NOCTURNO
In den Blättern,
den klagenden,
der Wind
ist aus Silber.
Aus Silber,
das über
den zähen Stunden
sich zersetzt.
(Mit schwarzen Geistern,
die wegreißen
Gedichte)
Gloria de Sant’ana
Übersetzung: Andreas Reimann
Die Welt schien Moçambique, seit fast 500 Jahren von Portugal beherrscht, nahezu vergessen zu haben, und das „Mutterland“ sorgte wohl selbst aus wohlverstandenem Kolonialinteresse dafür, daß es um seine fast neunmal größere „Überseeprovinz“ möglichst ruhig blieb.
Für den Außenstehenden war es kaum wahrnehmbar, inwieweit die Stürme des zweiten Weltkrieges, die Erschütterungen, die in seinem Gefolge die kapitalistischen Länder erfaßten, der Fall des Kolonialismus in weiten Gebieten Afrikas, der Jubel über die erlangte Unabhängigkeit Moçambique berührten oder wohl gar veränderten. Zwar gab es bereits in früheren Jahrzehnten Ansätze und Bestrebungen zu einer gewissen Autonomie der Kolonie, die aber aus Gründen ihrer Schwäche und relativen Isolation kaum gesellschaftliche Tiefenwirkung erreichen konnten. Erst im „Jahr Afrikas“, 1960, und im folgenden Jahr, als viele afrikanische Staaten die lang ersehnte politische Unabhängigkeit errungen hatten, formierten sich in Moçambique politische Organisationen, die den Keim zukunftsorientierten und erfolgreichen Strebens in sich trugen, unter anderen besonders die Demokratische Nationale Union von Moçambique (UDENAMO) und die Afrikanische Nationalunion von Moçambique (MANU). Ein Schlüsselereignis der neuen Mocambikanischen Geschichte war schließlich die Vereinigung dieser verschiedenen Gruppen zur Befreiungsfront von Moçambique (FRELIMO) am 25. Juni 1962, zu deren Präsidenten Eduardo Chivambo Mondlane gewählt wurde. Damit war eine politische Kraft in Moçambique entstanden, die – trotz mancher anfänglichen Probleme und auch Umwege – den antikolonialistischen Kampf am konsequentesten führte und ihn dadurch in die Breite zu führen vermochte. Auf ihrem I. Kongreß Ende September 1962 in Dar es-Salaam, der Hauptstadt des benachbarten Tansania, beschloß die FRELIMO nicht nur ihr erstes Programm, sondern auch die Ausbildung von Kadern für den bewaffneten Kampf, die im Januar 1963 im Ausland, unter anderem in Algerien und Tansania, begann.
Am 25. September 1964, zwei Jahre nach dem FRELIMO-Kongreß, proklamierte die FRELIMO den Beginn des allgemeinen bewaffneten Aufstandes. Inzwischen hatte der portugiesische Kolonialismus alles getan, um seine „Überseeprovinz“ militärisch zu sichern. So standen zu jenem Zeitpunkt 35.000 portugiesischen Soldaten nur 250 ausgebildete FRELIMO-Kämpfer gegenüber; allerdings war ihre Zahl in wenigen Jahren bereits auf 8.000 angewachsen. Der II. FRELIMO-Kongreß im Juli 1968 konnte bereits in befreiten Gebieten der moçambikanischen Provinz Niassa durchgeführt werden; im folgenden Jahr standen 10.000 Kämpfer im Einsatz. Trotz grausamer Repressalien des Kolonialregimes und ständiger Verstärkung seiner militärischen Kräfte, trotz Korruptions- und Spaltungsversuchen gegenüber der FRELIMO, trotz Bedrohung und Ermordung ihrer Mitglieder (Eduardo Mondlane fiel 1969 einem heimtückischen Bombenattentat zum Opfer) dehnte die FRELIMO ihre Operationsräume auf Moçambikanischem Territorium rasch aus und befreite bedeutende Teile des Landes. Unter der Führung von Samora Machel, dem Nachfolger Mondlanes als Präsident der FRELIMO und heutigen Staatspräsidenten der Volksrepublik Moçambique wurde 1974 die Zambézia-Front eröffnet. Am 29. Juli 1974 vereinbarten die Provisorische Regierung Portugals und die Führung der FRELIMO eine Waffenruhe. Schließlich erfolgte mit der Unterzeichnung des Abkommens von Lusaka am 7. September 1974 die Schaffung einer Übergangsregierung unter Führung des FRELIMO-Politikers Joaquim Chissano als Ministerpräsidenten. Als am 25. Juni 1975 die 9 Millionen Einwohner Moçambiques die vollständige Unabhängigkeit des Landes und die Proklamation der Volksrepublik Moçambique feierten, lag ein wohl überaus schwerer, doch in seinen grundsätzlichen Positionen und Entwicklungslinien klar und fest konturierter Weg vor ihnen: Die Völker Moçambiques unter Führung der FRELIMO entschieden sich für eine von Ausbeutung freie humane Gesellschaft, für eine sozialistische Orientierung. Der III. Kongreß, der im Februar diesen Jahres stattfand, bekräftigte diese Zielstellung und beschloß die Umwandlung der FRELIMO in eine Avantgardepartei, deren geistige und politische Basis der Marxismus-Leninismus sein solle. Nach einem halben Jahrtausend portugiesischer Kolonialherrschaft, die ein trübseliges Erbe hinterläßt, eröffnet sich damit vor Moçambique und seinen Menschen eine neue historische Dimension.
