– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Die Nacht streckt ihre Finger aus“ aus dem Band Sarah Kirsch: Zaubersprüche. –
SARAH KIRSCH
Die Nacht streckt ihre Finger aus
Die Nacht streckt ihre Finger aus
Sie findet mich in meinem Haus
Sie setzt sich unter meinen Tisch
Sie kriecht wird groß sie windet sich
Und der Rauch schwimmt durch den Raum
Wächst zu einem schönen Baum
Den ich leicht zerstören kann –
Ich rauche einen neuen, dann
Zähl ich alle meine lieben
Freunde an den Fingern ab
Es sind zu viele Finger, die ich hab
Zu wenig Freunde sind geblieben
Streckt die Nacht die Finger aus
Findet sie mich in meinem Haus
Rauch schwimmt durch den leeren Raum
Wächst zu einem Baum
Der war vollbelaubt mit Worten
Worten, die alsbald verdorrten
Schiffchen schwimmen durch die Zweige
Die ich heut nicht mehr besteige
ihr Gedicht „Die Nacht streckt ihre Finger aus“ in Reimen geschrieben. Der Reim ist zweifellos das auffälligste Merkmal der äußeren Form. Versucht man, ihn zu bestimmen, so weist er einen symmetrischen Bau des Gedichts vor: Die Strophen 1 und 2 sowie 4 und 5 sind in Paarreimen geschrieben; der umarmende Reim in Strophe 3, der Mittelachse, hält die beiden Teile des Gedichts zusammen. Der Reim ist aber auch die bestimmende Kraft für das Fortschreiten in der einzelnen Strophe, ermöglicht die Reihenbildung durch den Gleichklang am Versende.
So erwächst das Anfangsbild aus der Addition der Zeilen, wie im dichterischen Verfahren einer anderen, vergangenen Zeit:
Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand […]
Die Nacht tritt auf, ein Lieblingsmotiv der Erlebnislyrik von jeher, aber, in einer ersten Wendung, bedrohlich, als Eindringling, der sich breit macht, auch in der Sprache, abzulesen an der Dominanz des grammatischen Subjekts (Z. 3–5) und an der Steigerung der Aufzählung dreier wachsender Satzglieder (Z. 5). Sie wechselt – die nächste Wendung – ihre Gestalt, verliert ihre anthropomorphe Qualität in einer Metamorphose zum Tierisch-Lebendigen, Schlangenartigen; damit aber – eine weitere Wendung – tritt „das Bedrohliche des märchenhaften Elements“ wieder zurück. In Strophe 2 wird es offensichtlich: das Wachsen ist nunmehr durch positive Konnotationen besetzt. Wiederum in Gegenbewegung laufen die Verse einem neuen Subjekt entgegen, das sich langsam ankündigt, überraschend realisiert in Zeile 9: das sprechende „Ich“ erweist sich als Urheber, Schöpfer des Vorangegangenen; das Wachsen ist sichtbares Zeichen eines Schaffensprozesses. Er ist bestimmt durch das Prinzip der Addition, einer spielerischen Verbindung der Verse: der Gleichklang der Wiederholungen im Satzbau (Parallelismus, Parataxe Z. 2–5) ergibt eine leichte, gleitende Stimmung, „und“ (Z. 6) bzw. ein Enjambement (Z. 9f.) halten die Strophenverbindung in der Schwebe. Auch ein Blick auf die metrischen Verhältnisse unterstreicht den Spielcharakter der additiven Reihung: vierhebige Jamben (Z. 2–5) werden (Wendung!) weitergeführt durch vierhebige Trochäen (Z. 6–8), an die sich (erneute Wendung!) wiederum vier Jamben anschließen (Z. 9), die (Enjambement Z. 9f.) eine Fortsetzung im Wiederanknüpfen an den Gedichtanfang möglich machen: eine Wellenbewegung spielerischen Wechselns also, ein Bauprinzip, das unbegrenztes Fortschreiten erlaubt. Ganz hingegeben der Gegenwart des Spiels (Präsens in Strophe 1, 2), ist das leichtfertige „Zerstören“ (Z. 8) des selbstgeschaffenen Objekts unproblematisch, eben „spielerisch“, in den Mutwillen des „Ich“ gelegt. Zur Verfügungsgewalt des Subjekts gehört die Möglichkeit des Wiederaufbauens (Z. 9), die Wiederholbarkeit des Spiels.
