DER BECHER
Ich trug einen Becher
von einer Insel zur andern. Ich weckte das Wasser
aaaaanicht.
Hätt’ ich’s verschüttet, hätt’ ich den Durst betrogen.
Nur einen Tropfen, und die Gabe wäre vertan,
alles wäre verloren, sein Herr hätte geweint.
Ich habe keine Stadt begrüßt,
kein Lob dem Flug ihrer Türme gespendet,
nicht die Arme geöffnet in der großen Pyramide,
kein Heim gegründet dem Reigen der Kinder.
Doch als ich ihn abgab, den Becher, rief ich,
die junge Sonne auf meiner Kehle:
„Meine Arme sind frei wie die Wolken, die herrenlosen.
Und mein Hals wiegt sich auf dem Hügel,
eingeladen haben mich die Täler.“
Lüge war mein Alleluja! Seht mich an!
Ich halte den Blick gesenkt auf meine leeren Hände.
Langsam schreite ich, ohne den Diamanten aus Wasser.
Schweigend gehe ich fort. Nicht trage ich Schätze.
Mich betäubt das Blut, das in meiner Brust , in meinen Pulsen
schlägt aus Angst, aus Sorge.
Eigentlich hätte der Nobelpreis des Jahres 1945 an Paul Valéry fallen können – oder müssen −; von französischen wie internationalen Kreisen war dieses bedeutende Mitglied der Französischen Akademie seit 1930 mindestens zehnmal als Kandidat vorgeschlagen worden. 1933 hatten ihn 18 Mitglieder der Akademie und für alle Universitäten Frankreichs ebensoviele Literaturprofessoren in den höchsten Lobeshymnen für die hohe Auszeichnung empfohlen. Nach einer ähnlichen Kundgebung war Henri Bergson fünf Jahre zuvor unter dem Beifall der Weltöffentlichkeit preisgekrönt worden. Eine ansehnliche Zahl belgischer und niederländischer Kollegen schloß sich 1936 den französischen Akademiemitgliedern an, um den Schweden die Kandidatur von Paul Valéry ans Herz zu legen.
Doch erfolgte darauf keine Reaktion. Die zu Hilfe gerufenen schwedischen Sachverständigem verhielten sich zwar nicht gerade still, doch blieben sie in ihren Gutachten zögernd und hoben im wesentlichen nur den exklusiven und ziemlich schwer verständlichen Charakter von Valérys Dichtung hervor. Einer unter ihnen, der feinsinnige Ästhetiker Olle Holmberg, schrieb allerdings: „Würde seine Dichtung mit einem Nobelpreis ausgezeichnet, so stellte dies die Krönung eines großen und kühnen Unterfangens dar, das die Erstürmung der unzugänglichsten geistigen Höhen zum Ziel hat“, und fügte hinzu: „Sollte sich jedoch ein anderssprachiger Leser an schwerverständlichen Einzelheiten dieser Dichtung stoßen, so darf er nicht vergessen, daß ein Stoff wie die Lyrik am besten nur von Landsleuten des Dichters beurteilt werden kann.“ Auf jeden Fall konnte nach Ansicht dieses erfahrenen Referenten kein anderer Lyriker in Frankreich diesem Paul Valéry die Waage halten. Dennoch sprach er sich für eine Teilung des Nobelpreises zwischen dem Verfasser der Charmes und einem Dichter anderer Nationalität mit gleich hohem Anspruch aus. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß er dabei an den deutschen Dichter Stefan George, den Verfasser von Das Jahr der Seele, gedacht hat, der leider schon 1933 verstarb.
Der Tod einiger begabter, hoch angesehener Mitglieder ermöglichte es der Schwedischen Akademie, in den Kriegsjahren ihren Stamm zu verjüngen. 1940 übertrug der alte Per Hallström seinem auf der Höhe des Lebens stehenden Kollegen, dem Dichter und Kritiker Anders Österling, der gleichzeitig Präsident des Nobelkomitees für den Literaturpreis wurde, den Posten des Ständigen Sekretärs. Mit Hilfe anderer einflußreicher Komiteemitglieder, darunter des Romanciers Sigfrid Siwertz und des ungekrönten Königs der Literaturkritik, Professor Fredrik Böök, gelang es Österling, die letzten Zweifel zu überwinden und faktisch alle Stimmen auf die Wahl Paul Valérys für den Nobelpreis 1945 zu vereinen. Das lange Zeit stark angefochtene Votum von Professor Böök wurde, vermutlich endgültig, folgendermaßen formuliert:
Paul Valérys Beitrag zur Dichtkunst ist von solcher Ursprünglichkeit und Bedeutung, sein Prosawerk so glänzend und ideenreich, daß ich die Verleihung des Nobelpreises für völlig gerechtfertigt halte.
