Gellu Naum: Black Box

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gellu Naum: Black Box

Naum-Black Box

DAS GLEITEN DER WELTEN

Heut bin ich groß in Form hab meine Stirn an der
aaaaaMauer wundgescheuert
eine Tante hat sich mit einem Draht weh getan
aaaaaSchlafend hatte sie sich auf den Trümmern
aaaaagesonnt
und keine Ahnung gehabt von den Zahlen die über
aaaaauns hindonnern

der Himmel ist verrutscht macht aber nichts
leg an deinen Ring und den durchsichtigen Schleier
ein grünes Eis wolln wir essen am leckeren Stiel
während draußen das Gleiten der Welten geschieht

Übersetzung Georg Aescht

 

 

 

Gellu Naum und seine Poesie der „aktiven Erwartung“

Bei der Begegnung mit der unbequemen Poesie von Gellu Naum benötigt der Leser einiges an Mut, dem Mysterium, der Verunsicherung, der Angst ins Auge zu sehen, die hinter jeder Biegung eines Verses lauern. Zugleich muß er eine zwiespältige Erkenntnis verkraften: Wollte ihm anfangs scheinen, als liebte der Dichter seine Sprache nicht, schlägt dieser Eindruck alsbald um in begeisterte Ratlosigkeit. Hat denn nicht er, der Dichter, bei jeder Gelegenheit jenes ironische h, das er von einem Jacques Vaché geerbt haben mag, in den Namen der Poesie und des Poeten geschmuggelt und damit alle diskursive Emphase karikiert? Gellu Naum schreibt Pohet und Pohesie im Wissen um die Fußangeln, die den Weg sprachlichen Ausdrucks säumen, und verwahrt sich damit aufs entschiedenste gegen jede Rhetorik, denn wie Rimbaud weiß er: „la vraie vie est ailleurs“, das wahre Leben ist anderswo.
„Die Poesie abzuschütteln, indem man Poesie macht“, das war sein Hauptanliegen von Anfang an. Wie alle anderen Dichter der Avantgarde stellt der Begründer der rumänischen Surrealistengruppe von 1940 eigentlich die Poesie der Literatur, den Konventionen der traditionellen Dichtersprache entgegen. Schon 1915 hatte übrigens der Modernist Ion Vinea, ein Debütgenosse von Tristan Tzara, diese Haltung in eine berühmt gewordene Formel gefaßt:

Die Literatur verfolgt mich. Sie ist mir unwiderruflich antipathisch. (Chronique villageoise, in Cronica, I (1915), Nr. 28, S. 553)

In seinem Essayband Medium hat Gellu Naum 1945 bei der Formulierung dieses spannungsreichen Gegensatzes neue Akzente gesetzt:

In mir trage ich die Traurigkeit jener Dichter, die ihr ganzes Leben, aber auch ihr ganzes Leben lang nach Kräften versucht haben, keine Literatur zu machen, und schließlich beim Durchblättern ihrer gut hundert Seiten feststellen mußten, daß sie nichts anderes als Literatur gemacht haben. Eine furchtbare Enttäuschung. Und dennoch: Über all diesen vor Schmutz glänzenden Kleidern, hinter all dem grobschlächtigen Faltenwurf einer mit fad literarischem Pomp erdrückenden Dichtung die Überzeugung, Ferment zu sein. (Medium, Colecţia suprarealistā, Bucureşti 1945, S. 10f.)

In diesem Buch finden sich noch weitere Variationen:

Ich bin bis ins Mark infiziert mit Literatur, und ich wette, daß jeder Arzt in jedem meiner Nerven den faulenden Wundbrand der Poesie sehen könnte. (Ebenda, S. 13f.)