Wird das Spiel fortgeführt, die Reihenbildung wiederholt? Zeile 14 in Strophe 4 nimmt das Spiel wieder auf. Doch es gelingt nicht mehr in der gleichen Weise wie zuvor: aus dem „Raum“ (Z. 6) ist ein „leerer Raum“ (Z. 16) geworden, ein „schöner Baum“ (Z. 7) ist zum bloßen „Baum“ (Z. 17) geschrumpft, geschrumpft wie das gesamte Eröffnungsbild (Strophe 1, 2), das nun in einer Strophe (Strophe 4) Platz finden soll. Das Spiel hat verloren, an Fülle (Z. 17: eine Hebung ist ausgelassen worden) und an Regelmaß (Z. 15: die Alternation wird nicht durchgehalten, zwei Senkungen folgen aufeinander): es gerät in Unordnung. Der Schluß wird zusehends kahl und düster – eine Wendung zum Negativen hat stattgefunden, eine Eintrübung, Verdunkelung. Und dieser ,poetische Wetterumschlag‘ ist umfassend.
Das Tempus wechselt: aus selbstvergessener Gegenwart ist Bewußtsein von Verlust geworden, Rückblick in die Vergangenheit (Präteritum in Str. 5, Z. 18f.). Hatte vorher die „leichte“ (Z. 8) Lust am Spiel leichtfertiges „Zerstören“ erlaubt, so tritt jetzt an seine Stelle das ernste „Verdorren“ (Z. 19), an dem das Subjekt keinen Anteil hat, das wieder aufzuheben, rückgängig zu machen nicht mehr in der Verfügungsgewalt des „Ich“ steht. Eine positive Aussage (Z. 9) wird durch eine negative Aussage (Z. 21) abgelöst, Aktivität durch Enthaltsamkeit zurückgenommen und verneint.
Was ist verlorengegangen? Der Rückblick (Z. 17f.) auf den „Baum“, der „vollbelaubt“ war „mit Worten“, macht die poetologische Dimension der Metapher „schönen Baum“ / „Ich rauche einen neuen“ (Z. 7, 9) deutlicher. Der Baum – ein bei Sarah Kirsch überaus beliebtes Motiv – steht mit dem ,reichen‘ Binnenreim (Z. 18f.) für die Fülle dichterischer Imagination. Man halte sich nur den situativen Rahmen der Verse 7/9 vor Augen: ein Lichtausschnitt im Dunkeln eines geschlossenen Raumes. Diese Fülle ist verlorengegangen (Z. 19), das Spiel im Gedicht, Anwendung wie Ausweis dieser Möglichkeit, wird „nicht mehr“ (Z. 21) weitergeführt. Die negative Veränderung erfaßt und reduziert die Möglichkeit dichterischen Sprechens. Das Gedicht demonstriert dies, indem es diese Möglichkeit für sich selbst ausdrücklich zurücknimmt. Es ist ein Gedicht, in dem sich so die Schwierigkeit des Versuchs, ein Gedicht zu schreiben, ausspricht.
Was liegt zwischen den beiden auseinanderweisenden Bildern? Die dritte Strophe steht in der Tat in der Mitte, was das Metrum betrifft (Z. 10f.: Trochäen, Z. 12f.: Jamben), ebenso wie im Hinblick auf das Tempus: Der Wechsel vom Präsens des ersten Teils zum Präteritum des zweiten kündigt sich hier an in der Perfektform in Z. 13. An das Vorangegangene durch Enjambement (Z. 9f.) angebunden, beginnt die Strophe in der Art eines Abzählverses – das mit sich selbst beschäftigte Spielen wird fortgesetzt, könnte man meinen –, doch der Abzählvers verwirrt sich, kommt ins Stolpern: Z. 12 hat eine Hebung zuviel. Verlust (eines Freundes? mehrerer Freunde?), durch den umarmenden Reim (Z. 10 bis 13) konterkariert, markiert das Bewußtsein der eigenen Situation, das Innehalten im Spiel. Aus der Vorstellung („Rauch“, Z. 6) drängt sich die suspendierte Wirklichkeit wieder nach vorn, das Leben holt die Fiktion ein. Das Problem der Kommunikation, der Gemeinschaft, Intersubjektivität („Freunde“, Z. 11, 13) verdunkelt das allein-selbstvergessene Spiel. Es wird vom isolierten „Ich“ wieder zurück gewendet und erscheint verwandelt im subjektiven Reflex ,Ausdrucks-‘, ,Sprachfähigkeit‘ („Worten“, Z. 18f.). Wie ist diese dritte Strophe zu lesen? Liegt die Gefahr nicht nahe, daß persönliche Betroffenheit, emotionale Bewegung sich zu Schlagerwehleid verformen? Ist es gekünstelt-naive Sprechweise, die, über die Strophe 3 hinaus, das gesamte Gedicht als Sammlung von Versatzstücken einer depravierten Romantik denunziert? Strophe 3 an der Scheidelinie zwischen Belanglosigkeit und Kitsch ist sicherlich die schwierigste des Gedichts. Ist es das Gedicht einer Frau, die von ihrem Geliebten im Stich gelassen wurde? Einer Regimegegnerin, die enttäuscht ist von politisch unzuverlässigen Kollegen? Einer Dichterin, die nicht mehr schreiben kann? Und eben darüber schreibt? Wovon handelt das Gedicht? Von Liebe? Politik? Dichtung?
