IX
Für Charles Lucet
Sie wissen nicht daß sie nie mehr sehen
Die Gärten des Exils und die vertrauten Strände
Die Sterne die mit Salzsprüngen reisen
Wenn die Nacht von allen Schönheiten traurig ist
Sie vergessen daß sie nie mehr vernehmen
Den Wind im Gitter und den Hund der Bilder
Das Wasser das auf der Farbe der Steine schläft
Die Nacht mit ihren Regengeigen
All dieser Zauber für nichts
Wenn er nicht an eine andere Welt erinnerte
Mit fleischigen Vögeln auf den Wiesen
Mit scheunenhohen Bergen
O meine Kindheit o meine Torheit
(aus „Poésies II“)
– Georges Schehadé und seine Lyrik. –
Er ist so sehr Dichter, dass er sich in dem Gedicht verlieren kann, das ihn erzeugt. Er kommt aus jenen Gefilden, wo sich jede Architektur, einfach und rein, um eine sehr poröse, unendlich leere und nackte Kammer herum ordnet. Er stammt aus jenen Familien des Menschengeschlechts, für die Rosen nur die Rosenessenz, Perlen nur den Orient bedeuten.1
Mit diesen Worten charakterisierte der spätere Nobelpreisträger Saint-John Perse 1953 in der Zeitung Le Monde die Dichtung des mit ihm befreundeten libanesischen Lyrikers und Theaterautors Georges Schehadé.
Wer war Georges Schehadé? Zunächst einmal ist festzuhalten: Das dichterische Werk verweigert hartnäckig Aufschlüsse über seine Biographie, und die Briefwechsel, die seine Persönlichkeit erhellen könnten, sind bislang noch unveröffentlicht – so wie auch zahlreiche Theaterstücke, Jugendgedichte und Kunstkritiken. Es bleibt demnach nur, das Leben des Dichters auf dem nackten Spiegel einiger Eckdaten zu umreißen:2 Georges Élias Schehadé wurde am 2.11.1905 in Alexandria, Ägypten, geboren (andere, weniger verlässliche Quellen geben das Geburtsdatum mit 1907 oder 1910 an). Seine Eltern waren libanesisch-orthodoxe Christen, die 1920 in den Libanon zurückkehrten, genauer gesagt in das christliche Viertel Achrafieh von Beirut, weil Élias Schehadé, Georges Vater, sich an der Börse verspekuliert hatte. Nach dem Studium der Rechte, das dank der Unterstützung zweier Onkel möglich war, arbeitete Schehadé als Referendar in einer Kanzlei und eine zeitlang als ,rédacteur‘ im Ministère de la Justice. Er stellte seine erste Sammlung für die Pariser Éditions de la Pensé Latine zusammen, Étincelles (1928), untersagte aber ziemlich rasch weitere Drucke. Auch die Sammlungen L’Écolier Sultan (1928) und Rodogune Sinne, 1929 in der Sommerfrische von Bickfaya geschrieben, wurden erst Ende der vierziger Jahre vollständig veröffentlicht.
Verstreute Zeitschriftenbeiträge machten Schehadé allmählich bekannt, seine Gedichte in dem Pariser Magazin Commerce trugen ihm die Bewunderung von Paul Éluard und Saint-John Perse ein. Auf seiner ersten großen Reise nach Europa lernte er dann 1933 in Paris unter anderen Saint-John Perse, Max Jacob und Jules Supervielle persönlich kennen. Seit der Gründung der École Supérieure des Lettres 1944 in Beirut war Schehadé als deren Generalsekretär tätig; doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs siedelte er schließlich nach Paris über (1949), hatte zeitweilig einen Posten bei der UNESCO inne und nahm an den berühmten Treffen der Surrealisten im Café de la place Blanche teil. André Breton lobte den Monsieur Bob’le als „ein Werk von außerordentlicher Schönheit“.3 Es war dies überhaupt die Zeit großer Begegnungen und Freundschaften: mit Pierre-Jean Jouve, E.M. Cioran, Marc Chagall, Octavio Paz, Julien Graq, Samuel Beckett, Eugène Ionesco, Michel Leiris, Andrée Chédid und anderen.