Sogar noch weiter geht er in seiner finsteren Theatralik, die an Lautréamonts Helden, aber auch an die „Schmähreden“ und die „kreative Verzweiflung“ des Rumänen Geo Bogza erinnert:

Dichter bin ich gewesen in der Überzeugung, daß ich eines Tages, am Ende des Diskurses, ins gemeinste Gelächter, ins unheimlichste Gebrüll ausbrechen und dies der erste poetische Akt sein würde, den ich ohne jeden Vorbehalt vollziehe. (Ebenda, S. 11)

Dieser paroxistische Ausdruck für den Gegensatz zwischen Poesie und Literatur kann als Gradmesser dafür gelten, inwieweit erstere für Gellu Naum eine Form existentiellen Engagements darstellt. Schließlich hat auch er sich die surrealistische Forderung zu eigen gemacht, daß der Dichter sich jenseits „ästhetischer Belange“ bemühen müsse, herauszufinden, wie – um mit Breton und seinem ersten Manifest zu reden – „Denken wirklich funktioniert“. „Das quälende Gefühl, daß ich nichts gemacht habe als Poesie, daß ich nichts gefunden habe als das, was man das Schöne nennt, daß ich nichts gelöst habe als eine dichterische Aufgabe“ (Ebenda, S. 13), ist nichts anderes als das Unbehagen gegenüber jeder dichterischen Konvention, von der er auch die vorausgegangenen avantgardistischen Strömungen nicht freisprechen kann. Das Manifest „Die Kritik der Misere“, das Gellu Naum 1945 gemeinsam mit Paul Paun und Virgil Teodorescu veröffentlichte, warf der rumänischen Avantgarde der dreißiger Jahre gerade diese Beschränkung auf das „nur formale, nur poetische Interesse“ recht heftig vor. Die Autoren des Manifestes betrachteten als eigentlich surrealistische Aktion gerade die „beharrliche Anstrengung, den menschlichen Ausdruck von all seinen Formen zu befreien, wobei es eine solche Befreiung ohne die totale Befreiung des Menschen überhaupt nicht geben kann“. (G. Naum, P. Paun, V. Tedorescu, Critica mizeriei, Colectia suprarealistā, Bucureşti 1945, S. 5f.)
Gellu Naum geht es demnach von Anfang an um den Kern surrealistischen Nachdenkens über Sinn und Zweck der Poesie. Für ihn und seine Mitstreiter ist sie Ausdruck einer antiliterarischen Revolte, die ins Gesellschaftlich-Menschliche übergreift. Die Poesie wird definiert als „Wissenschaft der Aktion“ gegen „dogmatische Beschränkung“; anvisiert wird eine Veränderung der Welt: „Einzig und allein die Sprache des Poeten, inkohärent noch und vage, diese Sprache der Perturbation, nur sie handelt und verändert“, schreibt der Dichter im Schloß der Blinden (Colecţia suprarealistā, Bucureşti 1946, S. 16). Hier klingt das Bretonsche Postulat von der „konvulsivischen Schönheit“ auf, hier äußert sich der allgemein avantgardistische Anspruch, einen Zustand absoluter geistiger Dynamik zu schaffen, der Wunsch, dem Wort seine ursprünglich mythische Frische, seine geheimnisvollen „Möglichkeiten“ wiederzugeben, die Beziehung zwischen dem Ich und dem Universum als eine Beziehung zwischen kommunizierenden Gefäßen wiederherzustellen. Hier wird die Surrealität beschworen als Raum einer dynamischen Einheit der Gegensätze, als „psychophysisches Totalfeld“, wie Breton sie einmal genannt hat, wo Wunsch und Gegenstand eine osmotische Beziehung eingehen.
Bezeichnend für Gellu Naums Begriff vom poetischen Zustand ist sein Hinweis auf das Beispiel Lautréamonts, Dieser, schreibt der Dichter in Medium, „zerstört Zeit und Raum, um sich eine eigene Zeit und einen eigenen Raum nächtlichen Charakters zu schaffen, die sich von allem Taghaften durch die Schnelligkeit der Abfolge und eine terrible Vielfalt der Kontiguität (Hervorhebung I. P.) unterscheidet“ (S. 53). Die „Vielfalt der Kontiguität“ erinnert an den „Kontakt“, an die freie Interferenz zwischen der Innenwelt des „Wunsches“ und der Außenwelt der „Gegenstände“, an die notwendige Chaotisierung des Universums, die mit dem mythischen Versprechen einer strahlenden Wiedergeburt einhergeht. (Über Nerval, einen anderen exemplarischen Poeten, notiert Naum, bei ihm gebe es „weder das Wunder noch das sogenannte Reale, sondern höchstens das Wunderbare des Wunsches und die Realität des Traums“ – Ebenda, S. 38). In die gleiche Richtung geht seine Bemerkung über die „völlige Verweigerung jeder anderen Realität als jener des Traums, jeder anderen Wahrheit als jener der Vision“ (Ebenda, S. 34).
