GRUBENGAUL
Das ganze Leben hielten sie dich im Finstern.
Und, so wie dich, deine Väter Jahrhunderte lang.
Jetzt sagen sie Wahrheiten dir, und du glaubst daran nicht,
sie führen dich ans Licht, aber du siehst nicht.
Im Finstern bist du erblindet, Grubengaul,
und kaum noch Leben ist in dir.
Ich lernte Gerardo Vacana im Oktober 2007 kennen. Er hatte mich zu der von ihm 1993 gegründeten, alljährlich stattfindenden literarischen Veranstaltung Incontro Internazionale di Poesia di Alvito e Val di Comino eingeladen. Ich kannte und schätzte die Gegend Italiens, die „Ciociaria“, wo dieses traditionsreiche Festival stattfand, seit meinem Aufenthalt im Jahr 2005 im Domus Artium, dem österreichischen Künstleratelier in Paliano, nahe Rom, und nahm daher die mich überdies ehrende Einladung gerne an. Der in diesem Jahr 80-jährige Vacana, ein kleingewachsener, quirliger Mann, überraschte mich – und wahrscheinlich alljährlich alle Teilnehmer von neuem – durch seine charismatische Omnipräsenz bei jedem einzelnen der Ereignisse des Literatentreffens und durch seine begeisterte und begeisternde Liebe zu „seinem Tal“, zu seiner Heimat, der „Ciociaria“.
Da ich den Sinn der Teilnahme an einem literarischen Treffen nicht darin sehe, ein paar Kurzlesungen hinter mich zu bringen, mit Autoren aus verschiedenen Ländern über Literatur zu plaudern, meine Bücher zu verteilen, an opulenten Essen teilzunehmen und dann wieder nach Hause zu fahren (Reisespesen vergütet!), bin ich immer bestrebt gewesen, bei derartigen Veranstaltungen Freundschaften zu schließen oder wenigstens professionelle Kontakte herzustellen, z.B. Übersetzungen mit dem Ziel einer Publikation anzuregen – auch wenn derartige Projekte zwangsläufig immer unhonoriert bleiben.
Ich bin kein professioneller Übersetzer. Ich übersetze, was mich zum Übersetzen reizt, vor allem aber, wenn es sich wesentlich von der Eigenart meiner Texte unterscheidet. Gerardo Vacanas Gedichte allerdings entsprechen in manchen ihrer Eigenheiten doch dem, was in meinen Augen ein Gedicht sein soll. Es ist also kein Zufall, daß ich aus seinen Büchern, die mir Vacana vor meiner Abreise überreicht hatte, spontan den Band Cavallo di Miniera aus dem Jahr 1974, Vacanas „opera prima“, zum Übersetzen auswählte: Gedichte aus den Jahren 1967 bis 1973.
In der Widmung hatte Vacana geschrieben „A H. questo mio primo ingenuo libretto di malamato e di malamati (come Apollinaire), (…) (Für H. mein erstes aufrichtiges (unbefangenes) Buch von einem Ungeliebten über Ungeliebte (wie bei Apollinaire), (…)). Was mich an dieser Sammlung von Gedichten anzog und anrührte, war zum einen eben jenes „ingenuo“ (= arglos, naiv) und das „malamato“ (das Ungeliebte), zum andern vor allem aber der schlichte lyrische Diskurs, dessen Thematik konsequent dem Materiellen, Physischen verhaftet bleibt und sich in keiner Zeile zum didaktisch Metaphysischen versteigt. Vacana verfällt in diesem Buch nie in den poetisierend „hohen Ton“; er geht jedem Aufblasen der Wörter ins vage Bedeutungsträchtige aus dem Weg, kommt fast ohne Bilder aus, vermeidet es jedenfalls, gesuchte Wörter, um Originalität bemüht, zu kombinieren, die am Ende weder eine nachvollziehbare Metapher noch ein einprägsames Bild ergeben.
In den ersten vier Abschnitten des Bandes Cavallo di miniera werden die Themen – die übrigens auch in den folgenden Gedichtbänden programmatisch vorherrschen – vorgestellt:
1. Das soziale Engagement: „Grubengaul“: Vacana schreibt zu dem Begriff „Grubengaul“ in einer Anmerkung in der italienischen Originalausgabe: „In den Kohlengruben Belgiens wurden bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für gewisse Arbeiten Pferde eingesetzt, die, weil sie lange im Finstern blieben, blind wurden. In diesem Buch steht der Grubengaul als Symbol für jemanden, der, gezwungen, unter unnatürlichen und entfremdenden Bedingungen zu leben, sich letzten Endes an diese Situation anpaßt und sich der erlittenen Gewalt nicht mehr bewußt ist.“ Der „Grubengaul“ ist also Symbol. Konsequent befaßt sich der Autor in den auf das Titelgedicht folgenden Texten mit den vom Leben Geschädigten, Benachteiligten.
2. Die Landschaft: „Mein Tal“: Eines der wichtigen Themen Vacanas, seine Liebe zur Heimat, zur „Ciociaria“, die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft, der Bezug des Werks zur kulturellen Tradition dieser Region.
3. Die Liebe: „Liebesverse“: Eine Art mehrteiliger „Canzoniere“ über das Unglück einer Liebesbeziehung, eine Folge von Gedichten, die als in der Tradition Petrarcas stehend gesehen werden kann.
4. Religiosität (in einem sehr weitgefaßten Sinne): „Gebet“: Eine Gruppe von Texten mit Betrachtungen über das Leben des Dichters, seine Herkunft, über Familien- und Gemeinschaftsleben…
Der 5. Teil des Bandes, eine Sammlung satirisch-kritischer Epigramme, die durch ihre Zeitbezogenheit und ihre Privatheit für den deutschsprachigen Leser von eher geringem Interesse ist, wird in dieser Übersetzung weggelassen.
Ein Beispiel: „Tra Luca ed un eunuco / ecco la differenza: / l’eunuco le palle le ebbe, / Luca fu sempre senza“. – „Zwischen Luca und einem Eunuchen ist die Differenz die: / der Eunuch, der hatt’ einmal Eier, / Luca, der hatte die nie.“
Der Dichter (7 Bände Lyrik, zuletzt L’ORTO, 2008), Übersetzer und Essayist Gerardo Vacana wurde am 28. Februar 1929 in Gallinaro (Frosinone) geboren, wo er auch heute mit seiner Familie lebt. Er schloß sein Studium der Literatur in Florenz mit einer Dissertation über Madame de Lafayette ab. Er lebte und unterrichtete einige Zeit in Belgien und in Frankreich.
In seine Heimat zurückgekehrt, wirkte er lange Zeit als Lehrer, als Direktor einer „Scuola Media“ und eines „Liceo classico“. Seit jeher engagiert sich Vacana in der Provinz von Frosinone, deren Vizepräsident er einige Zeit war, für die Kultur der Region. Er ist der Gründer und Präsident des Literaturpreises Val di Comino (unter den Preisträgern der letzten Jahre: Claudia Magris, Giuseppe Bonaviri, Valerio Magrelli) und des alljährlich im Oktober stattfindenden Incontro Internazionale di Poesia di Alvito e Val di Comino. Seine zahlreichen Bände mit Lyrik wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Im Jahr 2000 wurde Vacana mit dem in der Schweiz verliehenen Preis Blaise Cendrars für Dichtung ausgezeichnet.
Hans Raimund, Hochstraß, im Juni 2009, Vorwort
David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015
Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.
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