Die moçambikanische Literatur teilt mit der Geschichte dieses Landes im allgemeinen nicht nur etwa die Tatsache, daß auch sie bisher fast nur im portugiesischen Sprachraum bekannt war – und was wollte selbst das angesichts der beklemmenden sozialen Verhältnisse und der unvergleichlich hohen Rate des Analphabetentums in Portugal und seinen ehemaligen Kolonien für ihre Rezeption heißen. Es war wohl weniger die sprachliche Barriere, die die westeuropäischen Anthologieneditoren und Kulturmagazinschreiber davon abhielt, sich mit dieser Literatur näher zu befassen. Die ältere moçambikanische Literatur, besonders die Lyrik, war zu klassizistisch-spröde im Sinne der portugiesischen Tradition, um „modern“ zu werden, und die neue politische Lyrik war zu determiniert, vielleicht auch zu ephemer, um es werden zu können. Davon abgesehen, denn dies kann nur als die äußere Seite dieses Problems begriffen werden, spiegelt die Geschichte der moçambikanischen Dichtung mehr als nur in einem gewöhnlichen und floskelhaften Sinne die Geschichte Moçambiques. Sicherlich verdankt sie Anregung und thematische und formale Beeinflussung den Traditionen der portugiesischen Literatur, wie insbesondere die Gedichte der älteren hier vertretenen Autoren zum Teil sehr deutlich beweisen. Die strenge Formschönheit der Sonette Rui de Noronhas zum Beispiel, die etwas Zeitloses zu besitzen scheint, gewinnt eine sehnsüchtige und fast nostalgische Perspektive, wenn man bedenkt, daß zur selben Zeit im fernen „Mutterland“ der Surrealismus und andere Modernismen die Szene beherrschten.
Doch hat die Literatur Moçambiques, und ganz besonders die Lyrik, weil sie die gebundene Form mit der Oralliteratur gemein hat, tiefe Wurzeln und festes Fundament ebenso in den literarisch-kulturellen Traditionen der afrikanischen Völker dieses Landes, im reichen, doch bis vor wenigen Jahren sträflich vernachlässigten Erbe der mündlich überlieferten Volksliteraturen. Dieser Faktor, eng mit dem Erwachen afrikanischen Selbstbewußtseins und dem Aufkommen antikolonialistischen Denkens verbunden, gewinnt naturgemäß eine seit längerem wachsende Bedeutung; seine Pflege und schöpferische Weiterentwicklung gehören zu den wichtigsten kulturpolitischen Zielen der FRELIMO-Regierung.
