DER NEUE SELBSTKOLORIERTE DICHTER
Hans Carl Artmann gehört zu den Wiener Emigranten der letzten Jahre. Eine Betrachtung seiner Person und seines Werkes kann an der Wiener Situation, die Artmann etwa seit 1950 mitbestimmt hat, nicht vorbeisehen. Das Wien der 50er Jahre – und das heißt: Österreich – war, mehr noch als heute, eine festverkorkte undurchsichtige Flasche, deren Inhalt außerhalb Wiens kaum jemand beachtet oder gar gekannt hat. Das betrifft die Malerei der Wiener Schule, die Artmann sehr schätzt, ebenso wie die von der außerösterreichischen Literatur im deutschen Sprachraum isolierten und vom inländischen Publikum mehr als andernorts ignorierten Schriftsteller Wiens. Das Treibhaus der allgemeinen schöngeistigen Frustration hat die Gruppenbildung von Anfang an begünstigt. Im Kreis des später penetrant antikommunistischen Hans Weigel, in den Kreisen des daraufhin antiweigelianischen, suggestiven Hermann Hakel, im Autorenkreis der Neuen Wege und der Wiener Dichtergruppe sind die Schriftsteller immer wieder auf der Suche nach Wärme zusammengerückt – Harry Pross hat das Phänomen dieser gesellschaftlichen Gruppenbildungen anhand anderer Beispiele bereits hinreichend erörtert. In der wenn auch fluktuierenden und durch Querverbindungen aufgebrochenen Gruppe schert den Künstler nicht Isolation noch Sprachlosigkeit bedingt durch den Mangel an Publikationsmöglichkeiten oder Ignoranz des Publikums. Auf wenigstens zwei dieser Kreise, den Autorenkreis der Neuen Wege, dem ein gut Teil der österreichischen Schriftsteller angehörte, die Hans Weigel in seinen Anthologien Stimmen der Gegenwart I–IV versammelt hat, und die Wiener Dichtergruppe hat Artmann seit 1950 starken Einfluß ausgeübt. Wieland Schmied schreibt darüber:
Artmanns Stellung in diesem Kreis darf vielleicht mit der Pounds in London bei Anbruch des ersten Weltkrieges verglichen werden.
Es ist allein der beladene Name Pounds, der an dem Vergleich mißfällt; zumindest hinsichtlich des experimentellen Flügels des Autorenkreises der Neuen Wege und später gänzlich im Bereich der Wiener Dichtergruppe ist der Schmiedsche Vergleich, läßt man die Dimension einmal dahingestellt, durchaus zulässig. Mit seinen Arbeiten und literarischen Entdeckungen, seiner sprachlichen, auch fremdsprachigen Begabung ist Artmann für die sich gruppierenden jungen Schriftsteller stets ein wesentlicher Übermittler der zur Gruppenbildung erforderlichen Anregungen und Leitideen gewesen, die es freilich aufzubereiten und sachgerecht anzuwenden galt, da Artmann selbst in seiner schwärmenden Art die Standpunkte zu häufig wechselt, um zu einer durchgehaltenen Linie finden zu können. In Wien hat die literarische Arbeit durch das Leben in Kreisen von Anfang an etwas Introvertiertes und Sektiererisches gehabt, das es heute schwer macht, den Spuren von damals nachzugehen. Andreas Okopenko schreibt über das Schreiben in Wien eingangs der 50er Jahre:
Man improvisierte oft bei Besuchen, diktierte es dem Freund oder sprach es einfach und schrieb es dann nicht nieder; man verschmiß es, vergaß es, verbrannte es. Die Produktion hatte etwas narrenfreies, man wußte, man würde die Sachen kaum unterbringen.
Bleibt man bei dem herangezogenen Vergleich mit der Flasche, so war Artmann der große Weingeist darin, Harun al Raschid einer fatamorganatischen Poetenrepublik. Der 1964 32jährig verstorbene Konrad Bayer bekannte einmal:
Er war mir Anschauung, Beweis, daß die Existenz des Dichters möglich ist.
In die heutige, westdeutsche Situation dringt dieser seltsame Mann nur zögernd ein. Er weigert sich, die Pflichtübungen der literarischen Gesellschaft zu absolvieren. Man traut ihm nicht recht. Das Bedauerliche daran ist nicht, daß er nicht im Gespräch ist, wie mancher andere, der es weniger verdient; bedauerlich ist vielmehr, daß ein interessantes und umfangreiches literarisches Werk den Schubladen der Vergessenheit anheim gegeben zu werden droht. Warum denn Gedichte aufheben, wenn sie doch keiner haben will. Otto Breicha schreibt im Juli-Heft der österreichischen Zeitschrift Wort in der Zeit 1963:
Es fehlen alle Voraussetzungen, die gelegentlich veröffentlichten Proben aus der Abfolge des kompletten literarischen Werkes ihres Autors zu erleben.
Von Artmanns einigen hundert Gedichten, die zum Teil bereits verschollen sind, kennen nur wenige einige, und auch der im Frühjahr 1966 bei Walter erschienene, ein gutes halbes Hundert Texte aus 13 Jahren umfassende Gedichtband Verbarium bestätigt nur Eingeweihten, was sie schon wissen: daß nämlich Artmann der wahrscheinlich einzige wesentliche Dichter ist, den die deutsche Literatur nach 1945 hervorgebracht hat – allen seither hochgespielten Modebegabungen zum Trotz, von Bachmann bis Grass. Für Nichtkenner ist auch das Verbarium nur eine etwas zusammenhanglose, freilich wichtige Probe. Von mehreren hundert Seiten, zum Teil ebenfalls verschollener, zumeist kurzer Prosa, liegen im Buchdruck bisher nur Das suchen nach dem gestrigen tag im Walter-Verlag und die kürzlich verramschten Husarengeschichten aus dem Piper-Verlag vor. In Österreich haben ihm bisher nur seine Dialektgedichte med ana schwoazzn dintn im Verlag Otto Müller, Salzburg, und hosn rosn baa zusammen mit Friedrich Achleitner und Gerhard Rühm im Wilhelm Frick Verlag, Wien, vorübergehendes, im Falle der schwoazzn dintn sogar Bestseller-Ansehen gebracht. Lediglich Walter Höllerer griff kürzlich tief in die Artmannsche Bedeutung, als er ihn für das lyrische Phänomen der „langen Gedichte“ okkupierte und in dem betreffenden Heft der Zeitschrift Akzente einige seiner Berliner Gedichte abdruckte. Erwähnt werden muß schließlich Artmanns Dracula Dracula, ein Buch mit Radierungen von Uwe Bremer, das in einer kostbaren, kostspieligen (300,- DM pro Exemplar) Auflage von 55 Stück im Juni 1966 im Berliner Rainer-Verlag erschienen ist, und auf knapp zehn Schreibmaschinenseiten einen perfekten, klassischen und exemplarischen Roman darstellt, der in Aufbau, Durchführung, Sparsamkeit und raffinierter Pointierung Bestsellerromanciers lehren könnte, wie man einen Roman schreibt, wenn man schon einen schreiben will, statt sich, wie Artmann, darauf zu beschränken, schlüssig zu zeigen, wie man’s macht.
