Ob dabei solche zielgruppenspezifischen Erwägungen eine Rolle spielen, kann ich nicht sagen.
Kühn: Brecht wendet sich zwar gegen die „feuilletonistische Mode, die ein Teil unserer erschöpften Bourgeoisie kreiert hat, nämlich der Teil, der sich literarisch betätigt (indem er die Schwierigkeit mißbraucht, die es heute macht, jemand nachzuweisen, daß er nicht schreiben kann)“, zugleich sei dies aber auch journalistisch die „Manier, pikanten Handlungsweisen eines entschlossenen Menschen der Literatur einen Strick zu drehen.“
Pohl: Zu Brechts Zeiten mag das gestimmt haben. Heute sehe ich eher die Tendenz, dass renitente Entschlossenheit im Schreiben nicht feuilletonistisch verhandelt wird, sondern gar nicht. Sie kommt im offiziellen Betrieb nicht vor, oder gerade noch als Alibi, und bleibt dadurch relativ wirkungslos. Ganz neu ist diese Taktik aber nicht. Der Schriftsteller Franz Jung beschreibt in seiner Autobiographie Der Weg nach unten, wie der Querdenker Ernst Fuhrmann seinerzeit von „Vertretern der geistigen Prominenz“ nicht direkt abgelehnt wurde – „Sie zogen es vor, Fuhrmann totzuschweigen, geradezu zu boykottieren.“ Diese Praxis des Schweigens, so Jung, wäre seitdem weiter perfektioniert worden.
Kühn: Andererseits nützt es, nach Brecht, nichts, sich mit Generationen von Schreibern auseinanderzusetzen und sie belehren zu wollen, „wenn die jüngere Generation nichts ist als harmlos“? Da nütze, schreibt er ätzend, kein heilsames Hohngelächter bei all „ihrer Sentimentalität, Unechtheit und Weltfremdheit“ – „Das sind ja wieder diese stillen, feinen, verträumten Menschen, empfindsamer Teil einer verbrauchten Bourgeoisie, mit der ich nichts zu tun haben will!“
Pohl: Was die Kunst angeht, glaube ich an die Autodidaktik. Ein, Künstler der sich belehren läßt, ist keiner. Ein Künstler ist unbelehrbar, er muss die Dinge selber lernen. Die Frage ist ja: Warum schreibt jemand? Sind Gedichte „ein Destillat der Erfahrungen und Schmerzen“? Wenn die Erfahrungen angenehm sind und die Schmerzen über den Fleck im Hemd kaum hinausreichen, dann wird es der lyrische Seismograph schwer haben, etwas aufzuzeichnen.
Kühn: Brecht spricht auch, ähnlich Kunert, im Zusammenhang mit Gedichten von einem Gebrauchswert:
Und gerade Lyrik muß zweifellos etwas sein, was man ohne weiteres auf den Gebrauchswert untersuchen können muß.
Er wisse zwar, fährt er fort, dass „ein ganzer Haufen sehr gerühmter Lyrik keine Rücksicht darauf nimmt, ob man ihn brauchen kann. Die letzte Epoche des Im- und Expressionismus (also die ,Druck-Kunst‘, deren Tage gezählt sind) stellte Gedichte her, deren Inhalt aus hübschen Bildern und aromatischen Wörtern bestand. Es gibt darunter gewisse Glückstreffer, Dinge, die man weder singen noch jemand zur Stärkung überreichen kann und die doch etwas sind. Aber von einigen solcher Ausnahmen abgesehen, werden solche ,rein‘ lyrischen Produkte überschätzt. Sie entfernen sich einfach zu weit von der ursprünglichen Geste der Mitteilung eines Gedankens oder einer auch für Fremde vorteilhaften Empfindung.“ Starker Tabak, finde ich, vor allem (um bei der Novalis-Einteilung zu bleiben) für die „grammatische“, also sprachkritische Richtung, die sich sowieso seit den letzten Juryentscheidungen in den Hintergrund gedrängt fühlt, weil nur noch das Glatte, Konventionelle, leicht Verstehbare bevorzugt und als Vorbild in den Vordergrund geschoben werde, meint sie, im Gegensatz zum Komplexen plötzlich wieder das „Unverbrauchte“ genannt. Siehst du auch eine solche Entwicklung bei den Verlagen, den Jurys? Bist du der gleichen Meinung?
