– Zu Günter Kunerts Gedicht „Heimkehr“ aus Bernd Seidensticker und Antje Wessels (Hrsg.): Kunerts Antike. –
GÜNTER KUNERT
Heimkehr
Wiedererkannt hat ihn nur
sein alter Hund. Gewisse Geschöpfe
erwittern unbeirrt ihresgleichen.
Reise wohin es dich trägt, du bleibst
dennoch derselbe. Ich höre den Nachhall
von Penelopes inquisitorischen Fragen,
höre die Mär von den Freiern, aber
der Hund! Der Hund gab sich
ohne Zögern unter deine müde Hand.
Schweigen verhindert Mißtrauen.
Wahre Liebe bedarf keiner Worte.
Wo eine Berührung genügt,
haben die Götter
ihr böses Spiel verloren.
Wiedererkennungsszenen durchziehen die gesamte homerische Odyssee. Natürlich. Niemand kommt nach zwanzig Jahren Krieg und Irrfahrten in seine Heimat zurück und kann erwarten, von denen, die er einst zurückgelassen hatte, wieder unvermittelt und mit offenen Armen empfangen zu werden. So muss sich Odysseus als Bettler verkleiden, um für seine Feinde zunächst unerkannt zu bleiben und um herauszufinden, ob seine Freunde noch seine Freunde sind. Nur wenigen ganz Vertrauten offenbart er sich früh. Selbst seine Frau, die treue, aber skeptische Penelope, wird erst am Ende der Geschichte Gewissheit haben.
Kunert greift in seinen Versen, die in ihren gelegentlichen daktylischen Rhythmen auch formal das epische Vorbild anklingen lassen, auf die scheinbar beiläufigste dieser Wiedererkennungsszenen zurück: Die Erzählung vom treuen Hund Argos im siebzehnten Gesang der Odyssee. Odysseus hatte ihn selbst erzogen, heißt es dort, musste ihn aber dann, als es nach Troia ging, auf Ithaka zurücklassen. Bei seiner Rückkehr findet er ihn nun auf einem Misthaufen, verwahrlost und von Läusen bedeckt. Niemand kümmert sich mehr um den Hund. Doch der, als er seinen früheren Herrn sieht, wedelt mit dem Schwanz und legt seine Ohren an. Odysseus kann mit Mühe seine Tränen unterdrücken. Er darf sich nicht verraten. Argos aber stirbt, „da er im zwanzigsten Jahr Odysseus wieder gesehen“.
Das ist eben bei aller Beiläufigkeit eine berührende Szene und, wie es Kunert erklärt, zugleich eine starke Metapher für die Überlegenheit der Natur vor aller kulturellen Überformung. Odysseus mag „vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt“ haben, wie es in den ersten Versen des Epos heißt. Er mag äußerlich ein anderer sein, dem Hund kann er doch nichts vormachen, der erkennt ihn unbeirrt als seinesgleichen, als seinen alten Herrn, vielleicht ebenfalls als einen, der sich nicht beirren lässt. Unter den Menschen ist das anders. Sie haben sich mit Hilfe ihrer Sprache die Kultur geschaffen. Aber Sprache kann vieldeutig sein, kann in die Irre führen, Märchen und Mythen verbreiten von bösen Freiern und argwöhnischen Ehefrauen. Wer kennt die Wahrheit? Vielleicht will uns Homer mit der Geschichte von Argos ja einen impliziten Hinweis darauf geben, dass wir auch seinen Erzählungen gegenüber grundsätzlich misstrauisch sein sollen? Jedenfalls kann Sprache zwischen den Menschen stehen, Beziehungen können zerredet werden. Da ist es manchmal besser zu schweigen und – wie die unvernünftigen Lebewesen – seinen elementaren Gefühlen zu vertrauen. Dann verlieren auch die Götter, die Geschöpfe der Kultur, ihr böses Spiel.
Die Antike ist für Günter Kunerts Werk zeitlebens ein bedeutsamer Gedankengrund. Insofern trifft der Titel „Heimkehr“ für dieses Gedicht aus dem Jahre 2003 im Sinne der späten Reflexionen eines lyrischen Ichs bei der Lektüre der homerischen Szene wohl in besonderer Weise zu. Vielleicht dürfen wir die „müde Hand“ auch als eine Art Selbstbezug dieses Ichs verstehen. Und natürlich schwingen, wie immer, auch in diesen Versen Kunerts grundsätzliche ,anthropologische Skepsis‘ und Resignation gegenüber auch nur der Möglichkeit, eine übergreifende Wahrheit zu finden, mit. „Nur ganz Naive suchen noch den Sinn / in allem Treiben, aber der / steckt nirgendwo in jenem drin“, heißt es in einem anderen Odyssee-Gedicht. Vor allem aber führen diese lyrischen Reflexionen zu einem durchaus tieferen Verständnis des wunderbaren homerischen Bildes, in dem gerade angesichts der Unbedingtheit der Zuneigung eines Tieres die Bedingtheit und Brüchigkeit der menschlichen Kultur vor Augen tritt.
George Wöhrle, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013
Schreibe einen Kommentar