Aber sein Name liegt nun doch schon auf der Zunge. Seine Freunde beginnen ihn zu entdecken und werden bald eine Landkarte für ihn und seine Gedichte angelegt haben. Was bisher über ihn geschrieben worden ist, unter anderem von Alfred Schmeller, Wieland Schmied und Konrad Bayer, läßt allerdings die zusammenfassende Betrachtung vermissen, wollte wohl gar nicht mehr, als kurze Erwähnung tun, oder ist, wie Bayers faszinierender Bericht in der 1964 erschienenen Wiener Zeitschrift Werkstatt Aspekte I, bewußt einseitig, tendenziös, beschlagnahmt Artmann für bestimmte Ideen und Vorkommnisse und schränkt ihn so wahrheitswidrig ein. Wie ist es wirklich gewesen? Eine Photographie von 1933 zeigt einen zwölfjährigen, langaufgeschossenen dürren Knaben, der Umstehende und Kinder um Häupterlängen überragt und ein Bein auf einen Brunnenrand aufgesetzt hält. Dieses Bild holt 32 Jahre später seine krumme, fast blinde Mutter aus dem Küchenspind und sagt bescheiden, als sie Leben verspürt habe, sei ihr der Wunsch gekommen, einen Dichter zum Sohn zu haben. Solche Pose vererbt sich, auch von der Witwe eines selbständigen Schuhmachermeisters der Wiener Vorstadt auf einen Poeten.
Aber warum wird der Sohn ein Poet und der andere bleibt beim väterlichen Handwerk? Was treibt einen Hauptschulabsolventen zu den Sprachen und den Wörtern? Ohne auch nur eine einzige Klasse Oberschule, Abendkurse oder sonstige sogenannte Fortbildung? Artmann hat aus dem Schwedischen Carl von Linné übersetzt, aus dem Spanischen Francisco de Quevedo, aus dem Irischen religiöse Dichtung der Kelten, aus dem Französischen Marivaux, aus dem Englischen Daisy Ashford, aus dem Jiddischen jiddische Sprichwörter und so fort, um aus einigen Sprachen wenigstens ein Objekt zu zitieren. Er hat Barockgedichte geschrieben, von denen „25 Epigrammata“ im Anhang der Husarengeschichten enthalten sind, persische Quatrainen, lange Gedichte, Lautgedichte, Dialektgedichte und auch hierin so fort. Sie habe immer Bücher für ihn kaufen müssen, sagt die Mutter, auch ins „Feld“ habe sie ihm Bücher schicken müssen. Ob er auffällig gewesen sei? Der Jude, bei dem er in die Lehre gegangen sei, habe seinen Witz geliebt. Ein besonders dienstfertiger Lehrling sei er wohl nicht gewesen, aber ein gewitzter eben. Schließlich sei er „Freigesprochen“ worden – bei uns heißt das: ausgelernt. Es scheint so, als habe Artmann bis zu seinem dreißigsten Jahr und darüber hinaus nur Sprachen gelernt und gelesen. Er läuft umher, hört die Menschen reden, liest ihre Straßenschilder, die Schilder an ihren Geschäften und abends sucht er in seinen Lexika den Wortsinn seiner Erfahrungen. Seine erste Veröffentlichung stammt aus dem Jahre 1950 und besteht aus den ersten neun Zeilen eines Gedichtes ohne Überschrift aus dem Jahre 1949, das sich in seiner ganzen, 20zeiligen Länge, an zwei Stellen leicht verändert, in der Auswahl der Kärntner Liebesgedichte auf meine klinge geschrieben des Verbarium wiederfindet.
Zur Situation in Wien: 1945 hatte Otto Basil die Zeitschrift Plan begonnen, die 1948, ein Heft bevor die ersten, bereits gesetzten Texte Artmanns erscheinen konnten, einging. Im Jahre der ersten Veröffentlichungen Artmanns, also 1950, gibt es in Wien nur die monatlich vom Theater der Jugend herausgegebene Zeitschrift Neue Wege. Einsender von Gedichten und kurzer Prosa sind etwa seit 1948 Hanns Weissenborn, Herbert Eisenreich, Gerhard Lampersberg, Friedrich Polakovics, Andreas Okopenko, Ernst Kein, Walter Toman und andere, neben denen jedoch auch Carossa und Quasimodo, Aragon und Majakowski zu Worte kommen. Im Jahre 1950 bittet die Redaktion einsendende Autoren zu einer Besprechung über die Möglichkeiten, junge österreichische Literatur zu publizieren. Der bis dato einzige Schüler des auch in Wien noch gänzlich unbekannten Artmann, René Altmann, verweist auf den Meister und fordert Mitsprache für diesen, wie er sagt: Surrealisten. Artmann wird beigezogen und ist sofort Mentor der Gruppe, die, in sich verschieden strukturiert, gegenüber reaktionären, vor allem schulischen Kräften, als Autorenkreis der Neuen Wege bewußt progressiv auftritt und bis zum Ende dieser Phase im November 1951 im wesentlichen nur noch Helene Diem, Friederike Mayröcker, Wieland Schmied und Jeannie Ebner aufnimmt. Artmann kennt, in dieser Zeit, die noch nicht begonnen hat, die verlegerischen Lücken von 1933 und 1938 bis 1945 aufzufüllen, nicht nur die wichtigsten Veränderer der deutschsprachigen Literatur bis hin zu den noch ganz aus der Mode stehenden Dadaisten, Surrealisten und entfernteren lettristischen Quellen. Er hat auch wichtige Arbeiten zu der Zeit noch unübersetzter fremdsprachiger Literaturen gelesen, fertigt informative Übersetzungen an, so von Lorca, Lucebert, Mistral, Dylan Thomas, Alberti, Neruda, veranstaltet Lesungen, zum Beispiel aus „romancero gitana“ und „el poeta en Nueva York“ und überfällt den Kreis immer wieder mit neuen unbekannten Texten. Die Einflüsse strömen freilich auch von anderer Seite zu; aber Artmann ragt doch in jedem Falle durch die Fülle des von ihm beigesteuerten Materials und aufgrund seiner schillernden Persönlichkeit heraus.
„Er war Gewürz und Katalysator“, schreibt Andreas Okopenko. Im Vergleich dazu erscheinen nur wenige Gedichte Artmanns in den Neuen Wegen, und zwar bis Juni 1951 insgesamt elf. Es sind, soweit ersichtlich, zumeist naturhafte Gedichte, märchenhaft, zigeunerromantisch, daneben gibt es jedoch auch einige unveröffentlichte, anders geartete Stücke, wie das offenbar einer längeren intensiven Lorca-Periode in den Jahren 1951/52 zugehörige Gedicht „entwurf zu einer klage. für einen gefallenen“, das den Tod von Artmanns jüngerem Bruder während des Krieges in Rußland reflektiert und eines der selten bei ihm anzutreffenden, bekenntnishaften Gedichte ist, wenngleich auch hier eine starke sprachliche Stilisierung vorherrscht. Insgesamt dürften für die Zeit seit 1944 und über das Jahr 1951 hinaus, etwa bis 1953 zwei Gedichte auffindbar sein.
Im April 1950 erscheint, ebenfalls in den Neuen Wegen, die erste Prosaveröffentlichung Artmanns: acht, nur wenige Worte oder Zeilen lange Personagen, von denen es sehr viel mehr gegeben haben muß. Die Quellen dieser Prosa hat Artmann selbst verschiedentlich belegt. Er hat, neben anderen Spaniern oder spanisch schreibenden Autoren, vor allem Ramón Gómez de la Serna, geboren 1899, übersetzt und bezeichnet ihn, zumindest hinsichtlich dieser Epoche, als sein Vorbild. Das Prinzip einer Gregueria von Serna wie: „Eine Frau, die vergessen hat, Rouge aufzulegen, ist bestürzt, als hätte sie ihre Lippen zu Hause gelassen“, – hat Artmann auf viele seiner Personen, Phantasmagorien und sonstigen kurzen Prosatexte übertragen; daneben hat er selbst Greguerias geschrieben. Von den kurzen Prosastücken ist Artmann, mit Ausnahme der Kurzromane (Dracula Dracula; Der Menschenfresser und dem fragmentarischen Liebesroman) nie fortgekommen. Im ungewissen Grenzbereich zwischen Gedicht und Prosa angesiedelte Stücke sind die weitesten Ausflüge in epische Bereiche, die von ihm, in völlig richtiger Einschätzung der Schwerpunkte seiner Begabung, erwartet werden können. Es ist aber auch nicht so, daß jemand vom Himmel fallen müßte, um dem darniederliegenden Roman aufzuhelfen. Vielmehr ist der unnötige Versuch, Mitte des 20. Jahrhunderts einen Roman zu schreiben, eine unintelligente Verkennung der Wirklichkeit. Artmann weiß das auch – bewußt oder unbewußt.