Schon indem wir solche Fragen stellen, merken wir, daß wir damit dem Gedicht Gewalt antun. Vagheit und Unschärfe gehören zu seinen bestimmenden Zügen. ,Gegenstände‘ bleiben unkonturiert, allgemein: „Haus“ und „Tisch“ und „Baum“, diese Spielsteine eines poetischen Kinderbaukastens, sind nomina generalia, nicht: nomina propria. Ihre Funktion liegt weniger in dem unmißverständlichen Hinweis auf einzelne Objekte; sie geben, schon in der ersten Strophe, nur die Stimmung vor, stecken den poetischen Raum ab. Banale Gegenstände werden so auf eine bestimmte Ebene gehoben, die alles Folgende gewissermaßen in ihren Bedeutungssog zieht, das weitere Lesen bestimmt. Doch der Leser findet sich damit nicht festgelegt in eindeutig-scharfer Zeichnung des Bezeichneten, sondern, im Gegenteil, ihm wird der Bedeutungs- und Assoziationsspielraum erweitert, der Freiraum vergrößert, die Vagheit für sich selbst zu konkretisieren. Damit wird die Autorin ihrem eigenen Anspruch gerecht, erfüllt sie ihr poetisches Konzept. Der Spielraum zwischen den Bestandteilen des Gedichts und ihrer Verbindung, die Vagheit der Worte, ausbalanciert durch die strenge Formalisierung ihrer Anordnung (auch hierin vielleicht Erinnerung an vergangene Lyrik, Eichendorffs etwa), erscheint bei Sarah Kirsch als Angebot an den Leser, über das die Autorin sich selbst Rechenschaft ablegt:
[…] weil ich eigentlich Gedichte schreiben möchte, in denen für den Lesenden noch Spielraum ist, wo er selbst auch etwas machen kann. Ich möchte meine Leser nicht völlig festlegen. Sie müssen nicht dasselbe empfinden, was ich empfunden habe. Es sind nur kleine Anstöße, und jeder kann sich in den Zeilen noch bewegen – und mehr will ich eigentlich gar nicht, als daß jemand sagt: So ähnlich ist es mir auch schon mal gegangen, das habe ich auch schon mal gedacht.
So ist es kein Mangel, sondern vielmehr Reichtum des Gedichts, daß keine der verschiedenen ,Lesarten‘ die andere außer Kraft setzt. Und auch wenn die Autorin im Gespräch Auskunft gibt über konkrete ,optische Anlässe‘ für einzelne Motive des Gedichts, das Rauchen einer Zigarette allein im nächtlichen Zimmer etwa nennt als Ausgangssituation für Z. 6–9 oder ihre Vorliebe dafür, Papierschiffchen zu basteln, als Motiv für die rätselhaften „Schiffchen“, die so völlig überraschend, fremd, nicht dazugehörig in der letzten Strophe auftauchen, so gibt sie damit wohl interessante Informationen über ihre Person, aber nichts weniger als eine endgültige ,Erklärung‘ des Gedichts.
Offen ist gar die Frage nach der Gewichtung des Klimawechsels im Gedicht. Das ,offene Ende‘ des Verses ohne Interpunktionszeichen präzisiert innerhalb des Gedichts (Z. 5, 9, 13, 17) die Verbindung der Strophen; am Ende des Gedichts („Die ich heut nicht mehr besteige“, Z. 21) läßt es den Schluß im Unbestimmten. Es stellt das Weiterreimen nicht grundsätzlich in Frage, sondern gibt die Möglichkeit zu, das Spiel ein andermal wieder aufzunehmen. Die Veränderung zwischen den beiden Teilen ist so nachhaltig nicht, daß das ganze Gedicht auseinanderfiele. Was „heut nicht mehr“ (Z. 21) gelingt, kann morgen wieder glücken.
Aus Peter Bekes, Wilhelm Große, Georg Guntermann, Hans-Otto Hügel und Hajo Kurzenberger (Hrsg.): Deutsche Gegenwartslyrik, Wilhelm Fink Verlag, 1982
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