Pohl: Ein Gedicht soll brauchbar sein, das finde ich auch. Das Statement von Oscar Wilde: „Alle Kunst ist nutzlos“, war ja wohl eher als Provokation gemeint. Und wenn ich mich umschaue, sehe ich eine Menge brauchbare Lyrik heute, nur wird die nicht gerade „in den Vordergrund geschoben“. Wir haben es eben mit einem interessegeleiteten Kulturbetrieb zu tun, der mitnichten eine Gemeinschaft von Freien und Gleichen darstellt.
Kühn: Im Sinne des Kommerz wird Brecht es wohl nicht gemeint haben, wenn er schreibt:
Brauchbarkeit sollte über den Wert einer Sache entscheiden.
Sondern:
Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfassers enthalten, eines wichtigen Menschen.
Und:
Aber eine neue Kunst wird endlich ihren Gebrauchswert nennen und angeben müssen, wozu sie gebraucht werden will.
Pohl: Ich habe es als Autor nicht komplett in der Hand, aber ich schaffe mit meinen Texten die Voraussetzungen dafür, ob (und von wem) sie gelesen werden oder eben nicht. Um nochmal die Novalis-Schublade aufzuziehen: Die „Veränderung“ sehe ich momentan als das Wesentliche, weil ohne sie auch „Grammatik“ und „Mythos“ keine Chance haben, existentiell gesprochen.
Kühn: Nun zu deinem Vorhaben, beziehungsweise dem Aufruf der EdK (Epidemie der Künste) für ein Gegenbuch zum Jahrbuch der Lyrik, bestehend aus abgelehnten oder übersehenen Einreichungen, die vielleicht doch gesellschaftskritisch waren, und aus politischen Gründen (Novalis nennt diese Richtung der Literatur „verändernd“) nicht berücksichtigt wurden, sei es willentlich oder – bei 7.000 Einreichungen – übersehen worden sind. Kannst du zunächst etwas über diese Epidemie der Künste sagen. Ich habe mir die Webseite angesehen und muss gestehen, dass mir unklar ist, was ihr da macht. Allein der Name irritiert in seiner dionysischen Wahnsinnsform, mit der Warnung „infiziert euch nicht“ oder umgekehrt.
Pohl: Die EdK wurde 2006 gegründet, weil die Zeitschrift floppy myriapoda einen Herausgeber brauchte. Der Name veranschaulicht den derzeit inflationären Ausstoß von Kunst angesichts einer Lage, die konkrete, direkte Aktionen verlangt, nicht nur symbolisches Einschreiten. Per Eigendefinition ist die EdK „ein freier Zusammenschluß freier Autoren und Künstler jenseits der Marktförmigkeit“. Sie ist Veranstalterin von Lesereihen und Festivals, Herausgeberin von Zeitschriften, Anthologien und Buchreihen sowie Ausstellungsmacherin.
Kühn: Und auch die „aus dem Ruhezustand agierende Floppyredaktion“ ist ja mehrdeutig, fast dadaistisch. Ihr scheint – im Gegensatz zur Brauchbarkeit bei Brecht – eher auf Immunisierung und Unbrauchbarkeit (für das System) zu setzen.
Pohl: Wenn reale Gegenwehr schwieriger wird, ist Verweigerung schon mal besser als nichts. Wenn Ungleichheit immer stärker institutionalisiert und juristisch festgeschrieben wird, inkl. der Aufhebung von laut Verfassung geltenden Rechten für bestimmte Menschengruppen, dann ist die Ablehnung des Systems, das diese Dinge betreibt, doch ganz natürlich. Was nützt mir die Freiheit als Surrogat, wenn es ringsum düster wird.