Im November 1951 kommt es zum Bruch zwischen den jungen Autoren und den reaktionären schulischen Kreisen, von denen die Neuen Wege abhängig sind. Der Streit um die literarische Linie hatte bereits mit der Usurpation des Blattes durch den Autorenkreis eingesetzt. Ausgehend vom Selbstverständnis Artmanns, Altmanns und anderer, lautete der Vorwurf auf Surrealismus. So wie eine „wesensmäßig unösterreichische Literatur“ in den Jahren 1964/65 selbst von Autoren wie Herbert Eisenreich beklagt wurde (was in der Bundesrepublik von reaktionären Kritikern wie M. R.-Ranicki begrüßt wurde und in Österreich 1965 zur Ablösung Gerhard Fritschs beim Wort in der Zeit führte), lehnten damals die Gegner des Autorenkreises als „surrealistisch“ und damit verwerflich alles ab, was an neuen schreiberischen Versuchen vorgestellt wurde, bis hin zu den sozialkritischen Sujets Okopenkos. Der Surrealismus wurde als Schlagwort benutzt, das über literarisch gut oder schlecht entscheiden sollte. Im November 1950 nimmt Artmann in den Neuen Wegen zum Surrealismusstreit Stellung und kritisiert vor allem, daß immer wieder der Surrealismus junger Autoren getadelt werde, obwohl die meisten überhaupt nicht surrealistisch schrieben und zum wenigsten surrealistische Texte publiziert hätten. Seine Äußerung in diesem Zusammenhang ist eine, seine „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ von 1953 vorwegnehmende, interessante Selbstäußerung. Artmann schreibt:
Die meiner Meinung nach in Frage kommenden Autoren wären in erster Linie Helene Diem, René Altmann und H.C. Artmann. Die Genannten schreiben natürlich surrealistische Gedichte (…) Nichtsdestoweniger wäre ich, ohne jemals ein Gedicht geschrieben zu haben, schon allein in meiner Lebenshaltung und Lebensanschauung ein Surrealist.
Am Surrealismus, dem, wenn auch nicht im Bretonschen Sinne, bis auf den heutigen Tag eigentlich nur Friederike Mayröcker in gewissen Strukturen ihrer Gedichte treu geblieben ist, scheiden sich in Wien die Geister von den Ungeistern. Friedrich Polakovics, der gegenüber der Zeitschrift als Sprecher und Koordinator des Autorenkreises aufgetreten war, bleibt zwar allen Anfeindungen zum Trotz dabei, später wird er sogar Literaturredakteur, führt Traude Dienel und Ernst Jandl ein, stellt Wolfgang Borchert und Hans Erich Nossack vor und vermag auch Herbert Eisenreich und Wieland Schmied bei der Zeitschrift zu halten, aber die übrigen verweigern auf Jahre hinaus, bis zum Dezember 1954, die Mitarbeit und sind damit wieder einmal ohne Sprachrohr. Es werden Auswege gesucht. Bereits im März 1951 hatte Okopenko begonnen, die Publikationen einer Wiener Gruppe junger Autoren herauszugeben, die nun, hektographiert, in einer durchschnittlichen Auflage von 100 Exemplaren vierteljährlich bis Anfang 1953 erscheinen und später, nach mehrjähriger Pause, im März und Juni 1957, von Artmann mit zwei Heften fortgesetzt werden.
Artmann ist bei den Publikationen von der ersten Nummer an dabei und zwar mit dreien seiner Phantasmagorien. Heft vier der Zeitschrift bringt Texte von Gerhard Fritsch, Ernst Kein, Friederike Mayröcker und anderen, sowie die phantasmagorischen Vorbilder Artmanns und seiner Freunde mit exemplarischen Texten: Aloysius Bertrand (1807 bis 1841), den Konrad Bayer noch 1965 mit drei kurzen Prosastücken als Wegweiser dem Abdruck der Artmannschen Prosatexte „Von einem drachen oder der sturz des ikarus“ und „enthüllungen“ in der Wiener Zeitschrift Eröffnungen von Hubert Fabian Kulterer und Hannes Schneider voranstellen läßt, ferner Alfred Jarry (1873 bis 1907), Max Jakob (1876 bis 1944) und Henri Michaux (geboren 1899). Das Stichwort lautet, von Werner Riemerschmid, der auch die Übersetzungen angefertigt hat, formuliert: poetische Prosa. Noch sechs Jahre später wird Wieland Schmied im zweiten Heft der nunmehr Artmannschen Publikationen einen Aufsatz über das Mythologische in der neueren österreichischen Dichtung schreiben und damit den Phantasmagorien einen weiteren Inhalt geben. Gerade eine Prosa wie Artmanns „Von einem drachen oder der sturz des ikarus“ ist ein Musterbeispiel einer Verbindung von Phantasmagorie und Mythologie.
Schon seit Herbst 1950 sucht Artmann die unzureichende Publizität, wie sie die Neuen Wege und die Publikationen gewähren, zu verbessern. Was Berichterstatter aus Wien, wie Konrad Bayer, an Vereinsgründungen und Kellermeierei übermittelt haben, entspringt weniger der Freude an obskuren Begegnungen als der Suche nach einem geeigneten Publikationsmittel und wird erst im Laufe der Zeit von der Konzentration des Dichters, also nicht vom gesellschaftlichen her, gerechtfertigte nachdadaistische Aktionsliteratur mit der Folge des teilweisen Verfalls des alten Artmann-Kreises und der Entstehung eines neuen, personal etwa zehn Jahre jüngeren Kreises. So wird zum Beispiel Artmanns Projekt Der Keller bereits 1950 abwechselnd als Zeitschrift und Almanach der Gruppe mit einem symbolisch aufzufassenden Titel diskutiert und erst später im eigentlichen Wortsinne verwirklicht, unter anderem mit der berühmten, vier Stockwerke tief unter der Ballgasse liegenden Katakombe.
Der Rückzug in die Katakomben der Mißbilligten sollte Artmanns Ruhm in Wien erst eigentlich begründen. Als der von Albert Paris Gütersloh und einigen seiner Schüler begründete Art-Club im Herbst 1951 sein Ausstellungslokal Strohkoffer eröffnet und Altmann, Schmied, Okopenko und Weissenborn Lesungen gestattet, wird Artmann mehr und mehr zum wesentlichen Bestandteil des Hauses und beginnt, über den engeren Kreis der Neuen Wege hinaus bekannt zu werden. Wenn es stimmt, daß Artmann sich selbst, nachdem er die ersten drei Gedichte geschrieben hatte, zum Schriftsteller ernannte, als er im amerikanischen Kriegsgefangenenlager einen Fragebogen auszufüllen hatte, so ist die selbstgewählte Kategorie spätestens zu Strohkoffers-Zeiten Kennzeichen seines Persönlichkeitsbildes.