Primär ist das Moment der Aufhebung aller Strukturen, die Welt und Sprache bestimmen. So entsteht das freie, sozusagen jungfräuliche Feld, auf dem die „Vielfalt der Kontiguität“ die verschiedensten Arten des Zusammentreffens von Gegenständen ermöglicht. Eine Richtung gibt dabei lediglich die innere Strömung des Geistes an, der – vollkommen frei – nach den Substanzen sucht, die ihn „verkörpern“ können. Der objektive Zufall, ein wesentlicher surrealistischer Begriff, ist hier entscheidend für die poetische Vision. Die berühmte Formel von Ducas, „schön wie die Begegnung zwischen einer Nähmaschine und einem Regenschirm auf einem Seziertisch“, hat der rumänische Dichter auf das profundeste ausgelegt. Er hat den Doppelsinn von Unruhe und Bewunderung im Sinne von Bretons „merveilleux“ in sein Schaffen ebenso eingebracht wie die Angst vor den radikalen Brüchen zwischen den Gegenständen, die gewaltsam in eine Vision gezwungen werden. Die „Vielfalt“ der Begegnungen wird entsprechend als „terribel“ qualifiziert, sie wirkt schon von der Quantität her erdrückend und beunruhigend. Das ist die andere Seite jener unendlichen assoziativen Verfügbarkeit, die Aragon als charakteristisch für den Surrealismus beschrieben und mit dem Begriff der „anerkannten, akzeptierten und praktizierten Inspiration“ zusammengefaßt hat (Trâité du style, Paris 1928, S. 117) und die Bretonin L’Amour fou schlicht als lyrisches Verhalten bezeichnet hat.
Solidarisch mit anderen Surrealisten fordert auch Gellu Naum Offenheit für die Geheimnisse der Außenwelt und spricht dabei von „unser aller Mediumnität“. Zugleich stellt er seine Poesie unter das Zeichen, das Breton – ebenfalls in L’Amour fou – mit der Formel von der „aktiven Erwartung“ gesetzt hat. In Medium beschwört er den „geheimnisvollen Schrecken rätselhafter Erscheinungen, die sich unter dem zaubrischen Zwang der Erwartung, der Suche offenbaren“ (S. 41), und unternimmt es, den Veränderungsprozeß zu untersuchen, dem der äußere Gegenstand durch die Spannung des Wunsches unterworfen wird und der seinen Höhepunkt in der „eruptiven Gewißheit“ einer „umwälzenden Erkenntnis“ erreicht (S. 88).
Der für die erste Etappe der rumänischen Avantgarde (eine Synthese zwischen Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus, Surrealismus und „Simultan“-Techniken der 20er und 30er Jahre) so bedeutende „Imagismus“ interessiert Gellu Naum also nur beiläufig, am allerwenigsten in der barocken Spielart, die André Breton zu fördern suchte, indem er für vielfältige Vergleiche zwischen unvereinbaren Elementen plädierte. Einer solchen, eher oberflächlichen Technik zieht Naum die tiefschichtige, „tekronische“ Bewegung des Diskurses vor. Unter Verzicht auf eine kalkulierbare Wirkung läßt er die Worte beziehungsweise Gegenstände aufeinandertreffen, sich gegenseitig anziehen, abstoßen oder ablenken. Die Metapher wird durch eine metonymische Bewegung verdrängt, die Dynamik der Querverbindungen ist unvorhersehbar. Gellu Naum meidet jegliche Regel und jegliches Rezept und bleibt so uneingeschränkt empfänglich für das „Mysterium“ der Begegnung von Wörtern mit anderen Wörtern. Ebenso wie der Gegenstand erst „surrealistisch“ wird, wenn der Dichter ihn aus dem Boden des utilitaristisch-pragmatischen Alltags gerissen, ihn entwurzelt hat, wird auch der poetische Diskurs in einem Ausnahmezustand der „aktiven Erwartung“, der Offenheit und Disponibilität gehalten. So bewegt sich diese Poesie auf den Augenblick der „eruptiven Gewißheit“ zu, wo der Wunsch das gesuchte und suchende Wort findet.