Kühn: Wollt ihr – wer ist eigentlich die Redaktion oder Jury, die die Auswahl trifft – hauptsächlich politische Texte bringen, sofern sie wirklich eingereicht wurden beim Jahrbuch? Was ihr als Kriterium in eurem Aufruf nennt, ist ja mehr als vieldeutig, fast verschwörungstheoretisch – im Nachwort schreibt die Mitherausgeberin des Jahrbuchs:
Und mancher wird in der Auswahl dieses Bandes natürlich Dinge vermissen, die die Herausgeber bei den Einsendungen nicht finden konnten.
Oder wollten? Oder nicht eingereicht wurden? Ihr sagt:
Da könnte sie sich irren!
Pohl: Ich kenne ein paar Einsendungen von Kollegen, in denen sich Texte finden, die über den Horizont des heurigen Jahrbuchs hinausweisen. Insofern hat das Ganze mit Verschwörungstheorie nichts zu tun. Wir werden die Auswahl nicht auf eine Thematik bzw. Herangehensweise beschränken, wir werden sicher nicht ausschließlich „politische Texte“ aussuchen.
Kühn: Ihr geht noch mehr in die Verschwörungsschiene, indem ihr zum Schluss sagt, es seien auch Texte bei euch erwünscht, von denen der Einreicher oder Nichteinreicher glaube, „wenn ich sie eingesandt hätte, wäre ich nicht vertreten“.
Pappelschnee ist auch so ein Wort, das dionysisch dunkel und nahezu todesmutig ist. Habt ihr keine Angst, Ärger mit dem Verlag des Jahrbuchs und den Herausgebern zu bekommen?
Pohl: Solange die Autoren, die unser Aufruf erreicht und die uns auch Texte senden, die Rechteinhaber ihrer Gedichte sind, gibt es doch keinen Grund zur Aufregung. Es könnte vielmehr umgekehrt sein, dass die Herausgeber Angst davor haben, Ärger mit den Einsendern zu bekommen. Nora Gomringer weiß doch, dass sie aus einer privilegierten Position spricht, wenn sie im Nachwort des Jahrbuches sagt, dass die Leser „Dinge vermissen“ könnten, „die die Herausgeber bei den Einsendungen nicht finden konnten“. Unser Aufruf ist ja keine Kritik am Jahrbuch selbst, wir sind keine Rezensenten. Der Aufruf kritisiert die Intransparenz des Prozesses, wie das Jahrbuch zustande kam, in der merkwürdigen Art der Verschleierung, die durch die Äußerung der Herausgeberin belegt ist. Mir ist schon klar, dass Herausgeber autonome Entscheidungen treffen müssen. Nur sollen sie dann auch dazu stehen und nicht in vorauseilender Entschuldigung Dinge behaupten, die ihnen keiner abnimmt.
Kühn: Ist das Ganze eine Art PR-Gag, um mehr Aufmerksamkeit zu erregen? Oder soll tatsächlich ausgewiesen werden, welche Texte aus dem Jahrbuch-Pool genommen sind und welche gar nicht erst, aus welchen Gründen auch immer, dort eingesandt wurden?
Pohl: Ein, zwei Tage nachdem wir den Aufruf gesendet hatten, wurde uns klar, dass die Sache ein großer Spaß ist. Mit Aufmerksamkeitsheischerei hat das nichts zu tun, uns geht es um die Brauchbarkeit der Lyrik und darum, den lyrischen Zirkel zu erweitern, damit ein besseres Bild entsteht. Ein stringenter Nachweis, welche Texte eingesendet wurden oder nicht, ein klares Wieso-Weshalb-Warum, wird nicht möglich sein und war auch nicht unsere Absicht.