Hat Artmann zwischen 1945 und 1950, nach Dolmetscherjahren beim Amerikaner, hier und da noch Brotarbeit getan, auf dem Bau oder als Statist, so vertrüge sich dies nun nicht mehr mit seiner Existenz und ist ihm bei anderen ein Ärgernis. Er hat begonnen, sein Leben bewußt zu stilisieren und wird bald als lebender Artefakt eines Dichters, seiner selbst, als Dichter ein Kunstprodukt von höchster Natürlichkeit sein. Das erschwert es, über Artmann zu berichten. Ist in der Regel die Person eines Schriftstellers wenigstens teilweise zugleich Schlüssel zu seinem Werk, so ist bei einer so vielschichtig posierenden Figur wie der Artmanns das literarische Produkt in seiner Verschiedenheit Erläuterung, wie er sich begriffen hat, als er es verfaßte: Husar oder Surrealist, Volksdichter oder sich barockisch unterwerfende Kreatur, Agitator oder chinesischer Hofdichter, Weltreisender oder Wiener Vorstadtpoet, ruheloser Wanderer oder stadtbekannter Bürger, Rauf- und Trinkbold oder empfindsamer Lauscher an Nachtigallenschnäbeln, Donaumonarchist mit antisemitischen Neigungen oder anarchistischer Freigeist, galanter Liebhaber oder Carrasco der Schänder. Das um dreihundert Jahre vordatierte Geburtsdatum des Verfassers der Dialektgedichte in hosn rosn baa ließe man durchgehen, ebenso wie variierende Vornamen von Hieronimus Caspar Laërtes bis Hans Carl Laërtes an seiner Wohnungstür im verbleichenden hochherrschaftlichen Hause über Berlins bekanntestem Homophilenlokal in der Kleiststraße. Als Artmann Quirin Kuhlmann, den er auch publiziert hat, und die Barocklyrik für sich entdeckte, wurde er zum Teil selbst zum Barockdichter.
Erst in den letzten Jahren nun hat Artmann seine biographischen Stilisierungsversuche wieder etwas mehr hintan gestellt und die verbleibenden Unklarheiten sind unerheblich. Geburten im nicht existenten St. Achatz am Walde in Niederösterreich, das gemeinhin als Artmanns Geburtsplatz angegeben wird, sind nicht nachprüfbar, verhindern jedoch auch nicht die Sicht. Die Hebamme hat Rosa Maier geheißen, das Geburtszimmer liegt direkt über dem Haustor und ist das kleinere der beiden Zimmer hinter der Küche, die, wie vielfach in Wien, vom Treppenhaus her unmittelbar betreten wird. Wer Artmanns Gedichte med ana schwoazzn dintn aufmerksam gelesen hat, ist bereits auf den Spuren jungenhaften Gassentreibens gewesen. Das Kaiser-König-Edelmann-Bettelmann-Spiel ist erst der literarische Biograph geneigt, dem Meister anzukreiden, wenn von Artmann selbst keine Auskunft darüber zu erhalten ist, wie viel er geschrieben hat, wie es aussah wo sich die Texte heute befinden könnten, wie sich aufgefundene Reste einordnen und so fort. Man ist auf die glaubwürdige Versicherung alter Freunde angewiesen, Artmann sei auch in den Jahren 1950 bis 53 sehr produktiv gewesen, ist erstaunt zu hören, daß umfangreichere Manuskripte, von denen Kopien nicht existierten, versandt wurden und prompt verloren gingen, wird mit Vermutungen über Manuskripte abgespeist, die sich in Archiven von Verlagen, Zeitschriften und Rundfunkhäusern oder bei privaten Liebhabern die ihm zuzeiten seine Manuskripte aus den Händen rissen wie Konrad Bayer, befinden sollen.
Erst für den Zeitraum seit 1954 ist eine wie es scheint vollständige Liste Artmannscher Arbeiten herstellbar. Fast ist man geneigt anzunehmen, es sei nicht Artmann allein, der an einer großen Artmann-Legende häkelt. Es versteht sich zumindest wie es geschehen konnte, daß – zu einer Zeit, als Gerhard Rühm in Wien noch unbekannt war – dort das Gerücht umgehen konnte, es gebe Rühm gar nicht und die angeblich von einem Rühm verfaßten Texte stammten in Wirklichkeit von Artmann, der sich mit Rühm ein alterego dazu erfunden habe, um so mit experimentellen Arbeiten an die Öffentlichkeit treten zu können.
Die Schwierigkeiten der Suche nach dem literarischen Artmann werden durch zwei Momente gesteigert. Das eine ist die Vielzahl der Depots, meist Wohnungen, die Artmann allenthalben und bei Freunden und Freundinnen allerorten errichtet und die hohe Verlustquote, die das Umherreisen und seine genialische Lebensweise bedingen. Das andere ist die unverkennbare Tatsache, daß Artmanns Stärke in den Fragmenten liegt. Oft gewinnt er täglich eine neue Schreibe, beginnt ein neues Stück, eine neue Serie Erzählungen, Märchen, Gedichte. Es fällt ihm einfach zu viel ein. Verwunderlich ist dabei nur die Authentizität jedes einzelnen Textes. Es ist immer Artmann; aber wer ist Artmann?
Der erste literarische Auslandsauftritt der jungen Wiener findet am 25.7.1952 in Bern statt. Sie haben aus eigenen Mitteln einen Raum gemietet. Die Schweizer Schauspielerin und Artmann-Freundin Esther Wirz liest Arbeiten von Jeannie Ebner, Ernst Kern, Okopenko, Schmied und Artmann. Gerhard Rühm, Sohn eines Philharmonikers, Parteigänger des Art-Clubs, bis dahin nur als Klavierspieler und Komponist bekannt, führt seinen „Versuch einer Heiterkeit im Luftschutzkeller“ vor – in Europa beginnt der Frieden vorbeizugehen. Außer Rühm tritt Komponist und Flötist Ernst Kölz auf, der später eine größere Zahl Artmann-Gedichte vertont hat. Die Tournee führt über Winterthur und Basel nach Zürich. Im Spätherbst 1952 beginnt sich der schon erwähnte neue Artmann-Kreis zu formieren, doch überlagert Artmanns Figur wie stets alle Kreise. Die Kontakte zum Autorenkreis der Neuen Wege bleiben mehr oder weniger bestehen oder werden später wieder aufgenommen. Ernst Kein tritt im Januar 1956 der Mundartdichtung bei und Polakovics veranlaßt, daß die Neuen Wege ab Dezember 1954 noch einmal für die Experimentellen unter den jungen Autoren offenstehen, was auch von „Orthodoxen“ wie Rühm wahrgenommen wird und schließlich zum Neue Wege-Skandal führt. Polakovics ist es auch, der aus einigen Papieren, die Artmann in den Rocktaschen herumträgt, die Husarengeschichten und die ihnen anhängenden 25 Epigrammata nebst Pro- und Epilogen zusammenstellt. Artmann hat zu dieser Zeit (Ende 1952) zu den oben erwähnten kurzen Prosastücken eineinhalb Dutzend weiterer, zum Teil einige Schreibmaschinenseiten langer Prosastücke (so viele sind bekannt), wie „Lancelot und Gwynever“, „Phantasmagorische Mythologie“ (aus denen in der Schweiz gelesen wurde), „Überall wo Hamlet hinkam“, „Von einem drachen oder der sturz des ikarus“, sowie einige Barockgeschichten, die auch in den Husarengeschichten enthalten sind, geschrieben.