Doch leider raffte der Tod den schon designierten Preisträger vor der förmlichen Wahl hinweg, und es stellte sich die Frage, ob sich nicht wie bei dem großen schwedischen Dichter Erik Axel Karlfeldt 1931 noch eine postume Ehrung durchführen ließe. Doch angesichts der scharfen Kritik, die diese Geste seinerzeit hervorgerufen hatte, entschied sich die Schwedische Akademie, von dieser Prozedur Abstand zu nehmen und dem Präzedenzfall nicht zu folgen, obwohl er in keiner Weise die Statuten der Nobelpreisstiftung verletzt hatte.
Damit war für die chilenische Dichterin Gabriela Mistral der Weg zum Ruhm frei. Seit 1940 war sie für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, und zwar nicht nur von der philosophischen Fakultät in Santiago, der Hauptstadt ihres Heimatlandes, sondern auch von den philosophischen Fakultäten, Literaturgesellschaften und Kulturinstituten, ja selbst von den Regierungen praktisch aller Länder Lateinamerikas. Die Empfehlungen für Gabriela Mistral, deren wirklicher Name Lucila Godoy y Alcayaga war, klangen fast drohend im Munde ihrer chilenischen Landsleute:
Ihre erhabene und starke Persönlichkeit erscheint uns als stärkste intellektuelle und moralische Kraft im heutigen Lateinamerika, und wir sehen in ihr unbedingt eine der größten, wenn nicht gar die größte Dichterin aller Zeiten…
Erst 1922, im Alter von 33 Jahren, war sie mit einer Gedichtsammlung, Desolación – Verzweiflung – betitelt, an die Öffentlichkeit getreten, und noch heute wird diese als ihr Hauptwerk angesehen. Sie schildert darin ihre ersten Liebeserfahrungen, die enttäuschte Leidenschaft einer kleinen Lehrerin zu einem hübschen, aber flatterhaften Eisenbahnangestellten, der sie verläßt, bevor sie das Glück der Mutterschaft erleben durfte. Noch in zwei oder drei weiteren Gedichtsammlungen drückte sich ihre Verzweiflung aus, doch fand sie in der mütterlichen Fürsorge, die sie den Kindern unzähliger, vom Schicksal mehr verwöhnter Schwestern widmen konnte, einen Ausgleich. Zugleich führte sie ein sehr tätiges Leben, anfangs als Sachverständige für Erziehungsfragen in verschiedenen Gegenden ihres weiten Kontinents, später als Konsularbeamtin im Dienst ihres eigenen Landes in Spanien, Frankreich und Italien. Seit 1926 vertrat sie Chile in dem Institut für geistige Zusammenarbeit, das dem Völkerbund unterstellt war. Dort machte sie Bekanntschaft mit dem Präsidenten dieser internationalen Gesellschaft, Paul Valéry, der ihr freundlicherweise die Einleitung zu ihrer ersten ins Französische übertragenen Auswahl von Vers- und Prosagedichten verfaßte. Er würdigte sie voll väterlich-ritterlichem Wohlwollen:
Ich hatte die Ehre, Gabriela Mistral in den Vereinigungen kennenzulernen, die unlängst unter Beteiligung von Delegierten aller Länder den Versuch unternahmen, eine Nation des menschlichen Geistes zu gründen; das war ein notwendiger Versuch, doch wird dergleichen wohl ständig an dem Gegensatz Mensch und Geist scheitern. Frau Mistral vertrat ihr Land mit einer Grazie und Bescheidenheit, die ihr den Respekt und die Sympathien aller an unserer Arbeit Beteiligten eintrugen. Ich spürte wohl, daß ihr jenes Nebeneinander von Aufmerksamkeit und Träumerei, die scheinbaren, durch plötzliche Eingebungen unterbrochenen Abwesenheiten zu eigen waren, die für die Wesensart des Dichters so bezeichnend sind. Allerdings muß ich gestehen, daß ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihrem Werk gekannt habe. Erst als ich die vorliegende Übersetzung zu lesen bekam, konnte ich es, soweit dies die in eine fremde Sprache übertragene Dichtung erlaubt, würdigen.