Kühn: Um das weiterzuspinnen: Soll das alles dokumentiert werden auf Treu und Glauben, wie es von den Autoren dargelegt wird, zum Beispiel, auch von denen, die zwar im Jahrbuch mit einem Text präsent sind, aber nicht mit demjenigen aus ihren Einreichungen, den sie für den prägnantesten oder wichtigsten halten? Und so fort?
Pohl: Man könnte Kommentare aus den Anschreiben zu den Einsendungen verwenden, aber dann wohl anonymisiert, um den Aufwand zu umgehen, sich jedes Detail autorisieren zu lassen.
Kühn: Eigentlich müsstet ihr die Dichter richtig abfragen. Dann sind die für ihre Behauptungen verantwortlich, und ein Vor- bzw. Nachwort könnte klarstellen, dass ihr als Herausgeber sie gar nicht erst prüfen wollt und nur als Behauptung wiedergebt. Entweder geht so ein Gegenbuch ans Eingemachte, oder es ist ein groß angelegter Scherz?
Pohl: Wir können ja nicht direkt abfragen, dann müßten wir ja wissen, wer tatsächlich für das Jahrbuch eingereicht hat. Wir warten jetzt mal die Einsendungen ab und sehen dann, was daraus zu machen ist. Ein „Gegenbuch“ soll es nicht werden, eher ein Ergänzungsband, ein ernstgemeinter Scherz vielleicht, weil die Vorgehensweise die legitimen oder für legitim gehaltenen Formen des literarischen Diskurses unterläuft im Sinne einer Kommunikationsguerilla.
Kühn: In ihrer Besprechung zu eurem Buch my degeneration spricht Jayne-Ann Igel von einer Turbopoesie gegen Turbokapitalismus, also dass letzterer eine eigene Gegenoffensive hervorrufe, Turbomittel verlange aus Überdruss an den Verhältnissen, „an einer biederen Bürgerlichkeit“, und zwar eine „Dekonstruktion der neoliberalen Verschleierung von Machtgefälle und Abhängigkeiten, wie sie sich auf sprachlicher Ebene im öffentlichen Raum darstellt (Werbung, Politik, Wirtschaftspublizistik)“. Ist das für euch (ich sage mal euch, obwohl ich nicht weiß, in wieweit die Autoren von my degeneration auch zur Jury des Gegenbuches gehören werden) ein Auswahlkriterium? Dieses Durchmischen und in eine Zentrifuge geben (wie Igel es beschreibt) von Politiker-, Manager- und Alltagssprech, „ordentlich durchmischt, de-generiert“, um kapitalistische Verfahren dadurch transparenter zu machen?
Pohl: Das Runterreißen des Schleiers ist klar intendiert. Und das Insistieren auf Gleichberechtigung, wenigstens im literarischen Diskurs. Und darauf fußend eine Textauswahl, die zeigt, was die Herausgeber bei den Einsendungen finden konnten.
Kühn: Sind erneute Bedeutungs- und Sinnverschiebungen wirklich ein adäquates künstlerisches Mittel, um aufzuzeigen, wie ein gesellschaftlicher Ursprungsbegriff verfremdet wird, um unbemerkt das Gegenteil von dem zu bedeuten, was er ursprünglich zu sein vorgab? Um falsche Versprechen zu karikieren und desavouieren? „Fremdbestimmung heißt jetzt Selbstbestimmung und Durchsetzungsvermögen“.
Pohl: Bedeutungsverschiebungen finden nicht nur in der Literatur statt, siehe Orwells Neusprech oder auch Uwe Pörksens Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Bei diesem Untertitel ahnt man, dass es in dem Buch nicht um irgendwelche Harmlosigkeiten geht. So gesehen ist die literarische Sinntransformation ein Akt der ästhetischen Analyse, das Alltagsbewusstsein zurechtzurücken durch Irritation.