Auch diesen Texten, mit Ausnahme der Barockgeschichten, ist der phantasmagorische Grundton der Stücke von 1950/51 eigen, der sie in ihre kurze und dennoch überaus poetische Form zwingt, die, als geistiges Exercitium den jungen Österreichern überhaupt sehr zu liegen scheint, und, des stets zu knappen Raumes in Zeitschriften wegen, auch ihre verlegerischen Vorteile hat. Die Stücke sind etwas länger als die früheren, doch überschreitet auch der längste bekannte Text kaum zwei Schreibmaschinenseiten.
Im April 1953 schreibt Artmann die „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“, deren Präambel die bereits aus den Neuen Wegen bekannte, oben zitierte These in ihrer allgemeineren Anwendbarkeit bildet:
Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich den, daß man Dichter sein kann, ohne jemals ein Wort geschrieben zu haben.
Die Mitglieder der Wiener Dichtergruppe, der im wesentlichen Gerhard Rühm (geb. 1930), Konrad Bayer (geb. 1932), Oswald Wiener (geb. 1935), Friedrich Achleitner (geb. 1930) und H.C. Artmann angehören, und die sich nun unter den Aspekten der Artmannschen Proklamation zu konstituieren beginnt, scheren sich wenig darum, daß die Einhaltung der Proklamation: „Der poetische Akt wird vielleicht nur durch Zufall der Öffentlichkeit übermittelt werden!“ – angesichts der ausweglosen kulturpolitischen Situation Wiens ohnedies ihre einzige Möglichkeit ist. Unbekümmert um diese Differenz lebt die Gruppe Artmanns Proklamation und unterwirft sich freiwillig einem vermeintlich selbst auferlegten Publikationsverbot und stößt Artmann gewissermaßen aus, als er mit seiner schwoazzn dintn ein gut gehendes Buch verlegen läßt und mit Literatur Geschäfte zu machen beginnt; was Artmann natürlich nicht kümmert.
Das Jahr 1954 bringt, auch von den vorliegenden Arbeiten her gesehen, die auf Jahre hinaus fruchtbarsten Ansätze. Artmann schreibt die 15 Gedichte der zweiteiligen, unveröffentlichten Sammlung erweiterte poesie. Dabei handelt es sich um Lautgedichte unter Verwendung fremdsprachiger Ausdrücke, verbaler Neuschöpfungen, Lautsilben u.a.m., die unter Verzicht auf grammatikalische Regeln und die Metaphorik der früheren Gedichte den Auftakt für jene sprachlichenVersuche bilden, die zu derart verschiedenen Ergebnissen, wie den Dialektgedichten, den Barockgedichten und, in jüngster Zeit, den Gedichten der Sammlung flaschenposten geführt haben. Ebenfalls im Jahre 1954 beginnt Artmann die umfangreichste seiner bekannten Gedichtsammlungen Reime Verse Formeln, die auszugsweise in Der Bogen Nr. 4, 1961, bei F. Kleinmayer in Klagenfurt und als Ganzes in einer längst verschollenen hektographierten Ausgabe des österreichischen Rundfunks in Wien erschienen ist. Die Sammlung diente Artmann sowohl als Auffang für früher entstandene einzelne Gedichte, wie auch für Gedichtzyklen, wie die Bösen Formeln, die treuherzign Kirchhoflieder, die Lieder zu einem gutgestimmten Hackbrett, einen Zyklus Liebesgedichte, Soldatenlieder u.a.m., die eine gewisse kontinuierliche Arbeit an gewissen Themen oder bestimmten Formen verraten. Die Sammlung ist recht vielfältig in Qualität, Aussage und Stimmung und, wenn man sagen will, über weite Strecken noch dem frühen Altmann zuzurechnen. Andere Passagen verraten jedoch bereits das Raffinement, das Erfahrung durch Lesen, Vergleichen und langdauernde Anwendung von großer Begabung mit sich bringen. Die geschickt verhaltenen frivolen Liebesgedichte sind von großer Poesie und die barockisierenden, manierierten, treuherzigen Kirchhoflieder auf Tod, Vergänglichkeit und Angst vor dem Altern fügen sich ohne weiteres in den Zusammenhang des gesamten Werkes. Fast allen Gedichten der Sammlung haftet Sprach-spielerisches, aber auch mit den Gegenständen Spielendes an. Wo ein ICH zum Ausdruck kommt, ist es zumeist verkleidet. Die Sammlung ist auf diese Weise sehr österreichisch, freilich nicht derart, wie das Wort von den besorgten Altvätern verstanden wird. Schließlich enthält die Sammlung leicht dahin gesprochene, pointierte Verse, deren einige Günter Bruno Fuchs in seine 1964 erschienene Anthologie Die Meisengeige aufgenommen hat.
Wollte man versuchen, die literarische Entwicklung Artmanns zeitlich zu gliedern, so hätte man im Jahr 1954 das Ende einer frühen Phase zu sehen. Zugleich könnte man sagen, Artmann habe nun alle die schriftstellerischen Erkenntnisse gewonnen und Möglichkeiten an der Hand, die er bis heute auf vielfältige Weise entfaltet hat, so daß sich immer wieder Brücken schlagen lassen, von dem, was er heute tut zu dem, was er vor zehn oder zwölf Jahren getan hat. Es ist bezeichnend, daß sich außer den vier treuherzigen Kirchhofliedern in der Walter-Auswahl auch die ebenfalls 1954 entstandenen „epitafe“ und die „sieben lyrischen verbarien“ befinden. Mit den lyrischen Verbarien von 1954 hat sich Artmann im gleichen Jahr, in dem die ersten Dialektgedichte entstehen, zugleich einer weiteren, experimentellen Schreibweise zugewandt. Ebenfalls experimentellen Charakter haben die Inventionen, die vor allem auch von Konrad Bayer und Gerhard Rühm, zum Teil in Gemeinschaftsarbeit, hergestellt wurden. Den Begriff hat Konrad Bayer als ein literarisches Verfahren definiert, bei dem ein Wortstock- Verbarium – nach verschiedenen Prinzipien, wie mathematischen Reihen oder ähnlichem durchgeführt wird. Das Verfahren war allerdings keine bodenständige Wiener Entdeckung. Es wurde vielmehr nach Wien von dem chilenischen Maler Ivan Contrera Brunet gebracht und dann von Artmann und anderen, wie zum Beispiel dem Bildhauer, Konstruktivisten und nunmehrigen Op-Maler und Wiener Bloomsday-Demonstranten Marc Adrian weitergeführt, wobei Artmann, seiner freischweifenden, nicht zu Konsequenzen neigenden Art entsprechend, die Methode nur locker anwandte und zugleich poetisierte.
1955 schreibt Artmann, kurzzeilig und zum Teil sehr lang, „Die ausnehmend schönen lieder des edlen caspar oder gemeinhin hans wurstel genannt“, ferner einige Einzelgedichte, ein Manifest gegen die Bewaffnung Österreichs, die ersten der 25 Epigrammata, sowie eine Anzahl Theaterstücke, wie das von Artmann selbst sehr geschätzte aber verloren gegangene Stück: Der tod eines leuchtturmwärters – eine imaginäre Handlung, den kurzen Einakter die schwalbe, das Mysterium die ungläubige colombine, das in der katholischen Studentenbühne Die Arche, Wien, aufgeführte Casparstück die mißglückte luftreise, den allenthalben gelobten, jedoch verschollenen szenischen Dialog lob der optik, das kürzlich in den Eröffnungen abgedruckte Kurzstück nebel und blatt und andere Stücke. Bereits 1954 hatte Artmann sein abendfüllendes Casparstück Kein Pfeffer für Czermak geschrieben und mit ihm absurdes Theater in die Heiligenstädter Welt eines Greißlers, wie die Kolonialwarenhändler dort genannt werden, verlegt, makaber gewürzt, so daß das Wort in der Zeit noch 1965 dieses Stück unter das Motto Wienerisches von Nestroy bis Artmann stellen und einer Nestroyschen Posse zur Seite setzen konnte. Artmann hatte die Szene „la cocodrilla“ und die Rühm gewidmete „fahrt zur insel nantucket“ geschrieben, ferner das Halbstundenstück aufbruch nach amsterdam, so daß nun, 1955, ein Dutzend verschieden langer und auch verschieden guter und spielbarer Stücke vorlagen.