Diese anerkennende, freilich mit den gleichen Vorbehalten vorgetragene Meinung, die zu seinem eigenen Schaffen im Nobelpreiskomitee laut geworden waren, stammte aus den letzten Lebensjahren Paul Valérys. Er ahnte damals sicher nicht, daß er es mit einer ernst zu nehmenden Anwärterin auf den Nobelpreis zu tun hatte. Die chilenische Dichterin, deren Werk zu dieser Zeit bereits in einer englischen und einer deutschen Übersetzung vorlag, ließ ihrerseits keine Gelegenheit ungenutzt, dem großen französischen Dichter zu huldigen: „Dem Größten der Gegenwartsliteratur – auf alle Fälle bewundere ich niemand so sehr wie ihn“ – so drückte sie sich anläßlich ihrer ersten Pressekonferenz nach der Preisverteilung aus. Dagegen bestritt sie energisch, von ihm oder irgendeinem anderen europäischen Schriftsteller beeinflußt worden zu sein – was nicht besagt, daß sich, vor allem in ihren frühesten Varianten biblischer Themen, nicht deutlich Spuren einer fruchtbaren Lektüre bei französischen Dichtern wie Victor Hugo und Alfred de Vigny feststellen ließen. Hat sie doch sogar ihren Dichternamen einem anderen Heros der französischen Literatur entlehnt, dem Nobelpreisträger von 1904, Frédéric Mistral, und ihn damit zum zweiten Mal berühmt gemacht.
In der Schwedischen Akademie hatte Gabriela Mistral in Hjalmar Gullberg, einem noch neuen Mitglied der Akademie und würdigen Nachfolger auf dem 1940 freigewordenen Stuhl von Selma Lagerlöf, einen ebenso beredten Anwalt wie eifrigen Interpreten gefunden. Eine Auswahl von Gedichten, die er in eigener Übersetzung herausgegeben hatte, sicherten Gabriela Mistral ihre triumphale Wahl und den ausgesprochen warmen Empfang durch die schwedische Presse, die einzige in Europa, die, wie es scheint, das Werk der neuen Preisträgerin ausführlich kommentierte. Die meisten Länder unseres alten Kontinents hatten zu dieser Zeit gewiß ganz andere Sorgen, und die Blätter, die damals herauskamen und aus Papiermangel dünn geworden waren, konnten bei einem zu anderen Zeiten aufsehenerregenden Ereignis nicht lange verweilen. Um so überschwänglicher waren die der „göttlichen Gabriela“ gewidmeten Artikel in den großen und kleinen Zeitungen von ganz Lateinamerika; hier floß der Enthusiasmus in Strömen über ganze Seiten dahin. Einige verglichen sie mit der Sappho, andere mit der heiligen Theresa von Ávila. Allerdings geschah es auch zum erstenmal, daß dieser Erdteil mit einem Nobelpreis geehrt wurde.
Während der Kriegsjahre hatte sich Gabriela Mistral aus Gesundheitsgründen Rio de Janeiro als Wohnsitz ausgewählt. Dort erhielt sie auch die Freudenbotschaft. Der Preis wurde ihr, wie aus der kurzen Motivierung der Schwedischen Akademie hervorgeht, für ihre „von starkem Gefühl getragene Lyrik verliehen, die ihren Dichternamen zu einem Symbol für die ideellen Bestrebungen der ganzen lateinamerikanischen Welt gemacht hat“. Dieser akademischen Eloge folgte ein getreues Echo in der schwedischen Presse. Unter dem Namen des bekannten Kritikers Sten Selander las man im Svenska Dagbladet, dem Hauptorgan eines gebildeten Leserkreises:
Die Verbindung von modernem Empfindungsvermögen mit den starken Instinkten einer ungezähmten Urwüchsigkeit machen Gabriela Mistral zu einer Lyrikerin von Bedeutung und Faszination. Sie läßt nicht nur an die heilige Jungfrau mit dem Kind, sondern ebenso an eine heidnische, archaische und grausame Liebesgöttin denken. Durch ihre von einer allen zivilisierten Ländern eigenen Humanität geprägte Welt spürt man plötzlich glühende Zyklone aus den blutgetränkten uralten Kultstätten der Azteken und den versengten Wüsten Chiles daherrasen.