Kühn: Zentrale Begriffe wie etwa Reform sind umfunktioniert, bedeuten jetzt Rückschritt. Diese Umetikettierung (Igel) soll aber Fortschritt und Innovation vorspiegeln. Wollt ihr mit diesen Mitteln das Jahrbuch ebenso vor- und umspiegeln? Mir scheint auch bei eurem Plan vom Gegenbuch ein Quäntchen Humor und Doppelbödigkeit vorhanden zu sein. Eine fortwährende Umbenennung und Umwidmung.
Abzocke heißt jetzt Marketing.
Propaganda heißt jetzt Advertising.
In wieweit bekennt ihr euch auch hier zu eurem „Subkommando der freien Assoziation“?
Pohl: Das Subkommando für die freie Assoziation hat sich mit Erscheinen der (vorerst) letzten Ausgabe der floppy myriapoda in Subkommando freie Assoziation umbenannt. Dahinter steckt die Behauptung, dass die freie Assoziation nun nicht mehr angestrebt, sondern betrieben wird. Zum Beispiel mit Aktionen wie dieser. Ohne Humor sind schlechte Zeiten schwer zu ertragen:
Spaß muss es schon machen, sonst macht es ja keinen Spaß.
Kühn: Also (wie die Dada-Bewegung) ein gewisser kreativer Wahnsinn als Kampf gegen die bürgerliche Kunst & Literatur?
Pohl: „Künstlerischer Wahnsinn“ kann ein probates Mittel sein gegen eine gefühlte „Normalität“, die den eigentlichen, den realen Wahn repräsentiert.
Kühn: Noch einmal zu dieser geplanten Auswahl von euch. Welche (anderen) Kriterien wollt ihr anwenden? Bei Brecht wären es eine realistische Schreibweise, aber auch Sinnlichkeit, und Nutzen (Brauchbarkeit).
Pohl: Das müssen wir dann in der Redaktion entscheiden. Ein sinnlicher Nutzen ist unbedingt wünschenswert, was aber nicht gegen experimentelle Textsorten spricht. Es geht uns weniger um Verständlichkeit als um Verständigung, oder wie Florian Günther, der Herausgeber des Drecksack 17, es ausdrückt:
Natürlich ist der Mob zum Kotzen, aber auch der Mob hat das Recht, ein Gedicht zu verstehen.
Kühn: „Die Realisten bekämpfen jene, die reale Kräfte leugnen. Die Realisten bekämpfen jede Art von Schematismus, da er die Realität nicht beherrschbar macht.“ Und um diesen Kampf zu gewinnen, fordert Brecht Lösungen für die von ihm genannten „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ ein:
Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muß den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten. Diese Schwierigkeiten sind groß für die unter dem Faschismus Schreibenden, sie bestehen aber auch für die, welche verjagt wurden oder geflohen sind, ja sogar für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben.
Pohl: „Realisten“ wenden sich auch gegen jene, die reale Schwierigkeiten leugnen. Zur „bürgerlichen Freiheit“ fällt mir der unsägliche Selbstversuch eines Herrn Sarrazin ein, der sich eine Zeitlang mit dem Salär eines sog. Hartz-IV-Empfängers den Bauch füllte und daraufhin behauptete, damit ließe sich prima über die Runden kommen. Oder ein Herr Gauck, der den „Abgehängten“ vorschlägt, sie sollten wenigstens wählen gehen – wiewohl sie von denen, die sie wählen könnten, nichts zu erwarten haben. Und weil das Interview so Brecht-lastig begann, sei am Schluss ein Gedicht des Meisters zitiert:
Reicher Mann und armer Mann
Standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.
Kühn: Wann ist eigentlich Einreichfrist? Wenn ihr schon im Herbst erscheinen wollt? (Praktisch gesehen geht das gar nicht).