Im Jahre 1956 beginnt emsiges Montieren. Es entstehen einige der für die Wiener Dichtergruppe typischen Gemeinschaftsarbeiten. Vorgefundene Textteile aus Lexika, Lehrbüchern und anderen Wortreservoiren werden neu geordnet, montiert sagt man, und ermöglichen so genialische Würfe wie Konrad Bayers Der Kopf des Vitus Bering. Artmann und Bayer montieren, nach dem Vollständigen Lehrbuch der böhmischen Sprache von Heinrich Terebelsky von 1830: „vollständiges lehrgedicht für deutsche, elf verbarien“; ferner, zusammen mit Rühm: „magische kavallerie“. Artmann alleine montiert „kleine percussionslehre“, „anatomie und linearperspektive der melone“, vergegenständlicht jedoch, wie zuvor schon den Inventionismus und die Dialektdichtung, auch die Technik der Montage und schreibt intuitive Montagen wie die „elegische ode an den kaiser krum“.
1957 kommt es bei den Neuen Wegen, die seit 1955 wieder, und zwar immer noch das im wesentlichen einzige, Organ der jungen Wiener Schriftsteller sind, zum Literaturskandal. Anlaß ist das Maiheft, das neben konventioneller Lyrik, wie zwei Gedichten von Christoph Meckel, auf den Seiten neun bis elf experimentelle Texte von Ernst Kein, Gerhard Rühm und Ernst Jandl bringt und zwar vornehmlich ungegenständliche Dialektdichtung, ein zweifaches Sakrileg also. Der Vorstand des Theaters der Jugend, Heinrich Neumayer, versucht im Juni-Heft zwar eine Rechtfertigung, verspricht auch, man werde in Zukunft das Experimentelle deutlich als solches kennzeichnen und läßt fast die ganze Mannschaft progressiver Autoren antreten, um zu dokumentieren, daß hier Dinge im Schwange sind, die eine Auseinandersetzung erfordern und die personale Breite der literarischen Veränderungen anzudeuten. Aber nach den großen Ferien erscheinen die Neuen Wege im Herbst 1957 endgültig sauber und der verantwortliche Redakteur Friedrich Polakovics wird im Impressum nicht mehr erwähnt. In Wien soll die künstlerische Diskussion auch weiterhin unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden. Die Neuen Wege gewinnen erst eingangs der 6oer Jahre mit dem Literaturkritiker Gerald Bisinger wieder einen ernstzunehmenden Lyrikredakteur und werden damit in den Stand gesetzt, noch einmal einen zwar knappen, jedoch bedeutsamen Lyrik-Teil zu präsentieren, allerdings ohne je wieder so explosiv zu wirken wie 1950 bis 1951 und 1957, und dann auch nur, bis Bisinger u.a. wegen Gedichten von Hubert Fichte und Patricio Artmann gemaßregelt, den Dingen ihren obrigkeitsgefälligen Lauf läßt.
Der biographische Faden. Artmann und sein älterer Sohn Patricio mit schulterlangem Haar, zwölfjährig und ebenfalls schon ein kleiner Gedichteschreiber, leben noch immer bei Artmanns Mutter in Breitensee. Jeden Morgen nach Beendigung der Kaffeehaus-, Keller- und Kneipenexercitien wandert der Meister heimwärts ans Ende der Kienmayergasse mit Blick auf die Hänge des Wienerwaldes. Er lebt seit Jahren von Arbeitslosenunterstützung, die man ihm erst streichen wird, als die schwoazze dintn sich als ein Erfolg erweist. Die Aktivitäten der Wiener Dichtergruppe gehen hoch hinaus und kulminieren in diesem Sommer 1957 in einer sechsstündigen Lesung, die Dichter schwarz vor schwarz, im Intimen Theater Gerhard Bronners in der Liliengasse. Münchner Scharfrichtertum nach Wien verlegt feiert Urständ, aber viel literarischer, angeklagt ist das Publikum. Artmann verschwindet jeweils, wenn er Sprechpause hat und kehrt von Mal zu Mal trunkener zurück, zu spät wird eine Fünfliterweinflasche in den Kulissen entdeckt.
1958 erscheint Artmanns med ana schwoazzn dintn, eingeführt von Hans Sedlmayer und von Friedrich Polakovics sorgfältig exegiert. Er weist bereits auf die Folgerichtigkeit des Weges via Lorca, Joyce, sinnfreies Lautgedicht, erweiterte Poetik hin und macht auch auf das eigentlich moderne dieser Dialektdichtung aufmerksam: Artmann dichtet nicht nur im Dialekt, sondern vor allem auch mit ihm. Experiment und gegenständlich gebundene Phantasie halten sich, wie immer bei Artmann, die Waage. Die neue Schreibe ist unerhört erfolgreich. Wien entdeckt über sie seinen Dichter, oder tut wenigstens eine Zeit lang so. Der Expreß schreibt:
da neiche dichta aus bradnsee. Die Geschichte eines Lyrikers, der nicht verhungert ist, sondern sich erfolgreich durchgehungert hat. Die Geschichte eines Dichters, der sich nicht für die ,domschakbiachln‘ geniert, die er als Bub gelesen hat. Die Geschichte eines Mannes, der die Leute über den Dialekt wieder zur Poesie gebracht hat.
In Wien hält man das Hungern immer noch für die einem Schriftsteller angemessene Mahlzeit. Artmann erhält Honorare und glaubt, er sei reich. Er beginnt den Traum des populären Volksdichters. Jeder Trambahnschaffner, der ihn grüßt, ist eine Bestätigung. Er ist stolz und vergleicht sich mit Nestroy und Raimund. Der Kurier räumt ihm eine wöchentliche Spalte ein, die er mit Stadtskizzen und surrealen Geschichten füllt. Die Stadt Wien macht eine Gemeindewohnung frei, aus der er freilich nach einiger Zeit relegiert werden muß. Das Fernsehen gibt Stücke in Auftrag: Das Donauweibchen und Der Grasl, das ist ein berüchtigter historischer Räuberhauptmann. Eine Vorstadtballade, an Ort und Stelle zu drehen, wird geplant, aber irgendein Bauamt läßt den ganzen Stadtteil abreißen, ehe es zu Dreharbeiten kommt. Artmann empfindet das erste Mal die Wichtigkeit, als Kind in einer auslegbaren, besonderen personalen und räumlichen Umgebung aufgewachsen zu sein.
