STILLE SCHNEES
ohne beginn
wie zeit
von nirgendwo verweilen sie
ohne herkunft friedlich
frei nicht zu haben ein besonderes ein allgemeines
ohne ort und ähnlichkeit zu offenbaren
kennbar zu sein oder möglich
o einfach sind sie und sie verweilend
in dieser einen welt
von stille
Die Glut des Dichtens – Ein Gespräch mit dem russischen Lyriker Gennadi Ajgi
1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.
Volker Sielaff: Die Welt als Welt-All und Welt-Markt
poetenladen.de, 21.8.2009
Aus meinem Buch “Schriftstellerbegegnungen 1960-2010”,
Kitab Verlag, Klagenfurt/Österreich, 2010
Ajgi Gennadij, Dichter aus Rußland.
Wir fuhren in einem alten, klapprigen, nach Diesel stinkenden Autobus, in dem wir vorher schon etwa eine halbe Stunde bei 40 Grad wegen irgendwem oder irgendwas (weswegen erfuhr man sowieso nie) in der Sonne gestanden waren, von Struga (Struga poezije veceri/Struga Poetry Evenings) nach Skopje in Makedonien, damals noch in der föderativen sozialistischen Republik Jugoslawien. Nach etwa einer halben Stunde schrie jemand in irgendeiner slawischen Sprache „Ich habe meinen Paß vergessen im Hotel!“ Der Bus hielt an, man wußte nicht, was tun, niemand war oder fühlte sich zuständig. Bis Izet Sarajlic, der geachtete Doyen der bosnischen Dichter das Kommando übernahm und uns die erste Lektion in der beginnenden Ostblock-Demokratisierung erteilte. Gemeinsam mit einem Übersetzer ins Englische stellte er uns folgende Alternativen zur Entscheidung vor: 1.) Wir alle fahren mit dem Bus zurück ins Hotel nach Struga, der Mann holt seinen Paß, und wir fahren dann die gleiche Strecke, die wir bisher gefahren waren, wieder zurück. Dauer etwa zwei Stunden. Das war die Alternative der „Solidarität“, wie Izet das nannte. 2.) Wir fahren mit dem Bus weiter, ohne den Missetäter, und der solle dann mit Hilfe irgendwelcher Organisationsmaßnahmen schauen, wie er zu seinem Paß und rechtzeitig von Struga nach Skopje komme, wo wir uns ja nur einen Tag zu einer Gemeinschaftslesung aufhielten. Bewertung: Begrenzte, aber eigentlich schon ausgeschaltete Solidarität. „Ostblockchaos“ (obwohl Jugoslawien ja nicht zum Warschauer Pakt und so auch nicht zum Ostblock gehörte) nannte ich das: Es konnte funktionieren oder auch nicht. 3.) Dritte Variante: Izet hält ein entgegenkommendes Auto an, die sollen ihn nach Struga mitnehmen, dort soll man den Mann mit seinem Paß wiederum in ein organisiertes Auto setzen und zu uns und zum auf ihn wartenden Bus zurückbringen. Dauer etwa eineinhalb Stunden. Nach dem ganzen, teilweise unverständlichen Palaver, weil alle durcheinander schrieen, war die „demokratische Abstimmung“. Izet sagte: „Ich schlage Variante Drei zur Abstimmung vor.“ Fast alle Hände fuhren in die Höhe. Dann kamen die anderen beiden Varianten zur Abstimmung. Niemand, oder fast niemand, zeigte auf, man war das ja auch im Osten nicht gewohnt, nämlich eine Gegenstimme zu sein und sich so zu artikulieren und zu deklarieren. Also, alles klar. Der Bus fuhr auf einen provisorischen Parkplatz neben einer Lammbraterei (praktisch), das nächste Auto wurde aufgehalten, Izet agierte wie ein Hauptmann der Jugoslawischen Volksarmee, auf jeden Fall wie ein staatlicher Kulturfunktionär und sagte: „Fahrt ihr nach Struga? Wenn ja, dann nehmt diesen Mann, einen wichtigen Dichter, mit und am besten, ihr bringt ihn wieder hierher zurück!“ Und so geschah es.