So verwob die Entwicklung der moçambikanischen Dichtkunst nicht einfach zwei an sich prinzipiell fremdartige Literaturtraditionen; eine solche synkretistische Deutung und Definition bliebe an der Oberfläche. In ihr findet sich gewiß ein ständiges Ringen von „Weiß“ und „Schwarz“, von europäischen und afrikanischen Traditionen, von ihnen entsprechenden Ideen und Strukturen. Aber jene Ideen, Emotionen und Formen sind nicht rassisch bestimmt und nicht an eine bestimmte Hautfarbe gebunden. Deshalb vollzieht sich der Prozeß der Herausbildung und Entwicklung der moçambikanischen Literatur als Suche nach dem Gemeinsamen, sinnfällig Spezifischen einer solchen Literatur. Jede bloße Fortsetzung oder gar Imitation der portugiesischen Literaturtraditionen, das auch vorhanden sein mag, bleibt dahinter zurück und scheidet aus dem moçambikanischen Literaturprozeß von selbst aus. Allerdings erscheint das Eigentümliche der Literatur Moçambiques, nicht einmal in der Nachkriegsperiode, auch nicht lediglich als nationale oder sogar nationalistische Flaggenhissung. Die Rückschau auf die Entwicklung der Lyrik zum Beispiel – doch das trifft auch auf die Prosa zu – macht sichtbar, daß ihre Spezifik in der vielfältigen poetischen Auseinandersetzung mit der Realität der moçambikanischen Gesellschaft besteht; deren Probleme sind ihre Probleme. Das führt in einer strengen Weise dazu, daß die Gedankenlyrik bei weitem dominiert. Dies kulminiert in den sechziger und siebziger Jahren in der politisch-sozialen Programmlyrik und den kämpferischen Gesängen der FRELIMO.
Freilich fallen die poetischen Reaktionen auf die koloniale Realität Moçambiques naturgemäß sehr unterschiedlich aus, und im ganzen wie im Schaffen einzelner Dichter vollziehen sich konfliktreiche und mitunter schmerzhafte Prozesse der Selbstfindung und des Parteiergreifens. Die Äußerungen dieses Prozesses sind auch dann literaturhistorisch interessant, vielleicht wesentlich, wenn sie verdeutlichen, daß ihr Schöpfer diesen Prozeß nicht immer konsequent progressiv zu Ende führen konnte.
Die hervorragendsten Dichter Moçambiques, José Craveirinha, Rui Nogar, Barnabé João Mutimati, ja auch Orlando Mendes, nicht zu reden von Kalungano (Marcelino dos Santos), Armando Guebuza, Jorge Rebelo und anderen, die gleichzeitig führende Persönlichkeiten der FRELIMO sind, fanden allerdings ihren Weg an die Seite des gesellschaftlichen Fortschritts, in den antikolonialen und nationalen Befreiungskampf, wenn auch durchaus auf recht unterschiedliche Weise.
Erste literarische Arbeiten, auch Lyrik, erschienen in Moçambique in der von João Albazini und Estacio Dias in den zwanziger Jahren begründeten Zeitschrift Voz African. Herausragende Bedeutung erlangte in jener Zeit der bereits erwähnte Dichter Rui de Noronha, dessen Leben und Schaffen die tragischen Aspekte der Genese der moçambikanischen Literatur verdeutlichen. Noronhas Verse zeigen außerordentliche ideelle und emotionale Tiefe; zu der die klassische Strenge ihrer Form in einem spannungsreichen und produktiven Verhältnis steht. Ein besonders schönes und charakteristisches Beispiel ist das Sonett „Frau“, das ganz gewiß eine sensible und bildhafte-gefühlvolle poetische Huldigung der Frau ist, das aber seine volle Wirkung wie das tragende Element seiner Gestaltung aus seiner konkreten lyrischen Struktur gewinnt: aus dem komplizierten System der Alliterationen und Endreime, aus der deutsch kaum nachvollziehbaren Melodik (das Portugiesische ist vokalreicher; die meisten Silben sind offen, das heißt, sie enden auf einen Vokal) seiner Verse und dem zugleich Verbindenden und Trennenden der Strophierung:
Chamam-te linda, chamam-te formosa,
Chamam-te bela, chamam-te gentil…
A rosa é linda, é bela, é graciosa,
Porém a tua graça é mais subtil.
A onda que na praia, sinuosa,
A areia enfeita com encantos mil,
Não tem a graca, a curva luminosa
Das linhas do teu corpo, amor e ardil.
Chamam-te linda, encantadora ou bela;
Da tua graçe é pálida aguarela
Todo o nome que o mundo à graça der.
Pergunto a Deus o nome que hei-de dar-te,
E Deus responde em mim, por toda a parte:
Não chames bela – chama-lhe Mulher!
Die Struktur der Endreime im Original ist demnach folgende: 1. Strophe: a-b-a-b; 2. Strophe: a-b-a-b; 3. Strophe: c-c-d; 4. Strophe: e-e-d.