Seine seither geschriebenen Gedichte sind „wesentlicher“ und weniger manieriert als frühere Arbeiten, wenngleich sich der schwarze Humor gerade der Dialektgedichte in einer Anzahl jüngst entstandener Arbeiten, wie seinem Menschenfresserroman oder in grausamen Kinderreim-Versen mit dem Titel allerleirausch, die Helmut Qualtinger nach der Musik von Fatty George singt, leicht wiederfinden läßt. Die literarischen Vorfeldarbeiten, die Artmann nun um Ruhm und Geldes willen auch annimmt, machen zugleich deutlich, daß Artmanns Stärke bei aller Leichtigkeit doch immer nur im Bereich hoher Literatur liegt. Insoweit schließt das Jahr 1958 eine weitere Entwicklungsphase ab. Artmann schreibt sein „40 persische quatrainen“, „ein kleiner diwan“, von denen einige nicht mehr auffindbar sind und andere in der Folgezeit veröffentlicht werden. Die Zeit der intensiven Zusammenarbeit in der Wiener Dichtergruppe ist vorbei. Die Proklamation von 1953 ist vergessen, wenn auch die Gesten die gleichen geblieben sind. Ernst Kölz und Fatty George vertonen Artmanns Dialektgedichte, Qualtinger singt sie.
1959 erscheinen hosn rosn baa, eingeleitet von Doderer, Der Schlüssel des heiligen Patrick und die Husarengeschichten – eine Sammlung von 26 in Stil und Anmerkungen konsequent barockisch durchgehaltenen Erzählungen von derben Scherzen, Liebes- und Hexengeschichten. Die seither vergangenen Jahre, in denen Artmann auch in Westdeutschland mit steigender Aufmerksamkeit rechnen konnte, beanspruchen weniger Erläuterungen.
Seit Beginn der 6oer Jahre hat Artmann ein halbes Dutzend Bücher übersetzt, unter anderem auch Villons Testament ins Wienerische übertragen, gesprochen von Qualtinger mit der Musik von Fatty George, und sich damit den falschen Ruhm eingetragen, seine wirkliche Bedeutung liege in seinen Übersetzungen – falsch, weil ungerecht einschränkend. Er hat ein weiteres halbes Dutzend zum Teil abendfüllender Theaterstücke geschrieben und in mehreren Heften Gedichte gesammelt, in denen sich eine neue Sprache, zum Teil an die Gedichte von 1950/51 und 1954 geknüpft, ankündigt: die 1960 in Kärnten entstandenen Liebesgedichte in meine klinge zu ritzen, die 1962 in Berlin entstandene Sammlung hirschgehege & leuchtturm – aus beiden Sammlungen sind wichtige Stücke in der Auswahl des Walter Verlages enthalten – neben einer ganzen Anzahl von Einzelgedichten die bereits erwähnten, 1964 in Berlin geschriebenen Gedichte flaschenposten, die Momente der erweiterten Poetik wieder aufnehmen und eine Anzahl neuer Inventionen. Von den zahlreichen begonnenen und zum Teil umsonst auf ihre Vollendung wartenden Prosaarbeiten sind vor allem der in Lissabon spielende moderne Schelmenroman, eine Sammlung kurzer Prosastücke mit dem Titel Neunzig Träume und die Prosasammlung Fleiß und Industrie zu nennen, ferner eine Robinson-Parodie. Abgeschlossen sind der Dracula, ein kürzlich im Diskus veröffentlichter Menschenfresserroman, die sehr herzhaften Märchen u.a.m.
Ich sagte: der Name Artmann liegt schon auf der Zunge. Artmanns suchen nach dem gestrigen tag wurde letztes Jahr zum Buch des Monats Februar gewählt. Berliner und Kölner Galeriebesitzer haben mit mehr als zehn Jahren Verspätung die Überlebenden der Wiener Dichtergruppe eingeladen. In Konrad Jule Hammers Theater auf dem Dach des Europa-Centers bringt die szenisch-oratorische Aufführung des Drarula unter Mitwirkung des Meisters als Graf Dracula und eines Dutzends seiner Freunde trotz tropischer Hitze im proppenvollen Saal nur einen einzigen (ohnmächtig gewordenen, weiblichen) Zuschauer ins Wanken.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bedient sich Artmanns Kenntnis entlegener Literaturgebiete, um eine Ausgabe der Gedichte Carl Michael Bellmanns zu rezensieren. Das Wort in der Zeit bildet auf der Umschlagseite einer Sondernummer im Januar 1965 Bayer, Rühm, Artmann, Okopenko, Jandl, die Mayröcker und andere ab und publiziert im Heft Mai 1965, elf Jahre nach seinem Entstehen, Kein Pfeffer für Czermak; die in Wien erscheinenden Eröffnungen sind seit 1961 eine kleine Fundgrube Artmannscher Texte. Ein lokales Ereignis wird eingegliedert: Literatur in Wien und H.C. Artmann. Im Rückblick wird deutlich, daß durch alle Auffächerungen ein Kontinuum schimmert, das freilich primär irrational ist und sich an die Person des Autors knüpft.
Peter O. Chotjewitz, 1966, aus Der Landgraf zu Camprodon. Festschrift für den Husar am Münster Hieronymus Caspar Laërtes Artmann. Herausgegeben von seinen Freunden Gerald Biesinger [sic!] und Peter O. Chotjewitz, Verlag Ulrich Ramseger, 1967
Vorwort
Teil I
Peter O. Chotjewitz: Der neue selbstkolorierte Dichter
Reinhard Prießnitz: Hans Carl Artmann
Teil II
Wieland Schmied: Der Dichter H.C. Artmann
Otto F. Beer: Lyrik aus Breitensee
Gerhard Fritsch: „A xunz lamentawö“ – „Fabindunxbaun en otagring“?
Humbert Fink: „Verbarium“
Herbert Gamper: Clownerien und Sprachalchimie
Uwe Herms: Proteus mit der Chrysantheme
Karl Krolow: Bin ich eine fröhliche Hummel?
Helmut Mader: „Fleiß und Industrie“
Hans Egon Holthusen: Singsang mit Höllengelächter
Wolfgang Maier: Bizarrer Liebhaber der Poesie
Jörg Drews: Die neuesten Kunststücke des H.C. Artmann
Gerald Bisinger: Stallo der Menschenfresser
Lothar Romain: „Die fahrt zur insel nantucket“
Ludwig Harig: Das tut er dem Theater an
Jürgen P. Wallmann: Artmanns frühe Fantasmagorien
Wolfgang Maier: Die Pose in ihrer edelsten Form
Florian Fälbel: Selbstentfachter Feuerwerker, später abgeduscht
Wolfgang Maier: „How much, schatzi?“
Rolf Haufs: „How much, schatzi?“
Teil III
Wieland Schmied: Masken, Mystifikationen, Mödling
Sergius Golowin: Zeit-Reisende umsteigen! Bern 1951–1953
Urs Widmer: Über H.C. Artmann
Josef Hiršal / Bohumila Grögerová: Begegnung mit Artmann
Jörg Drews: Ein Herbst in Schweden
Karl Riha: Ein patagonischer Aviatiker
Mechthild Rausch: Punch und Putschenelle
Anhang
Vita
Bibliographie der Werke H.C. Artmanns
Bibliographie der Arbeiten über H.C. Artmann
Quellennachweise
Ich finde es so wichtig, dies auch alles aus der magischen warte zu betrachten, die ja schließlich & end!. die meine ist.
H.C. Artmann (Aus einem Brief, dieses Buch betreffend)
„Auch Artmanns Leben gehört zu seinen Dichtungen, es ist ein großangelegtes Gedicht“, schreibt Urs Widmer, der ursprünglich einen Aufsatz über Artmanns Lyrik liefern wollte, schließlich aber kapitulierte, da ihm „die reale Person Artmann immer wieder in die Quere gekommen war“; sein Beitrag heißt jetzt schlicht Über H.C. Artmann. Widmer spricht aus, was sich in nahezu allen Rezensionen zeigt, aber auch in den ausführlichen Originalbeiträgen zu diesem Band: die reale Person, oder zumindest die sagenhafte Figur Artmann, kommt denen, die über seine literarischen Arbeiten schreiben wollen, immer wieder in die Quere. Vorläufig jedenfalls ist Artmanns Person so intensiv mit dem Werk verbunden, daß sich eine nüchtern literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise zu verbieten scheint. Am weitesten dringt in diese Richtung Mechthild Rausch vor, die pars pro toto Artmanns Adaptionsfähigkeit älterer Texte vorstellt.