Nun aber zu Ajgi. Der saß die ganze Zeit über vor mir im Bus, rauchte ständig selbstgedrehte, fürchterlich stinkende Zigaretten, die mich an die Mahorka-Zigaretten der Soldaten der Sowjetarmee in meiner Kinderzeit erinnerten, bei denen man noch dazu Zeitungspapier verwendete; und er stank auch selber danach. Er war etwas nachlässig gekleidet, irgendwie ungewaschen und zerknittert, hatte aber ein gebügeltes weißes Ausschlaghemd an. Sein Gesicht war zerfurcht, eigentlich das eines alten Mannes. Aber sein Blick war durchdringend, auch oder gerade dann, wenn er einem freundschaftlich, besser: kollegial, begegnete. Ich sprach ihn nach dem ganzen Palaver und der Abstimmung an, wollte wissen, was wir jetzt machen sollten. Er deutete an, daß wir aussteigen und spazierengehen sollen; das machten wir dann. Zuerst probierte ich es auf Englisch. Er schüttelte den Kopf. Dann mit meinem Serbokroatisch. Er drehte sich um und sagte: „Njet!“ Ich kannte das Wort (und ein paar andere Wörter in Russisch aus meiner Kindheit, aus der Russenbesatzungszeit). Ich fragte also: „Russia?“ Und er antwortete mit „da, da!“. Damit war der Bann gebrochen, der Kontakt hergestellt. Ich sagte ihm: „Moj otac Natschalnik in Sowjetskaja Zona, Komandantura in moja mjesto.“ „Ah!“ entgegnete Gennadij. Dann gingen wir alle auf einem schmalen Weg in die Wiese daneben hinein, ich fotografierte eine kleine Gruppe, die sich um Izet und Gennadij gebildet hatte. Alle lachen auf dem Foto und sind fröhlich. Danach ging ich mit dem großen rumänischen Dichter Marin Sorescu zu einer nahen Hecke und wir pflückten dort Himbeeren, die sehr süß schmeckten. Ein paar Worte zwischen Sorescu und mir in Englisch, auf die er in Französisch antwortete, wovon ich nur einen kleinen Bruchteil verstand. Es war und ist ja immer so: Das Wichtigste, um mit jemandem in Kontakt zu kommen, ist, auf ihn sozusagen mit offenen Armen zuzugehen und ihn ansprechen. Was nützt es, wenn man zwar eine gemeinsame Sprache spricht, aber nicht miteinander redet oder einander nichts zu sagen hat. Das war – trotz meines heutzutage unbegreiflichen Fremdsprachen-Unvermögens (in der Russischen Zone, in der ich als Kind lebte, war es unmöglich, Englisch zu lernen; es war ja schon „der Kalte Krieg“ zwischen den USA und der UdSSR) – immer meine Devise, die mein Verhalten bestimmt hat. Und ich bin damit ganz gut gefahren, habe im Lauf der Jahrzehnte viele, viele und eben auch all diese hier geschilderten Kontakte geknüpft und Beziehungen gebildet. Nachdem die Warterei vorbei und der Delinquent, den man aber nicht bös anschaute, wie es bei uns der Fall wäre, zurückgekommen war, ihm einige freundschaftlich und lachend auf die Schultern geklopft hatten, fuhren wir weiter. Eine Schnapsflasche kreiste in der Runde, natürlich hatte Izet sie organisiert. Die Fahrt nach Skopje in der ärgsten Mittagshitze dauerte stundenlang; am späten Nachmittag kamen wir endlich an.
Das nächste Mal begegnete ich Gennadij Ajgi viele Jahre später beim PEN-Weltkongreß in Warschau. Er war in der Zwischenzeit ein bekannter Dichter geworden. Gennadij war nun ordentlich gekleidet und schaute gepflegt aus, rauchte parfümierte Filterzigaretten und lachte fröhlich. Er umarmte mich gleich, nachdem er mich erkannt hatte. Sagte „Moja Poeta!“ und freute sich anscheinend über unser Wiedersehen. Ich fotografierte ihn, jemand fotografierte uns beide. Wir halten einander umarmt, wie alte Freunde.
Wiederum einige Zeit später, als ich bei Gerd Adloff in Berlin zu Gast war, nahm ich aus dem Bücherregal das in der Zwischenzeit im Suhrkamp erschienene Gedichtbändchen von Gennadij Ajgi heraus und las seine Gedichte, tauchte ein in seine Gedanken- und Gefühlswelt und freute mich darüber, mit diesem Dichter und Freund Bekanntschaft geschlossen zu haben.
Peter Paul Wiplinger: „Schriftstellerbegegnungen 1960-2010“, Kitab-Verlag, Klagenfurt 2010