In der Regel stehen dem Dichter in so kunstvollen Versen nicht lediglich einsilbige Endreimpaare zur Verfügung, sondern mehrsilbige, wie zum Beispiel formosa, graciosa, sinuosa, luminosa, gentil, subtil, ardil, dar-te, parte usw. Das gleiche gilt auch für viele andere Gedichte Rui de Noronhas. In der vorliegenden Anthologie ist noch auf „Lieben“ hinzuweisen. Noronha war aber keineswegs bloß stilistisch brillanter Sänger vorwiegend individueller Gefühle und Impressionen, wenngleich die Sensibilität und Delikatesse seiner lyrischen Arbeiten bis in einzelne Metaphern hinein besonders evident sind, eine Sensibilität, die heute vielleicht als Sentimentalität mißverstanden werden könnte. Rui de Noronha war ein unglücklicher Mensch, unglücklich über sein zwitterhaftes Leben als Mann der Kultur und der Bildung in einer kolonial bestimmten Gesellschaft, wo nicht jenes, sondern Erfolg, Reichtum, Macht und Skrupellosigkeit gesellschaftliche Geltung besaßen; unglücklich über die ungewisse Stellung und die Zwitterhaftigkeit der historisch-sozialen Situation seines Landes zwischen den Weltkriegen, das kein „Land“ im Sinne eines Staates, keine Provinz als wirklicher Teil einer Nation, sondern eine Kolonie, eine „Überseeprovinz“ war, ein Land, das nicht europäisch war und nicht afrikanisch sein durfte. Rui de Noronha (geb. 1909) war nicht der einzige, der damals so empfand, weder in Moçambique noch in anderen Teilen Afrikas, und wie manche anderen zerbrach er an der für seine Begriffe irrationalen Realität. Seine Zeit hielt noch keine historisch machbare Lösung seiner Probleme bereit, und nicht zufällig erscheint im Werk dieses feinfühligen und im Grunde überaus volksverbundenen, weil mit dem Volk fühlenden Dichters; die Vokabel „Volk“ überhaupt nicht, während dieses Wort als Inbegriff des Trägers und des Ziels der Revolution in der Dichtung der nationalen Befreiungsbewegung eine überaus bedeutungsvolle Stellung einnimmt. Etwas von Zukunftssehnsucht tönt allerdings oft auch da hindurch, wo Schwermut zu dominieren scheint („Steh auf und wandle“). Rui de Noronha endete 1943 selbst sein Leben. Man hat nicht zu Unrecht sein Leben, sein großes literarisches Talent und sein tragisches Scheitern mit dem Schicksal des bedeutenden madegassischen Dichters Jean-Joseph Rabéarivelo (1901–1937), eines Zeitgenossen Noronhas, verglichen.
Noémia de Sousa (geb. 1927) und José Craveirinha (geb. 1922) gehören bereits einer anderen, einer neuen Generation an, die die Schwelle des Morgen schon sah. Ihr dichterisches Bewußtsein, obgleich wie bei Rui de Noronha zunächst vor allem am Individuell-Psychologischen geschult, arbeitete aus der Sicht des einzelnen heraus, objektivierend Noémia de Sousa, revoltierend Craveirinha, die Fragen der Zeit auf; Fragen einer konkreten Zeit und einer konkreten Gesellschaft. Die tiefen sozialen Widersprüche in Moçambique, mit kolonialistischem Pomp und Glanz in wenigen städtischen Metropolen, vor allem Lourenco Marques (heute: Maputo) und Beira, auf der einen Seite, unbeschreiblichem Elend, Armut und Rückständigkeit auf dem Lande und in den Afrikanervierteln der Städte auf der anderen Seite, erregten sozialkritisches Empfinden, das in ihrer Dichtung seinen Niederschlag findet. Dabei geht es Craveirinha nicht bloß ums Allgemeine, sondern gerade er findet oft ins Groteske und Abstoßende weisende Verdichtungen individuell-persönlicher Gestalten und Schicksale, während bei Noémia de Sousa generell gesehen die Bewältigung der Konflikte im Elegischen mündet. Craveirinha ist sehr oft, jedenfalls in seiner frühen Schaffensperiode, beißender Spötter und scharfer Kritiker; Sousas Kritik ist zugleich Klage. Was beider Werk adelt, ist die strahlende Warmherzigkeit für die Unterdrückten, für die vom Schicksal Getretenen. Und beide vermochten literarischer Wirklichkeitsanalyse und Gestaltung gesellschaftliche Revelanz zu verleihen, sich selbst einen Weg zu realem, fortschrittlichem Engagement zu finden, wenn auch mit unterschiedlicher Konsequenz. Eine solche neue Identität fanden auch noch zahlreiche weitere moçambikanische Schriftsteller und Intellektuelle, und schon Eduardo Mondlane gedachte ihrer als wichtige Mitgestalter und Verbündete der Revolution.