Im Dezember 1945 fuhr Gabriela Mistral mit dem Schiff nach Stockholm, um aus den Händen des greisen Königs Gustaf V. die Dokumente ihres Nobelpreises entgegenzunehmen. Zum erstenmal seit 1938 wurde die Preisübergabe in diesem Jahr wieder mit dem gewohnten Aufwand vollzogen. Nicht weniger als 13 Preisträger der Jahre 1943, 1944 und 1945, unter ihnen auch der Literaturpreisträger von 1944, Johannes V. Jensen, nahmen an der Zeremonie teil. Der Dichter Hjalmar Gullberg würdigte im Namen der Schwedischen Akademie „die kleine Lehrerin aus der Provinz, die junge Kollegin Selma Lagerlöfs, die zur Geisteskönigin von ganz Lateinamerika werden sollte“. Die schöne, im reinsten Kastilisch gehaltene Rede endete mit den Worten:
Für eine so weite Reise, wie Sie sie hierher zurückgelegt haben, ist diese Rede sehr kurz. In wenigen Minuten habe ich den Landsleuten von Selma Lagerlöf Ihren bemerkenswerten Weg zu schildern versucht, der Sie fast wie im Märchen vom Katheder einer Schule bis zum Thron der Dichtkunst geführt hat. Die ganze reiche ibero-amerikanische Literatur ist in unsere Würdigung eingeschlossen, wenn wir uns heute im besonderen an ihre Meisterin wenden, an die Dichterin von Desolación, die zur großen Sängerin der Barmherzigkeit und Mutterschaft geworden ist.
Gabriela Mistral antwortete mit einer bewegten Huldigung an Schweden, ein Land, wo es ihr so gut gefalle, daß sie einen ganzen Monat hier zu verweilen gedenke. Dank dieses langen Aufenthaltes konnte sie eine Pilgerfahrt zum ehemaligen Wohnsitz von Selma Lagerlöf in Mårbacka unternehmen und deren Grab auf dem ganz in der Nähe liegenden Friedhof von Emtervik mit Blumen schmücken.
Erst neun Jahre später ist Gabriela Mistral in ihr Heimatland Chile zurückgekehrt, das sie 16 Jahre zuvor verlassen hatte. In der Zwischenzeit war sie in Paris, Rom und New York gefeiert worden. Als sie in Valparaiso, der großen Welthafenstadt, ankam, erwartete sie der Sonderzug des Staatspräsidenten, um sie im Triumph nach Santiago zu bringen. Wie eine Königin wurde sie an den Stationen von den Magistraten begrüßt, und in der Hauptstadt, wo überall ihr zu Ehren geflaggt war, empfing sie ein wahrer Taumel. Die Dichterin sah sich mit Blumen und Goldmedaillen überschüttet; sie wurde zur Ehrenbürgerin der Stadt ernannt und erhielt von der Universität Santiago den Doktortitel honoris causa. Eigentlich erwartete man, sie werde irgendwohin als Botschafterin entsandt, doch begnügte sie sich mit der Ernennung zum Generalkonsul in Los Angeles, wo sie am Meeresufer ein kleines Grundstück erworben und mit dem Betrag des Nobelpreises ein Haus für ihren Lebensabend gebaut hatte.
Kjell Strömberg
Anläßlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Gabriela Mistral
Majestät, Exzellenzen, meine Damen und Herren,
Einst kam eine in der guten Gesellschaft unbekannte Sprache dank den Tränen einer Mutter wieder zu Ehren und wurde in Gestalt eines Epos berühmt. Von dem ersten der beiden Dichter, die den Namen des Mittelmeerwindes Mistral trugen, wird berichtet, er habe als junger Student seine ersten Verse in französisch verfaßt, worauf jedoch seine Mutter in Tränen ausgebrochen sei. Als schlichte Bäuerin aus dem Languedoc verstand sie die gehobene Sprache nicht. So habe sich denn ihr Sohn entschlossen, künftig in seiner Muttersprache, dem Provenzalischen zu schreiben. Es entstand ein vom Duft der blühenden Erde erfülltes Epos Mireille, das von der Liebe des hübschen kleinen Landmädchens zu dem armen Handwerker und von ihrem traurigen Ende erzählt. Auf diese Weise wurde die alte Sprache der Troubadoure für die Dichtung wiedergewonnen, und die Zuerkennung des Nobelpreises im Jahr 1904 lenkte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf dieses Ereignis. Zehn Jahre danach starb der Verfasser der Mireille.