Dieser Zustand gespannter Disponibilität ist schon dem Debüt des Dichters, den Versen des Bandes Drumeţul incendiar (Der Brandwanderer – 1936) anzumerken. Er hat offensichtlich einen subversiven Weg eingeschlagen in der Absicht, an den Konventionen und Manieren des Verbums zu rütteln, sich bilderstürmerisch zu betätigen. Die Texte von Gellu Naum sind eine neue Art von „Schmäh“-Gedichten und frappieren durch mobile und unverbrauchte Assoziationen, die nicht nur der Willkür häufiger Niveauwechsel und -brüche einen besonderen Reiz abgewinnen, sondern auch der lyrischen Aussage eine spezifische, sehr persönliche, ironisch-sarkastische Theatralik verleihen, welche Bewegungsfreiheit gegenüber jeder Konvention, selbst gegenüber jener der surrealistischen Ausdrucksweise, sichert. Gellu Naums Brandwanderer „horcht in alle Himmelsrichtungen“ und schafft ein parodistisch-burleskes Selbstporträt:

Sein Herz ist ein autonomer Wald
und er sagt: „Die Herren wählen unsere Gedichte nach den Schleifchen, als wären es Huren“.

Die Gazetten schreiben: Er ist ein blutrünstiger Mörder. Er hat
einen Schnurrbart unter der Nase wie ein Spatz
und ist an seinen Strümpfen zu erkennen

Der Dichter ringt um die Befreiung seines Hirns von der „faulenden Brühe des süßlichen Verses“, verkündet lauthals, „die Welt hat begonnen zu stinken“, und verlangt folgerichtig eine radikale Erneuerung des Schreibens:

Reißt allen Vögeln vom Balkan die Federn aus
Wir wollen uns neue Chroniken schreiben…