Eine andere Haltung finden wir bei Rui Knopfli, der heute in Brasilien lebt. Dieser sehr begabte Dichter und Essayist europäischer Abstammung, der auch in englischer Sprache schrieb: spürte die Unruhe der Zeit und suchte nach jener Identität, wie seine Verse verdeutlichen, vermochte sich aber kaum über das Allgemein-Menschliche hinaus zu erheben. Es ist schön, wie er diese Unruhe in Bildern von großer lyrischer Ausdruckskraft einzufangen vermag, und dies sichert ihm ohne Zweifel einen markanten Platz in der Geschichte der Moçambikanischen Literatur. Möglicherweise geschah es auf eine romantische Weise, aber Knopfli erschloß seinem Denken tatsächlich eine neue Sicht, indem er den Wert der „Afrikanität“ entdeckte, teilweise über den Umweg der Begegnung mit der afroamerikanischen Literatur der USA. Vor allem Langston Hughes hat ihn tief beeindruckt und ihn zum Gegner und Kritiker künstlich geschaffener Rassenschranken gemacht, was sich auch bei seinem Aufenthalt in Südafrika bewährte. Was seinem und dem Werk von Irene Gil, Albuquerque und anderen, auch dem frühen Orlando Mendes, fehlt, ist offensichtlich die soziale Dimension, das Verständnis für den sozialen Charakter der Probleme in all seiner Komplexität und Differenziertheit, auch in bezug aufs Emotionale, auf die „innere Welt“ des Menschen. Doch war es eine Zeit des Umbruchs, auch der Unsicherheit, die erst seit der Mitte der sechziger Jahre mehr Halt und Kontur erhielt und Entscheidung erzwang.
Die in jeder Hinsicht auffallendste und bedeutungsvollste Erscheinung der moçambikanischen Dichtung ist Marcelino dos Santos (geb. 1929), der sich vielfach des literarischen Pseudonyms Kalungano bediente. Ganz Afrika, ja die ganze fortschrittliche Welt kennt ihn, weil er neben und mit Eduardo Mondlane, dem auch in der Poesie fortlebenden Begründer der FRELIMO, und Samora Machel das Volk von Moçambique in die Unabhängigkeit führte und heute in Staat und Partei hervorragende Verantwortung trägt. Doch Marcelino dos Santos ist zugleich ein kraftvoller, gedankentiefer, ein zarter und sensitiver Dichter. Er ist zugleich derjenige, in dessen Gedichten und Liedern afrikanisches Erbe am schöpferischsten aufgenommen wird. Das zeigt sich in der Sinnbildlichkeit der Gedankenführung, in der Präzision der analogisierenden Konfrontation der Bedeutung tragenden Wörter und Wortpaare, in der Rhythmik, auch zum Teil im Liedhaften, das in seiner Schlichtheit an die archaischen Gesänge der altafrikanischen Kultur erinnert. Dabei ist die Lyrik Marcelino dos Santos’ von großer rationaler Klarheit und strenger logischer Konsequenz des Denkens geprägt.
Eine bedeutungsvolle Persönlichkeit des kulturellen Lebens in Moçambique ist der Maler und Dichter Valente Malangatana (geb. 1936), der sich frühzeitig gravierenden sozialen Problemen, zum Beispiel den Auswirkungen der Wanderarbeit in den südafrikanischen Goldminen, der Prostitution und der unbeschreiblichen Armut der in den städtischen Randgebieten wohnenden Afrikaner, zuwandte, und der wegen seines aktiven politischen Engagements wahrend der Kolonialzeit Verfolgungen seitens der portugiesischen Behörden ausgesetzt war.