Pohl: Eine offizielle Deadline gibt es nicht. Wer etwas schicken will, der schickt was, und fertig. Der Erscheinungstermin ist vielleicht etwas zu optimistisch angesetzt, aber als Geschenk zu Weihnachten wäre das Buch ja auch nicht verkehrt.
für Furore gesorgt hatte, vor allem deshalb, weil „sich so gut wie kein politisches, zumindest gesellschaftskritisches Gedicht [darin] findet“ (Heike Kunert in der ZEIT), schien es geboten, ein Druckwerk vorzulegen, das die Vielfalt der Lyrik in einer brisanten Gegenwart anschaulich macht. Herausgekommen ist das Schwarzbuch der Lyrik 2016 mit dem Titel Fünfzigtausend Anschläge. Die Anthologie versammelt 60 Gedichte von 13 Dichterinnen und 26 Dichtern in fünf musikalisch geprägten Kapiteln: Heavy Metal, Rock’n’Roll, Doom Shanties, Blues und Chansons. Dazu gibt es einen Anhang mit ergänzenden Beiträgen zur Entstehung des Schwarzbuchs.
Distillery, Ankündigung
– Mit 50.000 Anschlägen bilanziert das Schwarzbuch der Lyrik das Unbehagen an der Welt. Eine Gegendarstellung. –
Ein jeder planscht in seinem Teich: Die Konfektionisten der eher monokulturellen Auslese des Jahrbuchs der Lyrik 2015 paddeln im Kreisverkehr lyrischer Indifferenz. Die Herausgeber der gegenliteraischen Inventur schwimmen ihnen trotzend entgegen. Das jüngst erschienene Schwarzbuch der Lyrik 2016 demonstriert, dass die subventionierte Biopoesiecompany keine Betriebsstörungen von seiten aufsässiger Lyrikproduzenten befürchten muss. Weder im guten noch im schlechten.
Mit Fünfzigtausend Anschläge. Schwarzbuch der Lyrik 2016 bleibt das schwarze Schaf der Gegenwartslyrik dennoch Schaf, daran ändert auch der pinkfarbene Anstrich des Buchcovers nichts, und das Riesenknie einer liegenden Frau, gezeichnet von Jörg Waehner, macht diese Gegenlyrik keineswegs sinnlicher. Trotzdem will die Gegenliteratur, mit Brecht gesprochen, den Gebrauchswert von Gedichten erhöhen. Doch der erste, dem ich das Schwarzbuch zeigte, der Artists Coach Marcel Hager, schlug das Buch auf und wieder zu, ließ es an Ort und Stelle liegen, um eine rauchen zu gehen. Er hatte die Seite 89 erwischt. Leider ein Griff in die Phantasielosigkeit:
Textpolizey. Mond geht auf
Sommernacht
Katzen schreien greifen sich an
Argumente auf dem Balkon
Höschenregen im Innenhof
lau lau lau ist die Luft…
Das liest sich nicht wie ein Coup, für den ich das Buch ungeprüft hielt. Zumal die letzte Lesung mit Katrin Heinau, Lütfiye Güzel, Lutz Steinbrück und Hermann Jan Ooster viel mehr hergab als die von ihnen ausgewählten Gedichte. Das auditive Format steht ihnen besser als die Beschränkung auf ein, zwei Gedichte, deren Horizont meist mit der Vernehmung des Ich endet.
Die Stimmführungen der Anthologie lassen manchmal auf halbtote Autoren schließen, aber nicht auf eine zündelnde Pegasusflotte. Und ob das dem Band angehängte Gespräch zwischen Kristian Kühn und Kai Pohl den alternden Kahn rettet, sei dahingestellt. Kühn sagt:
Politische Aussagen brauchen klare Formulierungen. Diese Aussagen sind im Grunde unlyrisch, das ist viel schwerer umzusetzen.
Ja, ist es das? Oder sind es Versuche, dem ansonsten risikoarmen Leben eine Bedeutung zu geben? Handelt es sich um den Versuch, den subliterarischen Dienstleistern eine auffallend stärkere Position im Druck zu verschaffen? Denn die vier Herausgeber sind zugleich Jury und beanspruchen ein Fünftel der Druckseiten. Nun denn:
Immer wieder sind wir die Sache
auf die wir hereinfallen
das alte Subjekt, die Nummer mit dem
Einen, Unverwechselbaren…
notierte Gerhard Falkner im seinem Gedichtband Ignatien und reklamiert damit auch den Betrug an sich selbst, das Bedeutende und seine Bedeutung zu überschätzen.