Im März 1951 heiratete er Brigitte Collerais, die er 1946 auf einer Schiffspassage von Frankreich in den Libanon kennen lernte; ein Jahr später wurde ihr einziges Kind, Élie-Philippe, geboren. In den folgenden Jahren verfasste Schehadé mehrere Theaterstücke, die heftige Skandale provozierten, vor allem der schon vor dem Krieg geschriebene Monsieur Bob’le, für dessen Verteidigung unter anderen André Breton und (vor dem endgültigen Zerwürfnis 1957) René Char eintraten, und die Histoire de Vasco, der man Antimilitarismus vorwarf. Mehrere Uraufführungen fanden bemerkenswerterweise im deutschen Sprachraum statt (Zürich, München, Bochum). In seinen Bühnenstücken amalgamiert Schehadé groteske Elemente des absurden Theaters mit einem märchenhaften, volkstümlichen, poetischen Ton.
Schehadé wurde 1960 zum künstlerischen Berater der Mission culturelle der französischen Botschaft im Libanon ernannt. Das Jahr 1967 war dann ein Jahr der Reisen: nach Dakar (auf Einladung des Dichters und senegalesischen Präsidenten Léopold Sédar Senghor), New York und Montréal. 1969 verlegte er seinen Wohnsitz wieder in den Libanon, verließ das Land aber bereits 1977, weil sich seine Hoffnung, dass der 1975 ausgebrochene Bürgerkrieg bald zur Ruhe kommen werde, nicht bewahrheitete. Nach dem Tod seiner Mutter (1978) entschied Schehadé sich dafür, endgültig in Paris zu bleiben. Die Académie Française verlieh ihm 1986 den Grand Prix de la Francophonie, deren erster Preisträger er wurde. Am 17. Januar 1989 starb der Dichter in Paris an einem Herzinfarkt.
Georges Schehadé gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Dichtern der Levante. Er beherrschte das Arabische perfekt, stand aber in der französischen Literaturtradition, hier vor allem unter dem Einfluss der surrealistischen Bildwelt, die sein Werk allerdings nur bedingt prägte. Die Ursprünge der französischsprachigen Dichtung im Libanon liegen im 19. Jahrhundert; genauer: seit 1874 existierte das Französische als Literatursprache. Auch die wichtigen Bildungsinstitutionen des Landes waren französischsprachig oder zumindest unter französischer Leitung. Mit Fouad Abi Zeyd und Georges Schehadé setzte in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Erneuerung der frankophonen Dichtung ein, die gewisse Tendenzen der Moderne aus Frankreich aufnahm und sich nicht mehr den traditionellen Prinzipien von Reim und Metrum verpflichtet fühlte. Zu den großen Dichtern und Dichterinnen des Libanon zählen bis heute: Andrée Chedid, Vénus Khoury-Ghata, Fouad Gabiel Naffah, Salah Stétie, Alain Tasso und Nadia Tuéni.
Saint-John Perse verglich Schehadés Gedichte mit der „Durchsichtigkeit des hellen Wassers“, und tatsächlich ist Transparenz eines ihrer Hauptmerkmale. Aus wenigen, immer neu angeordneten und variierten Bildern und Begriffen webt Schehadé einen leichten, anmutigen Schleier der Melancholie: die verlorene Welt der Kindheit; Trauer um Verstorbene, etwa seine Mutter oder die befreundete Dichterin Nadia Tuéni;4 Sehnsucht nach einer anderen Welt, die nur in Träumen enthüllt wird; die Weisen des Morgenlands und die christlichen Symbole des Abendlands. Die Kürze von Schehadés Poesie entspricht seiner Ästhetik des pointierten, präzisen Bildes, das sich bei aller Reduktion mit möglichst viel Sinngehalt auflädt. Beispiele dafür hat er selbst aus der Literatur in seiner Anthologie du vers unique (1977) gesammelt. Oh ich erinnere mich – diese Formel könnte über den meisten von Schehadés Gedichten stehen. Sie verweist aber nicht auf den Akt des Erinnerns selbst, sondern ist vielmehr ein Gestus des retrospektiven, jedoch niemals nostalgischen Blicks. Sie ist eine Chiffre für die Aufhebung zeitlicher Distanz. Denn Schehadé entwirft einen Raum – sei es das Kinderzimmer oder die Kirchennische –, in dem eine Art Zeitlosigkeit herrscht.