Artmann selbst liegt mehr an „Magie“ und „Mystifikation“, denn an rationaler Aufklärung. Und so sei an dieser Stelle als hommage an diese Haltung vermerkt, daß ein fest versprochener germanistischer Aufsatz von Otto Lederer, der den Titel „Kalkül der Phantasie. Zur Textrealisation bei H.C. Artmann“ tragen sollte, innerhalb einiger Monate, obwohl jedes Mal expreß und per Einschreiben aufgegeben, zwischen der alten Kaiserstadt Aachen und der Insel West-Berlin verloren gegangen ist.
Will man dennoch eine aufklärerische Attitüde in Sachen Artmann beibehalten, so muß die kulturelle Situation im Österreich der Fünfzigerjahre beschworen werden, besonders wie sie von Gerhard Rühm im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band Die Wiener Gruppe beschrieben ist. Mangelnde Publikationsmöglichkeiten, Verbannung in die Intimsphäre des Freundeskreises, der sich in Kellern, Caféhäusern, Ateliers und Wohnungen traf, scheinen bei Artmann die Reaktion ausgelöst zu haben, sich als Artefactum zu stilisieren, sich seiner Umwelt selbst als Kunstwerk entgegenzustellen: nicht allerdings ohne zu expandieren und seine Freunde in eine Kunstwelt hineinzuverzaubern.
Die „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ von 1953 ist in dem Lyrikband Ein lilienweißer brief aus lincolnshire ebenso vollständig nachzulesen wie in dem Band Die Wiener Gruppe; es sei darauf verzichtet sie zu zitieren. Artmann hat sich innerhalb des Freundeskreises der Wiener Gruppe seine Einzelposition gewahrt, und er hatte sie inne, ehe es diesen Kreis gab, und er hat sie bis heute nicht aufgegeben. 1966 schreibt Peter O. Chotjewitz über Artmann:
Er weigert sich, die Pflichtübungen der literarischen Gesellschaft zu absolvieren.
Und Urs Widmer stellt 1971 fest:
Es gab Artmann auch in den Fünfzigerjahren, aber weil es nicht geben kann, was es nicht geben darf, wurde er nicht wahrgenommen. Man muß sich schon einmal bewußt werden, daß Artmann die Mehrzahl seiner Arbeiten schon geschrieben hatte, als die Gruppe 47 erst ihre größten Stunden zu feiern begann. Heute natürlich ist er nicht mehr zu entdecken, und der nivellierende Druck derer, die wissen wie Kunst auszusehen hat, scheint etwas abgenommen zu haben. Vielleicht wird trotzdem gerade ein anderer, unbekannter Artmann von ihm erdrückt.
Nach dem spektakulären Erfolg der Wiener Dialektgedichte med ana schwoazzn dintn wurde Artmann gern, und das war gewiß auch bequem, als kurioser Dialektdichter etikettiert. Als 1959, im Jahr nach dem Erscheinen der Sammlung der Dialektgedichte seine barockisierten Geschichten Von denen Husaren und anderen Seil-Tänzern herauskamen, wurden sie von der Kritik ignoriert oder bagatellisiert. Auch Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken wurde 1964 noch kaum beachtet, und Peter Bichsel schickt seiner Auswahl von Artmann-Gedichten Verbarium 1966 ein entschuldigendes Nachwort hinterher, in dem es im letzten Absatz heißt:
Vielleicht wird es doch ein Buch, das man unter der Bettdecke liest, das man liebt und dessen man sich ein bißchen schämt.
Hier sei darauf hingewiesen, daß H.C. Artmann bereits 1956 mit hochdeutscher Lyrik in Walter Höllerers Anthologie Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte vertreten war.
Vielleicht wird es plausibler, daß Artmanns – jedenfalls ja faszinierende – reale Persönlichkeit Kritikern und Essayisten bei ihrer Arbeit im Wege steht, wenn man bedenkt, daß Artmann, gewohnt für einen Kreis persönlicher Freunde zu schreiben, sich immer neue Freundeskreise auftat, ob in Wien, oder später in Frankfurt, in Berlin, Graz, Rennes oder in Zürich, und daß jahrelang kaum jemand über ihn schrieb, der nicht vorher Manuskripte von ihm in der Hand gehabt oder ihn vorlesen gehört hatte. Artmann hat seine Spezialisten, hat intime Kenner seines Werks, und das sind, seiner spezifischen Situation entsprechend, gleichzeitig: persönliche Freunde.
Erst jetzt, da man Texte von Artmann in wohlfeilen Taschenbuchausgaben erwerben kann, da seine Publikationen erklecklichen Raum im Bücherregal einnehmen, ist zu erwarten, daß sich strenge Literaturwissenschaft mit seinen Arbeiten auseinanderzusetzen beginnt. Wenn dieses Buch mit dazu einen Anstoß liefern könnte, erhielte es eine wesentliche Rechtfertigung. Es zeigt Ansätze und Möglichkeiten, führt Leser und potentielle Leser näher an Artmann und sein Werk heran und stellt dem Wissenschaftler Material und bisherige Ergebnisse vor.
Die im Anhang veröffentlichte vita geht auf Notizen zurück, die ich mir im Verlauf eines ausführlichen Gesprächs mit Artmann gemacht und denen ich nur die chronologische Folge aufgeprägt habe. Ich glaube, daß er in diesem Gespräch, so weit es ihm überhaupt möglich ist, auf Mystifikationen verzichtet hat, bin andererseits nicht in der Lage, seine Auskünfte genau zu überprüfen und gestehe seiner Hartnäckigkeit den poetischen Geburtsort St. Achatz am Walde zu.
Gerald Bisinger, Mai 1972, Vorwort
trotz seines Erfolges nach wie vor ein Außenseiter und weithin Unbekannter der deutschsprachigen Literatur. Man weiß von ihm, daß er ein wichtiges Mitglied der Wiener Gruppe war, daß er Dialektgedichte und Theaterstücke schrieb und neuerdings vor allem Prosa, und daß er viel auf Reisen ist. Sein Werk, mehr noch seine Person wurden zur Legende. Dagegen versucht dieser Band, Materialien zu seinem literarischen Werdegang zu sammeln. Die Rezensionen dokumentieren diesen Weg. Peter O. Chotjewitz und Reinhard Prießnitz zeigen in ihren Arbeiten Zusammenhänge auf. Und in den Originalbeiträgen von Jörg Drews, Josef Hiršal / Bohumila Grögerová, Karl Riha, Mechthild Rausch, Wieland Schmied, Sergius Golowin und Urs Widmer kommt das zur Sprache, was bislang unerwähnt blieb oder durch die Legende verdeckt wurde. Eine umfangreiche Primär- und Sekundärbibliographie beschließt den Band.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1972
Der Mond isst Äpfel… sagt H.C. Artmann. Die H.C. Artmann-Sammlung Knupfer
Clemens Dirmhirn: H.C. Artmann und die Romantik. Diplomarbeit 2013
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)
Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021
Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021
Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021
Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021
Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021
Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021
Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021
Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021
Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021
Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021
Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021
Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021
Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021
Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021
Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021
Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021
Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021
Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021
Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021
Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021
„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021
Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus
Lovecraft, save the world! 100 Jahre H. C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021
Sprachspiele nach H. C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme
Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.
H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.
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