Eine neue Erscheinung des literarischen Schaffens in Moçambique beziehungsweise auch im Exil, die mit der Aufnahme bewußten und organisierten Widerstandes gegen die portugiesische Kolonialherrschaft durch die FRELIMO einherging, war das Entstehen anonymer Gedichte und Lieder, einer Art Gebrauchslyrik im edelsten Sinne des Wortes. Unter den unglaublich schweren und komplizierten Bedingungen des bewaffneten Kampfes angesichts eines anfangs tausendfach überlegenen Gegners, im Exil, auf dem Marsch durch tropischen Wald und Savanne fragte keiner danach, wer ein Lied geschrieben hatte. Aber es wurde gebraucht, es wurde gesungen, vorgelesen, weitergegeben. Manches von diesen anonymen Dichtungen wurde in Zeitschriften und auf Flugblättern der FRELIMO veröffentlicht, vieles davon blieb der Außenwelt unbekannt. Mit vollem Recht stehen unseres Erachtens einige dieser Verse in dieser Anthologie; die rührendsten von allen sind Eduardo Mondlane gewidmet.
Unmittelbar mit dieser Literatur verbunden, teilweise aus ihr hervorgegangen, ist die neue Generation der Dichter Moçambiques. Armando Guebuza (geb. 1942), Jorge Rebelo (geb. 1940), Fernando Ganhão (geb. 1937) und Sergio Vieira (geb. 1941), die sehr bekannte Angehörige dieser neuen Generation sind, waren und sind führende Funktionäre der FRELIMO und des jungen moçambikanischen Staates: Guebuza und Rebelo als Minister und Mitglieder der Parteiführung, Ganhão als Rektor der Universität Maputo und Vieira als Sekretär des Präsidenten der Republik. Seit der Unabhängigkeit äußert sich die tiefverwurzelte poetische Kreativität des moçambikanischen Volkes (wie es auch in vielen anderen afrikanischen Ländern der Fall ist) in der spontanen literarischen Reaktion auf Zeitereignisse und aktuelles Geschehen, dem Zeitungen und Zeitschriften gern Publizität verschaffen. „Der lästige Wurm“ ist dafür ein ganz neues Beispiel, das sich offensichtlich auf die Aggression Südrhodesiens gegenüber Moçambique bezieht.
So wie der unbekannte Juvenal Bucuane seinem Herzen auf eine durchaus „professionell“ gekonnte Weise literarisch Luft macht, haben auch sehr prominente Persönlichkeiten der FRELIMO und der Volksrepublik Moçambique literarisch gearbeitet. Rebelo, Guebuza, dos Santos wurden bereits erwähnt. Die wenigen Gedichte von Samora Machel (geb. 1933) offenbaren eine große lyrische und gestalterische Kraft, die dadurch, daß er der durch sein Volk und einen langen opferreichen Kampf legitimierte Führer des neuen Moçambique ist, ganz besonderes Interesse beanspruchen können.
Es ist möglich, daß das Verstehen – im umfassenden Sinne dieses Wortes – einer Reihe der in dieser Anthologie enthaltenen Verse dem Leser einige Schwierigkeiten bereiten wird. Die Synthese, das dialektische Ineinandergreifen von Begreifen und Mit-Fühlen, Voraussetzung aktiver Rezeption lyrischen Schaffens, erweisen sich hier als besonders kompliziert. Das hängt sicher mit den Voraussetzungen des Lesers (vielleicht auch Zuhörers), seinen Erwartungen und Vorstellungen und seiner subjektiven Rezeptionsbereitschaft zusammen. Exotik pulsiert in etlichen Gedichten, aber es ist eine etwas nüchterne Art von Exotik; revolutionäre Romantik wird spürbar, aber die schwerwiegenden Probleme des Jetzt und auch noch des Morgen bleiben präsent.
Ein scheinbar unzeitgemäßer Gefühlsreichtum, ja Gefühlsüberfluß, ein anspruchsvolles Pathos der politischen Parteinahme mögen manchen abschrecken. Wie oft kommt das Wort „Volk“, wie oft „Freiheit“ in diesen Gedichten vor?