Es scheint, als habe der Autor seine Kindheit niemals vollständig verlassen, als sei ein Teil von ihm noch immer an das Land, die Zeit, die geliebten Personen der Kindheit gebunden; oder als würde sich die Kindheit bis in die Unbehaustheit des Erwachsenenlebens erstrecken. Das Nest und der Baum, der diesem Nest einen gewissen Halt und Unterbau verleiht, sind die großen, immer wiederkehrenden Sehnsuchtsbilder.
Es gibt Gärten die haben kein Land mehr
Die sind allein mit dem Wasser
Tauben überqueren sie blau und ohne Nester.
Bei diesen Gärten darf man an die kunstvoll angelegten Gärten des Orients, aber auch an Obstgärten und den Garten des Paradieses denken. Erst in einer anderen – jenseitigen – Welt, „wo der Vogel mit seinem Nest entfliegt“, wird die Heimat in einem luftigen, freiheitlichen Bereich erlangt.
Es ist dies auch der Ort, „wo alle Frauen sich gleichen“. Dort fallen alle mit ,du‘ Angeredeten in eins, die Liebe – oder die Liebste –, die vielen namenlosen Frauen, die Jungfrau Maria, vielleicht sogar die Mutter selbst, „schön wie tausend Morgen“.
Im Schlaf deutet sich diese verlorene und wieder zu findende Welt an: „Und für ein besseres Dasein träumten wir“, heißt es einmal. Dann ist die im Pariser Exil so ferne Heimat erneut präsent, dann zeigt sich ein Land, in dem die ursprünglichen Namen wieder Geltung erlangt haben:
Im Raum hohl und voll wie ein Ring
Öffnen sich die Gatter der Nacht über Tod oder Träumen
Diese Nacht in der Ebene gibt es Mesopotamien und seine Fenster.
Dieser Schlaf ist ein Schlaf der Unvernunft, einer, in dem es um nicht mehr und nicht weniger als die Neuerschaffung des Selbst geht:
Schlafen zwischen den Beinen Gottes
In einer Geburtsweihnacht.
Der Mensch ist Bewohner zweier Welten – „Ich träume und ich bin hier“ –, einer heilen künftigen (die mit der vergangenen identisch ist?) und einer dürftigen jetzigen voller Schmerz und Verlust.
Der Himmel und die Erde, die Meeresweite und der Strand: Aus solchen Gegensätzlichkeiten beziehen Schehadés Gedichte ihre Spannung, ihre Kraft. Ruhelosigkeit, Sehnsucht und Exil zwingen zu reisen, und sei es nur in der Imagination:
Die da sehr spät wachen nachts
In der tiefen Vergebung des Finsteren
Fern von Lampen den Augen warm
In kahler Luft
Sie sind die Reisenden der Zukunft.
Durch diese Reisen, die wie Fäden hin und her laufen und die Brüche in der Welt flicken, werden vielleicht die konträren und voneinander entfernten Elemente miteinander verbunden. Immer ist der morgendliche, von der Morgenröte angestiftete Impetus darin enthalten:
Wir werden für den Lichthof reisen
Unsere wirkliche Herkunft.
Schehadés Gedichte sind bis zu den kärgsten Essenzen destilliert. „Da ist ein großes Elend in den Dörfern“, verkündet eines seiner Gedichte, ins abstrakte Allgemeine reduziert; und vom spanischen Bürgerkrieg ist nicht mehr zu erfahren als:
Du liest daß in Spanien ein General Armeen aushebt.