„Chroniken“ sind Gellu Naums Gedichte allerdings nicht. Zwar erscheinen die manifestartigen Sätze dieses ersten Bandes noch sehr unmittelbar an der dringenden Notwendigkeit des gesellschaftlichen Engagements orientiert: „jetzt brüllen die Wörterbücher SIE MÜSSEN BRÜLLEN / jetzt ist jedes Gedicht ein Arsenal der Empörung“; „über allem ist das Bedürfnis nach endgültigem Kampf zu spüren“. Die in der Folge entstehenden Gedichte jedoch gehen wesentlich tiefer und berühren existentielle (und ästhetische) Schichten, in denen die Zeichen der äußeren Wirklichkeit nicht mehr so leicht auszumachen sind. Die politische Radikalisierung des Surrealismus in den 30er Jahren macht sich auch in der ersten Phase der rumänischen Avantgarde bemerkbar. Als Beispiel gilt das Manifest Die Poesie, die wir machen wollen, das Geo Bogza und die späteren Mitglieder der Gruppe rumänischer Surrealisten, Gherasim Luca und Paul Paun, sowie der Maler Perahim 1933 herausgeben. Ein Echo dieser Radikalisierung läßt sich in den frühen programmatischen Texten von Gellu Naum sehr wohl nachvollziehen. Seine eigentlichen Gedichte jedoch erscheinen, wie es der Autor sehr viel später einmal formulieren wird, „eher als Zufälle denn als Beschreibungen“. Als „Kentaur, der den Bäumen des Gedichtes Gewalt antut“, gestaltet der Poet – oder „Pohet“ – seine Gedichte zu Räumen gewagter Vereinigungen zwischen Äußerem und Innerem. Seine „Chroniken“ verfolgen die Ereignisse einer unterschwelligen Geschichte sui generis. Zögerlich nähert sich ihr die Sprache, ohne dabei ihre eigenen Widerstände, Verzerrungen, Verwerfungen und Trägheit zu verleugnen. So tritt die sogenannte „Chronik“, die schwierige „Reportage“ aus einem nebulösen Untergrund, verwandelt ans Licht und verändert ihrerseits Schritt für Schritt die mögliche Vision. Die Surrealität, nach André Breton jener „Punkt des Geistes, in dem Leben und Tod Wirkliches und Imaginäres, Vergangenheit und Zukunft, Kommunizierbares und Nichtkommunizierbares, Hohes und Tiefes nicht länger als Widersprüche wahrgenommen werden“ (Zweites Manifest des Surrealismus), wird demnach in jedem einzelnen Text von Gellu Naum „abgebildet“. Nur ist bei ihm diese explosive Ballung und zugleich Versöhnung der Gegensätze, die Neuzusammensetzung der Welt in völlig anderem Licht, noch ein weiteres Mal gebrochen durch ein ständig waches „kritisches“ Bewußtsein, das seinerseits poetisch produktiv wird. Das vorgeblich automatische Schreiben nach unbewußtem Diktat, die willkürliche Bewegung rauschhafter Vorstellungskraft werden von einem Bewußtsein „gesteuert“, das grundsätzlich alles und jedes relativiert. Das traumhafte „Szenarium“ – Gellu Naum ist ein wahrer Dramaturg und Regisseur der Phantasmen – wird ständig von „Wachstellen“, Notaten aus der unmittelbaren Wirklichkeit, Literaturhinweisen, ironischen und selbstironischen Reflexionen, familiären oder gar anekdotischen Impromptus unterbrochen, wobei mir besonderem spielerischem Können Sprachkomik eingesetzt wird. Das alles geschieht jedoch vor mythischem Hintergrund, es kommt zu keinerlei Substanzverlust. Im Gegenteil, über ein weitverzweigtes Kapillarnetz, das bis ins Innerste des Werkes reicht, wird ein beständiger Zufluß an archetypischen Elementen gesichert.
Einerseits wirkt die extreme Mobilität von Gellu Naums Vorstellungswelt durchaus frappierend auf den Leser. Hier finden ununterbrochen Metamorphosen statt und ihren Niederschlag im Vers. Mit spielerischer Unbeschwertheit, die sich aller Zwänge des Realen entledigt hat, wird gegen Lesegewohnheiten angeschrieben. Andererseits gleiten gerade diese scheinbar leichten Sequenzen wie von ungefähr immer wieder in finstere, alptraumhafte Bereiche ab. Exemplarisch für dieses Doppelspiel ist das Poem (und der Band) Vasco de Gama (Vasco von Gama) aus dem Jahr 1940. Auch hier tritt uns ein „Brandwanderer“, Betrachter und Vertreter des Wunderbaren zugleich, entgegen. Dieser „andere Wanderer“, wie der Dichter ihn nennt, löst eine wohltuend erneuernde Deregulierung aller Beziehungen zwischen Ich und Welt, zwischen Worten und Gegenständen aus. Der „das Wasser mit dem Fernrohr riecht“, wird Zeuge eines burlesken Spektakels. Die Sprache macht sich selbständig, das Wirkliche vermischt sich mir dem Imaginären, der Redefluß reißt die verschiedensten Materialien in seinen Strudel, Unvereinbares wird in Bezug gesetzt, die Syntax trübt und verwirrt sich. Dann enthält der Band aber auch ein Poem wie Das Erotische Pferd, in dem erschreckende Begegnungen, „gefährliche Landschaften“, eine unheimlich-apokalyptische Atmosphäre eine andere, jedoch nicht minder surrealistische Sicht eröffnen. Dieser Blickrichtung folgt auch Culoarul somnului (Der Korridor des Schlafes – 1944): „Frauen auf diesen überschwemmten Feldern / elastische Frauen, düstere Frauen, / Frauen von Kristall und nächtlichem Wachs“; „schwarze Vorhänge die schwarzen Schmetterlinge der Hände / die schwarzen Kristalle der Brüste / der Spiegel zittert wenn alle Türen geschlossen sind / und wir warten daß die Gespenster erscheinen“ usw.
Über die meisten Gedichte der Jahre 1940 bis 1947, vor allem über die später in dem Zyklus Oglinda oarbā (Der blinde Spiegel) zusammengefaßten, läßt sich sagen, daß ihre Thematik und die Sensibilität, die darin zutage tritt, sie als surrealistisch ausweisen, daß sich der Dichter jedoch beim Einsatz surrealistischer Elemente größtmögliche Freiheit herausnimmt: „wir werden uns / auch jetzt nach der Ursache fragen doch diesmal / wird die Ursache die Wirkung der letzten Ursache sein“, heißt es in einem der Gedichte. Diese aleatorische, dem Zufall und der Improvisation (im musikalischen Sinn) offene Verkettung von Ursache und Wirkung schließt jede Art von „dogmatischen“ Projekten aus. Eine solche tiefere, dem „objektiven Zufall“ unterworfene Einheit bestimmt die gesamte poetische Geographie des Gellu Naum. Er ist ständig auf der Suche nach den geheimen Verbindungen zwischen Gegenständen und Ereignissen:

mit einer Alge auf den Augen betrachtest du
die Schicksalslinien auf einer Hand ohne Linien
(„Verlorenes Korsett“).

Mit halluzinierender Wachheit werden die Dinge des Alltags in ihrer berauschenden Beweglichkeit in Augenschein genommen:

uns erwartet der luzide Blick der Schlafwandler

wir haben so lange geschlafen
daß uns der Brauch der Bewegungslosigkeit abhanden gekommen ist
(„Der violette Vogel“).

Durch Brüche und neue Fügungen von Bildern und Metonymien soll beim Leser gezielt eine „Bewußtseinskrise“ ausgelöst werden.
Die Welt wird in einem „blinden Spiegel“ reflektiert. (In einem der Prosastücke des Bandes Teribilul interzis Das verbotene Schreckliche, 1945, schreibt Naum: „… der Dichter sieht besser, je mehr er erblindet“.) In diesem Spiegel löst sich die Wirklichkeit auf und setzt sich nach geheimen Regeln neu zusammen, wobei das Wort als Auslöser wirkt. Der willkürliche, unlogische Charakter der für die Beziehung zwischen Ich und Welt, zwischen Leser und Text verstörenden Assoziationen wird oft gerade durch die beharrliche Wiederholung eines Wortes gemildert, das eben die Grundsuggestion des Gedichtes enthält. Bei Gellu Naum findet die – um ein Wort von M. Riffaterre zu bemühen – „Semiose“ nicht aufgrund eines gesicherten Signifikats statt, sondern im freien Spiel der Bedeutungen und Bedeutungsträger. Punktuelle Unstimmigkeiten und Widersprüche sollen den sprachlichen Ausdruck aus der eingefahrenen Bahn werfen und dem Gesamttext zu einer dynamischen Einheit verhelfen.
Das ganze dichterische Werk von Gellu Naum – nicht nur die Texte der Nachkriegszeit – ist ein Versuch, jene „beauté convulsive“ (konvulsivische Schönheit) zu realisieren, von der Breton in Nadja gesprochen hat, wobei der Dichter sowohl ernste, elegisch-ängstliche, als auch groteske, sogar komische Register zu ziehen versteht. In manchen Gedichten wird der feierliche Sprachgestus fast unmerklich überzogen bis zur Beschwörung von Todesahnungen, tut sich aus banalem Anlaß ein ganzes „Spektrum gewalttätiger Beziehungen“ auf (Das Recht der letzten Nacht). In anderen, etwa der Heimkehr des verlorenen Dichters oder den Zeremonien, wird die innere Spannung des Subjekts unter dem realen Schock des Unbekannten mit scheinbarer Leichtigkeit überspielt; in den Großen galanten Festen trifft die Ironie, mir der die frivole Idylle betrachtet wird, auf das tiefempfundene Schaudern vor dem Schicksal, auf das Gefühl der Verletzlichkeit; häufig wird Situationskomik eingesetzt, humoristische und parodistische Schlenker (schwarzer Humor!), selbst die Abweichungen von der syntaktisch-morphologischen Norm, wirken einerseits komisch, vermitteln aber andererseits ein merkwürdiges Gefühl der Verunsicherung.
Bemerkenswert ist bei Gellu Naum die Konsequenz, mit der er an seinem ursprünglichen Poesieentwurf festgehalten hat – auch und vor allem dann, als der Gruppe rumänischer Surrealisten nach den bekannten politischen Umwälzungen 1947 sämtliche Tätigkeit untersagt wurde. Während andere Mitglieder der Bewegung (Gherasim Luca, Paul Paun, D. Trost) auf dem schnellsten Weg das Land verließen und sich wieder andere, wie Virgil Teodorescu, zu fatalen Zugeständnissen gegenüber den proletkultistischen Praktiken des „sozialistischen Realismus“ bereit erklärten, ging Gellu Naum nach kurzem Innehalten weiter seinen Weg. Als 1968 seine