Aber die nationale Befreiung, die ganze Epoche ihres Heranreifens, bedeutet für das moçambikanische Volk eben nicht bloß Machtwechsel, Abzug der Portugiesen, Ausrufung eines neuen Staates, Proklamationen: Es ist eine tiefe Erschütterung, der Riß eines starken Dammes, der nun die Fülle des Aufgestauten unbezwingbar frei gibt. Diese Grundstimmung des Anfangs einer neuen Zeit, vielleicht von den Dichtern überdeutlich antizipiert, die Mentalität des Aufbruchs, der Stärke, der Selbstbestimmung gibt den meisten der neueren Gedichte eine unverwechselbare Tonalität. Und auch ein trauriger und schöner Nachhall des Fadò wird sich finden: wäre es nicht zu begreifen?
Das literarische Leben Moçambiques war einerseits sehr lange lediglich an bestimmte Zeitschriften gebunden, so an die schon erwähnte Voz Africana, daneben auch an die politisch profilierteren Brado Africano und Itinerário, die wie auch gelegentlich einzelne Tageszeitungen die meisten Arbeiten veröffentlichten, soweit das unter den Bedingungen der Kolonialherrschaft möglich war. Andererseits bestanden relativ lange Zeit enge Verbindungen zur Kolonialmetropole Portugal, wo sich selbstverständlich auch in den finstersten Zeiten der Salazar-Diktatur fortschrittliche oder einfach afrikanerfreundliche Kräfte, zumeist Intellektuelle, fanden, die neuen Werken zum Druck verhalfen, jedenfalls im Rahmen des Möglichen. Mit der Verschärfung der Widersprüche in Portugal und auch seinen Kolonien, mit dem wachsenden Widerstand gegen Diktatur und Kolonialsystem reagierten die Machthaber im „Mutterland“ und in den „überseeischen Territorien“ immer empfindlicher auf etwaige literarische Artikulationen gesellschaftlicher Kritik. Deshalb waren zahlreiche Dichter gezwungen, Illegalität und Exil auf sich zu nehmen und in ausländischen Publikationsorganen ihre Werke zu veröffentlichen. Vor allem in fortschrittlichen Zeitschriften Westeuropas, auch bereits früh in den sozialistischen Ländern, vor allem in der UdSSR, aber auch in der DDR wurden in wachsendem Maße Werke moçambikanischer Autoren veröffentlicht. Allerdings ist die vorliegende Anthologie die umfassendste ihrer Art im gesamten deutschen Sprachraum.
Bei ihrer Anordnung reihen sich die Dichter etwa chronologisch, wobei ein jeder sogleich mit allen ausgewählten Gedichtbeispielen in ihrer Entstehungsfolge vorgestellt wird, um seine künstlerische Entwicklung zu verdeutlichen. Das literarhistorisch-chronologische Prinzip wird jedoch da zwanglos gehandhabt, wo es auf die Herausarbeitung bestimmter Grundlinien der Entwicklung der Moçambikanischen Dichtung ankam. Deshalb wurde auch ein möglichst weites Panorama von Werken erfaßt, und es kam nicht ausschließlich auf politisch progressive Repräsentanten der Moçambikanischen Literaturentwicklung an. Gerade durch ein historisches Herangehen wird der Leser das Miteinander und Gegeneinander der verschiedenen Weltsichten und künstlerischen Handschriften erfassen. Das Schwergewicht der Anthologie liegt offensichtlich auf der revolutionären Lyrik aus der Zeit des Kampfes um die politische Unabhängigkeit und der Ausrufung des neuen Staates, die sich als eine frische und lebenskräftige Stimme aus jenem literarischen Prozeß erhob.
In der jungen Volksrepublik Moçambique stehen gewaltige ökonomische, soziale, administrative und Verteidigungsaufgaben im Mittelpunkt der politischen Führung und der Bewegung der Massen. Im kulturellen Bereich steht die Überwindung des Analphabetentums (bisher 97% der Bevölkerung) im Vordergrund; daneben bedarf die sorgsame Pflege des volkstümlichen afrikanischen kulturellen Erbes großer Aufmerksamkeit. Nichtsdestoweniger nimmt sich die neue Gesellschaft die Freiheit, Gedichte zu schreiben, zu drucken und zu veröffentlichen und natürlich zu lesen und zu rezitieren. Einige der in dieser Anthologie enthaltenen Gedichte entstammen Publikationen, die erst vor kurzer Zeit in Moçambique erschienen sind. Sie zeigen, daß diese Freiheit nicht zu den unbedeutendsten gehört, die sich das Volk von Moçambique errang.
Rainer Arnold, August 1977, Nachwort
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