Denn:
Wegen der Gärten beginnen die Träume des Wahns.
Nun sollte man dem Autor aus diesem Grunde keine Weltflüchtigkeit vorwerfen – er selbst wird übrigens als ein äußerst humorvoller Mensch geschildert; Schehadés Dichtung ist durchaus welthaltig, aber sie ist von Details und Alltagsdingen völlig entschlackt.
Man ist versucht, die nachgelassenen Gedichte der „Poesie VII“ als den Abschiedswink eines alten Mannes zu lesen, der schon die Boten der anderen Welt – „Ein Lamm und ein Engel zogen in der Ferne vorüber“ – am Horizont erkennt; doch solche Bilder, die auf eine Elevation verweisen, die ihrerseits wiederum Chiffre einer größeren Transzendenz ist, fanden sich bereits in den frühen Dichtungen:
Wenn die Berge die Luft berühren könnten
Und in ihr die Jahreszeiten träfen
Würdest du auf dem Himmelspfad wandern.
Auch die von Melancholie gesättigte Stimmung ist von Beginn an vorhanden, die Herbstschwere, die Nebel- und Regenwände, der morgendliche Weg hinauf in ein Reich der Himmel. Über einen Zeitraum von fünfzig Jahren entstanden, wirkt die Poesie I–VII wie eine in sich geschlossene Einheit, die weder dramatische Fortschritte noch Wandlungen zu verzeichnen hat, weil alles Wesentliche keimhaft angelegt war.
Die vorliegende Übersetzung umfasst, mit Ausnahme dreier längerer Einzelgedichte („Portrait des Jules“, „Récit de l’an Zéro“, „Le Chat“) und des stilistisch deutlich traditionelleren Frühwerks, gesammelt als Poésie Zero (Lyrik Null) und Rodogune Sinne, die gesamte Dichtung Georges Schehadés, einschließlich der erst vor wenigen Jahren posthum in Beirut veröffentlichten „Poesie VII“, insgesamt nicht mehr als 141 Gedichte.
Werke:
Lyrik: Les Poésies I–VII (1938, 1948, 1949, 1951, 1972, 1985, 1998); Poésie Zero ou L’Écolier Sultan (1947); Rodogune Sinne (1950); Anthologie du vers unique (1977)
Theater: Chagrin d’amour (1938); Monsieur Bob’le (1951); La Soirée des proverbes (1954); Histoire de Vasco (1957); Les Violettes (1960); Le Voyage (1961); L’Emigre de Brisbane (1965); L’Habit fait le prince (1973)
Jürgen Brôcan, September 2005, Vorwort
– Laureat zahlreicher literarischer Preise, darunter der Große Preis der Francophonie der Académie française – gehört zu den einflußreichsten Dichtern und Dramatikern der Levante.
Die Ursprünge der französischsprachigen Dichtung im Libanon liegen im 19. Jahrhundert. Mit Schehadé setzte in den 1950er Jahren eine Erneuerung der frankophonen Dichtung ein, die Tendenzen der Moderne aus Frankreich aufnahm.
Es scheint, als habe der Autor seine Kindheit niemals vollständig verlassen, als sei ein Teil von ihm noch immer an das Land, die Zeit, die geliebten Personen der Kindheit gebunden; oder als würde sich die Kindheit bis in die Unbehaustheit des Erwachsenenlebens erstrecken.
Das Nest und der Baum, der diesem Nest einen gewissen Halt und Unterbau verleiht, sind die großen, immer wiederkehrenden Sehnsuchtsbilder in Schehadés Werk..
Verlag Hans Schiler, Klappentext, 2005
Festival Arsmondo Libanon – Georges Schehadé und das goldene Zeitalter der frankophonen libanesischen Poesie. Farès Sassine spricht über Georges Schehadé und seine Zeitgenossen.
Jürgen Brôcan liest den Gedichtzyklus HALDENHUB am 20.2.2022 im Museum für westfälische Literatur – Kulturgut Haus Nottbeck.
Georges Schehadé liest zwei Gedichte.
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