Gedichtsammlung Athanor erscheint, läßt sich die nahtlose Kontinuität nachvollziehen. „Das Rascheln der Asche, das erloschene Gedächtnis des Feuers“ im alten Ofen surrealistischer Alchimie erwacht zu neuem Leben, entfacht von einem Werk, das unvermindert Anstoß und Bewunderung erregt. Als polimorphe Visionen von unterschwelliger Kohärenz erscheinen die Bände Copacul-animal (Der Tierbaum – 1971), Tatāl meu obosit (Mein müder Vater – 1972), Descrierea turnului (Die Beschreibung des Turmes – 1975), Partea cealaltā (Die andere Seite – 1980), der „Rhoman“ Zenobia (1985) und Malul albastru (Das blaue Ufer – 1990). In allem, was Gellu Naum schreibt, bleibt er der Dichter des „Übergangs zur anderen Seite der Gebärde“, dem die äußeren Zeichen der Welt, Gegenstände, Ereignisse und Sprache, in verwirrender Weise von einem „metaphysischen“ Schatten „gedoppelt, von Grund auf zweideutig erscheinen. An der „großen Deskriptivgala“ der Außenwelt nimmt der Dichter als Spielverderber teil, dem es in einsamer Selbstbeschränkung auf das Wesentliche darum geht, zu reden „über jenes verbannte Ding… über das seltsam / Wohlbekannte das wir einsam zu tun pflegen“, wie es im Tierbaum heißt. So verteidigt er einen Raum innerer Freiheit gegen den Druck äußerer Mächte, die den existentiellen „Fertigkeiten“ bis hin zur Trägheit hörig sind.
Bei einer aufmerksamen Lektüre stellt man zwar fest, daß jedes Buch für sich eine thematische Einheit bildet, alle Bände verbindet jedoch der Nonkonformismus, ob dieser nun gegen die Bewegungsunfähigkeit einer ganzen Gesellschaft (Der Tierbaum), gegen die „ bösartige Hygiene“ der Erbgutvermittlung (Mein müder Vater) oder allgemein gegen die Todesangst, gegen die „Veränderung der Natur“ der Dinge, gegen die unvermeidliche Rückbildung zum Elementaren gerichtet ist. Der Dichter ist im „Besitz über jeden Zweifel erhabener Regeln (Die Geschichte und die Melancholie)“, und von dieser Warte aus relativiert er aufgrund unablässiger Beobachtung der Veränderungen dieser Welt fortwährend seinen „pohetischen“ Ansatz. Sein Text ist zu einem guten Teil Metasprache, das Ergebnis einer eigenwilligen Inszenierung des Diskurses. Das Schauspiel der rhetorischen Handhabung der surrealistischen Sprache erscheint als Teilstück des großen theatrum mundi. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, daß hier gerade das existentielle Mysterium, von dem die Rede ist, relativiert und die (eigenen) Möglichkeiten, es adäquat und effizient auszudrücken, (selbst)ironisch erkundet werden sollen. Etwas von der „theatralischen (und freudlosen) Nutzlosigkeit aller Dinge“ („l’inutilité théâtrale (et sans joie) de tout“), über die Jacques Vaché gesprochen hat, steht auch in den Texten von Gellu Naum mit ihrer metaphysischen, profund elegischen Ironie.
Das ist aber bei weitem nicht alles. Gellu Naum verfaßt Poesie und setzt sie der Trägheit der „Pohesie“ entgegen. Dabei behauptet er seit einem halben Jahrhundert seinen Standpunkt im „Gebiet der großen nicht kommunizierbaren Evidenzen“ und verfolgt von hier aus aufmerksam jede Entwicklung. So ist ein turbulentes und aufwühlendes Werk entstanden, das mehr Fragen enthält als Antworten – oder eben Antworten, die weitere Fragen in sich tragen. Wie alle große Poesie ist auch die von Gellu Naum eine Prüfung, der sich der Leser stellen muß – in „aktiver Erwartung“.