Als im gleichen Jahr der Erste Weltkrieg ausbrach, stellte sich bei den Blumenspielen von Santiago de Chile eine neue Mistral am anderen Ende der Welt vor und gewann mit ihren einem Toten gewidmeten Liebesgedichten den Preis.
Die Lebensgeschichte von Gabriela Mistral ist bei den südamerikanischen Völkern so bekannt, daß sie, von Land zu Land verbreitet, fast zur Legende wurde. Aber nachdem sie nun auch über die Kämme der Anden und die Grenzenlosigkeit des Atlantiks hinweg zu uns gelangt ist und von neuem in diesem Saal erzählt werden soll, haben wir zugleich Gabriela Mistral in Person unter uns.
Aus einem kleinen Dorf im Tal von Elqui erwuchs vor mehreren Jahrzehnten eine junge Lehrerin mit Namen Lucila Godoy y Alcayaga. Godoy war der Name ihres Vaters, Alcayaga der ihrer Mutter; beide sind baskischen Ursprungs. Der Vater, ein ehemaliger Lehrer, schüttelte die Verse nur so aus dem Ärmel. Sein Talent scheint mit der bei Dichtern nicht seltenen Unruhe und Unbeständigkeit verbunden gewesen zu sein. Als seine Tochter, der er einen kleinen Garten angelegt hatte, noch ein Kind war, verließ er seine Familie. Die hübsche Mutter, der ein langes Leben beschieden sein sollte, erzählte, sie habe ihre viel auf sich selbst angewiesene Tochter so manches Mal bei vertraulichen Gesprächen mit den Vögeln und den Blumen in diesem Garten überrascht. Es heißt, Gabriela sei eines Tages von der Schule nach Hause geschickt worden. Offensichtlich hielt man sie für zu wenig begabt, um weiteren Unterricht an sie zu verschwenden. So bildete sie sich mit ihren eigenen Mitteln weiter und brachte es schließlich so weit, daß man ihr die LehrersteIle in dem kleinen Dorf La Cantera anvertraute. Dort entschied sich für die Zwanzigjährige das Schicksal: Zwischen ihr und einem Eisenbahnangestellten, der im selben Dorf arbeitete, erwuchs eine leidenschaftliche Liebe. Wir wissen wenig von dieser Beziehung. Bekannt ist nur, daß er sie verließ und sich an einem Novembertag des Jahres 1909 eine Kugel durch den Kopf schoß.
Grenzenlose Verzweiflung erfaßte das junge Mädchen. Einem Hiob gleich, klagte sie den Himmel an, der so etwas zugelassen hatte. Aus dem in den kargen, verbrannten chilenischen Bergen versteckten Tal stieg ihre Stimme auf und wurde von den Menschen weit in der Runde gehört. Eine banale Alltagstragödie verlor ihr intimes Wesen und wurde Teil der Weltliteratur. So erwuchs aus Lucila Godoy y Alcayaga unsere Gabriela Mistral. Die kleine Lehrerin aus der Provinz, die junge Kollegin von Selma Lagerlöf, sollte zur Geisteskönigin von ganz Lateinamerika werden.
Die im Gedenken an den Toten geschriebenen Gedichte machten den Namen der neuen Autorin bekannt, und das schwermütige, leidenschaftliche Werk Gabriela Mistrals begann sich in Südamerika zu verbreiten. Doch erst 1922 ließ sie in New York ihre große Gedichtsammlung Desolación – Verzweiflung – drucken. Es sind dies die Tränen einer Mutter, die mitten in diesem Buch ausbrechen, vergossen über den Sohn des Toten, diesen Sohn, der nie geboren werden sollte.
„Ein Kind!“ rief ich gleichwie ein Baum, vom Frühling angeweht,
die Kronen seiner Knospen in den Himmel reckt.
Ein Kind mit Christi fragend-großen Augen,
mit Lippen, die verlangen, mit einer Stirn aus Staunen.