Die „Fünfzigtausend Anschläge“ des „Schwarzbuchs der Lyrik“ geben sich eine Bedeutung, die sie im Blattumdrehen verspielen. Eigenlob lackiert die Positionierung am Rand des Literaturbetriebes, in Ankündigungen wird jubiliert: „Das Schwarzbuch ist schön geworden, könnte einschlagen, ein Hit werden“, bemerkt ein langjähriger Mit-Betrachter der Szene. „Das riecht mir schon / nach Secession / Beim Liebermann / fing ’s auch so an“, hofft HEL Toussaint, dessen Reime dem Sprachmaterial die letzte Grille austreiben, aber so soll es sein:
die Verwerfungen sollen ein linguistisches Erdbeben auslösen. Dann wird das Wort, mit dem alles anfing, sein gerechtes Ende finden.
Wünschen sich die Herausgeber des Schwarzbuchs einen öffentlichen Dreifrontenkrieg zwischen Realverdichtern, hochdotierten Natur- und Konsensdichtern und marktgefällig kalauernden Surf- und Slampoeten? Dann sollte man die Konfrontation mit Umsicht vorbereiten und Aktionismus unterlassen, damit die Anerkennung einer literarischen Transformation forciert werden kann und sich nicht ad hoc demontiert um den Preis der Verballhornung einer ästhetischen Analyse, die „das Alltagsbewusstsein zurechtrückt mittels Irritation“, so Mitherausgeber Kai Pohl. Letztere ist dem Leser sicher: Irritation und dadaistisches „Pnüngse örken“ von Ralf S. Werder, „Mörtel im Ohrstecker für Männer in Ausbildung“ von Bert Papenfuß, „…hecklig kocht mit stihl brigitte diät…“ aus der Feder des Antikommunisten Hermann Jan Ooster, „im halben gespräch kotzt deine / ganze scham ins seichte fahrwasser / der alltagsangst“ von Lilly Jäckl oder „… Salamandra, Sorriso, Sackamatz…“ von Ann Cotten. Es gibt Reinwaschungen der Beliebigkeit mit den Mitteln der Kapitalismuskritik, Hermetisches, dezentes und avanciertes Sprechen, das „im Einklang mit der Absicht, die Stimmen der Vergangenheit zu brechen“ (Katja Horn) oft dem Duktus der Achtziger folgt: Turbobloßstellungen gegen den Turbokapitalismus von Clemens Schittko, aufmüpfig Seismographisches von Jannis Poptrandov, erhaben simple Cut-ups von Kai Pohl und viel kreativer Wahnsinn könnten den angepeilten Leser, unter anderem den Mob, der zwar zum Kotzen ist, aber ein Recht hat, Gedichte zu verstehen, wie Florian Günther sagt, der aber nicht vorkommt, wieder verprellen oder oder in abwinkende Ratlosigkeit stürzen.
Das Unbehagen an der Welt und an sich selbst mausert sich. Das reicht aber nicht. Eine längere Suche im Bestand der unbestreitbar relevanten Gegendichtung, die Infragestellung des den Literaturbetrieb kopierenden Auswahlverfahrens und eine Düngung der seit Jahren mit Nachsicht goutierten Aufführungssorte täte not, damit man nicht „mit dem Gedicht zur Wand […] die Einschüsse der Sprache“ (Gerhard Falkner) beanstanden muss.
Monika Vasik: Schwarzbuch der Langeweile
fixpoetry.com, 8.2.2016
Christiane Kiesow: Eine ungewöhnliche Anthologie
signaturen-magazin.de
Hellmuth Opitz: Anti Avanti
DAS GEDICHT blog, 7.3.2016
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