– Zu Günter Kunerts Gedicht „Pompeji: Garten des Fauns“ aus Günter Kunert: Berlin beizeiten. –
GÜNTER KUNERT
Pompeji: Garten des Fauns
Ein Bronzebildnis: Und es spricht
Von einem Menschsein, das man längst vergaß:
Graziös und sinnlich. Kein Verzicht
Auf Leben: Sand im Stundenglas.
Dem Faun im Garten am Vesuv
Bringst du verstohlen eine Gabe dar:
Maschinenmensch, der selbst sich schuf,
der Tugend wie der Laster bar.
Unüberwindlich bleibt die Zeit:
Zum Brückenschlag fehlt dir das Wort.
Nur leere Trümmer geben dir Bescheid
Und weisen dich geduldig fort.
Nicht nur den Besuchern Pompejis wird die reizvolle, etwa 80 Zentimeter große Statuette eines nackten, lebensfroh tanzenden Fauns, mit erhobenen Armen scheinbar die Finger schnippend, eine Figur aus dionysischem Gefolge, bekannt sein. 1830 im Atrium der dann nach ihr benannten Casa del fauno gefunden, sieht man sie dort heute allerdings nur noch als Kopie, während sich das Original im Archäologischen Museum in Neapel befindet.
Das Gedicht setzt die Kenntnis der Statuette jedenfalls voraus, denn es hält sich nicht lange mit der Beschreibung auf, ja nur das Stichwort, „ein Bronzebildnis“, muß genügen, kein weiteres Eingehen auf irgendwelche unmittelbaren gestalterischen Merkmale. Doch es geht auch gar nicht um die Beschreibung eines Kunstwerkes im engeren Sinne. Das Kunstwerk wird zum Ausdruck, „spricht“ für den Betrachter von einem längst vergessenen Menschsein. Ein Menschsein, das sich in dieser Statuette ein Bildnis geschaffen hat – „graziös“ und „sinnlich“: Leitworte eines Bildes vom Menschen als leiblich-seelischer Einheit, deren vollkommene Schönheit wenigstens in der Kunst zum Ausdruck zu gelangen vermochte. Höchster Ausdruck einer Daseinsfülle in der Welt auch, vor der es kein Zurücknehmen, keinen Verzicht auf Leben gibt, auch nicht oder gerade nicht angesichts von Vergänglichkeit und Tod, die der im Stundenglas verrinnende Sand symbolisiert.
Solch ein Bildnis von sich selbst kann sich der moderne Maschinenmensch nicht mehr machen. Er, der keine Götter mehr kennt, wo er sich selber im Geiste von Aufklärung und Wissenschaft erschuf, der keinen Ausdruck einer schönen Seele mehr finden kann, wo er keine Seele mehr hat, dessen Leben und Sterben durch die Funktionen der Maschine bedingt ist und der spätestens seit den Schrecknissen des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr ungebrochen Schönheit feiern kann und mag wie etwa der Schöpfer der antiken Statuette.
Günter Kunerts prophetische Dichtergabe wird oft gerühmt. Und auch hier, im 1987 publizierten Gedicht, deutet in der zweiten Strophe die Berufung des neuen Menschseins als „der Tugend wie der Laster bar“ schon voraus auf die aktuelle, von den Neurowissenschaften angestoßene Diskussion, wonach der freie Wille nur eine Illusion des durch seine Hirnphysiologie determinierten Menschen ist. Von Tugend und Laster wäre dann in der Tat nicht mehr zu sprechen. Bei solchen Aussichten also bleibt nur noch, dem Faun, dem Sinnbild jenes längst vergessenen Menschseins, verstohlen eine Gabe – ein kurzes Gedicht – darzubringen.
Aber einen Brückenschlag zum verlorenen Paradies wird es nicht geben, selbst der Dichtung, die doch zu überschreiten geschaffen ist, fehlen hierzu die Worte. So bleiben wohl die Ausdrucksformen eines vergangenen Menschenbildes, doch es sind leere Trümmer (wie auch die hohlen Formen der von der Lava verschütteten Menschen, von denen Kunert in einem anderen Pompeji-Gedicht spricht), die nur auf sich selbst deuten und den Betrachter geduldig fortweisen.
Man kann die Entfremdung des modernen Menschen in einem ganzen Roman zum Ausdruck bringen oder aber wie hier in Kunerts Gedicht so wunderbar in drei Strophen und zwölf Versen. Man sieht den Besucher Pompejis – dessen untergegangene Welt Kunert unlängst in einem Beitrag zu einem Ausstellungskatalog mit der Berlins verglichen hat – wie er bei seinem Rundgang auf die Statuette des Faun stößt.
In der Beschreibung eben nicht der Plastik selbst, sondern der inneren Vorgänge des Betrachters, der Reflexion, spürt der Leser des Gedichtes wohl die Wehmut über den Verlust jenes längst vergessenen Menschseins, von dem der Faun kündet und dessen Idee einer harmonischen Vollkommenheit sich noch im klaren Bau und vielleicht nicht zuletzt im Reim der Verse spiegelt – und muß sich doch ebenso wie der Betrachter illusionslos fortweisen lassen.
Georg Wöhrle, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007
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