Ion Pop, Juni 1993, Nachwort

 

Editorische Notiz

Black Box ist eine Sammlung Poeme, die Gellu Naum im Dezember 1992 in Bukarest aus seinem gesamten poetischen Œuvre für diese erste deutschsprachige Buchausgabe ausgewählt hat und nicht strikt chronologisch gereiht hat. Vom Autor aufgenommen wurden dabei einundfünfzig Gedichte, die Oskar Pastior über die Jahre für sich übersetzt hat und nun für dieses Buch gesammelt zur Verfügung stellte. Sie sind en bloc im ersten Teil des Buches abgedruckt. Die übrigen Poeme wurden nach der Auswahl des Autors von Georg Aescht übersetzt. Jahreszahlen bezeichnen den Zeitpunkt der Niederschrift der Poeme. Im Inhaltsverzeichnis und in der Bibliographie finden sich Angaben zu Büchern und Zyklen, denen die Texte entnommen sind.

 

Poesie ist (s)eine Weise zu leben.

„Ich denke, also bin ich nicht mehr“, sagt Gellu Naum: Ich dichte, also lebe ich. Das Buch Black Box birgt poetische ,Aufzeichnungen‘ des Schwebens zwischen Wirklichkeiten und Träumen, eines Poeten-Lebens zwischen Bukarest und Paris, im Walachischen und in der Moderne. Wir entziffern die immerwährende Subversion des dichterischen Bildes und Wortes, von Mythen und Zeichen, wider allgegenwärtige Fakten und (Kurz)Schlüsse, Zwänge und Zerdeutungen. Surrealismus zeugt nicht die surreale, irreale Welt, vielmehr, Bild um Bild, die Wirklichkeit, das Leben des Dichters. Dieses Buch ist veritable poetische Initiation. Der Autor hat es selbst für die deutsche Erstausgabe ausgewählt.

Wieser Verlag, Klappentext, 1993

 

Eine Mischung von Phantasie und Realität

Dem letzten Surrealisten Gellu Naum ist eine Sammlung von 185 Poemen („Poheme“ wie der Autor ironisch sie nennt) aus allen seinen Gedichtbänden gewidmet, Black Box, die nicht in chronologischer Ordnung abgedruckt wurden, sondern in der vom Verfasser im Dezember 1992 gewünschten Reihenfolge. Die ersten 51 Gedichte wurden von Oskar Pastior und die anderen 134 von Georg Aescht übersetzt.
Ein interessantes Nachwort, „Gellu Naum und seine Poesie der aktiven Erwartung“ verfaßte der Rumäne Ion Pop. Naums Gedichte sind eine Ironie zum Wort, als surrealistischer, aber notwendiger Kommunikationsmöglichkeit. Die Gedichte sind eine Mischung von Phantasie und Realität und haben eine eigene innere Musikalität und eine eigenen Charme. Besonders intelligent, bastelt Gellu Naum eine intelligente Poesie, die dem Leser nicht gleich und leicht verständlich ist, die ihn in „aktive Erwartung“ versetzt. Er schrieb thematische Bände, die dem Nonkonformismus wie einem roten Faden folgen.

Mircea Pop, amazon.de, 15.1.2004

 

 

Fakten und Vermutungen zu Georg Aescht

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Oskar Pastior



Oskarine ist ein Gedicht-Generator von Ulrike Gabriel, der auf den Gedichten von Oskar Pastior basiert. Jedes Gedicht spricht sich selbst – immer neu und mit der Dichter-Stimme.

 

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Nachruf auf Gellu Naum: Der Tagesspiegel

 

Gellu Naum im Gespräch.

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