Und Armen, mir wie Girlanden um den Hals geflochten.
Mein Lebensstrom ergießt sich fruchtbar in das Kind.
Mein Herz ein Duft, der sich verschwendet,
auf seinem Flug der Erde Hügel salbt.
Als wir der schwangeren Frau begegnet,
da blickten wir sie an mit zuckenden Lippen, bittenden Augen,
und durch die Menge schritten wir mit unserer Liebe.
Wie blind ließ uns zurück ein Kind mit blauen Augen!
In Nächten, da ich schlaflos war vor Glück und Traumgebilden,
stieg nicht die Wollust glühend in mein Bett.
Für den, der da geboren werden sollte, in Liedern eingehüllt,
streckt’ ich den Arm aus, schwellt’ sich meine Brust…
Gabriela Mistral übertrug ihre Mutterliebe auf die Kinder, die sie unterrichtete. Für sie schrieb sie die einfachen Lieder und Rundtänze, die 1924 unter dem Titel Ternura – Zärtlichkeit – in Madrid erschienen. Und zu Ehren der Dichterin sangen einmal viertausend mexikanische Kinder diesen Reigen. Gabriela Mistral wurde zur Sängerin der Mutterliebe für mutterlose Kinder.
Erst 1938 erschien in Buenos Aires, zugunsten der vom spanischen Bürgerkrieg betroffenen Kinder, ihre dritte große Gedichtsammlung Tala, ein Titel, der Zerstörung bedeutet, aber gleichzeitig auch ein Kinderspiel bezeichnet. Im Gegensatz zu der leidenschaftlichen Erregtheit von Desolación spricht aus Tala die über den südamerikanischen Kontinent gebreitete kosmische Ruhe. Der Duft dieser Erde dringt bis zu uns; wir stehen im Garten der jungen Gabriela und hören ihre vertraulichen Dialoge mit der Natur und den Dingen. In einer eigenartigen Mischung von heiliger Hymne und naiver Kindersprache besingen diese Lieder die einfache Nahrung des Menschen, Brot und Wein, Salz, Mais und Wasser, ein Wasser, das dem dürstenden Menschen auf so vielsagende Weise geboten werden kann:
Im Hause, das meiner Kindheit gehört,
trug meine Mutter das Wasser mir zu.
Von einem Schlucke zum anderen Schluck
sah ich ihr Antlitz über dem Krug.
Höher und höher wuchs mir ihr Kopf,
und tiefer und tiefer sank der Krug.
Noch habe ich das Tal,
habe ich meinen Durst und ihren Blick.
Dies wird die Ewigkeit sein,
daß wir noch sind, wo wir einstens gewesen sind.
Menschlicher Gebärden entsinne ich mich,
und Gebärden sind es des Wasserschöpfens.
Mit mütterlicher Hand reicht uns die Dichterin selbst ihr Getränk, das nach Erde schmeckt und den Durst des Herzens stillt. Es ist aus der Quelle geschöpft, die für Sappho auf einer Insel Griechenlands und für Gabriela Mistral im Tal von Elqui sprudelte, einer Quelle der Poesie, die auf Erden niemals versiegen wird.
Frau Gabriela Mistral,
Für eine so weite Reise, wie Sie sie hierher zurückgelegt haben, ist diese Rede sehr kurz. In wenigen Minuten habe ich den Landsleuten von Selma Lagerlöf Ihren bemerkenswerten Weg zu schildern versucht, der Sie fast wie im Märchen vom Katheder einer Schule bis zum Thron der Dichtkunst geführt hat. Die ganze reiche ibero-amerikanische Literatur ist in unsere Würdigung eingeschlossen, wenn wir uns heute im besonderen an ihre Meisterin wenden, an die Dichterin von Desolación, die zur großen Sängerin von Barmherzigkeit und Mutterschaft geworden ist.
Ich bitte Sie, aus den Händen Ihrer königlichen Majestät den Nobelpreis für Literatur entgegennehmen zu wollen, den Ihnen die Schwedische Akademie zuerkannt hat.
Hjalmar Gullberg, 10.12.1945
Gabriele Töpferwein: Ich liebe die Dinge, die ich niemals besaß
Quetzal, April 2014
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 1/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 2/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 3/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 4/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 5/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 6/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 7/7.
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