Gerardo Vacana: La luce assai di Buon‘ora – Frühlicht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gerardo Vacana: La luce assai di Buon‘ora – Frühlicht

Vacana/Ikenmeyer-La luce assai di Buon‘ora – Frühlicht

VERZWEIFLUNG MIT KODEX UND MORAL
für Giorgio Bàrberi Squarotti

Die Verzweiflung
hat ihre eigene Moral,
einen Kodex, der respektiert werden muss.
Zahlreich sind die Fälle,
für die sie Atempausen
und Aufschübe vorsieht.
Sie anerkennt gewisse Verpflichtungen,
sie kennt die Pflichten des Gesetzes
und die des Gewissens.
Sie hat besondere Achtung
vor den niedrigsten Arbeiten,
aber sie lässt der Phantasie Raum,
dem Studium, der Meditation.
Die Utopie
und Planungen
für die Stadt der Zukunft entzücken sie.
Sie lächelt gutmütig
über listige Spiele,
sie verschwindet diskret
in heiklen Momenten.
Sie kennt das Fair-play.
Sie ist gewiss
auf Seiten des Menschen
und gegen die unerbittliche
oder kapriziöse Natur.
Das Feuer entzünden
bei klirrender Kälte,
die Fensterläden schließen
vor einem Unwetter:
das sind kurze,
aber sichere Pausen.
Ein Bad nehmen,
sich rasieren, ebensolche
Augenblicke der Rast.
Sie ist sensibel,
was Fragen der Dezenz betrifft.

 

 

 

Vorwort

Ich verdanke Gerardo Vacana sehr viel: zum Beispiel die Entdeckung eines der verstecktesten und wunderbarsten Winkel Italiens, das Val di Comino, sodann eine großzügige und diskrete Gastfreundschaft, sowie einen beispielhaften und leidenschaftlichen zivilen und politischen Einsatz zur Verteidigung eines Landstrichs, den Interessen und Spekulationen immer mehr einzuschränken drohen. Und ich verdanke ihm auch das rare und pünktliche Geschenk einer lang durchdachten und schmerzlich erlittenen Dichtung, sozusagen mehr Kontrapunkt als Kommentar zu einer Existenz von antikem Maß und Weisheit.
Das neue Buch, das den Titel La luce assai di buon‘ora (Frühlicht) trägt, ist in drei Teile gegliedert, die sich stark voneinander unterscheiden: der erste Teil, der der ganzen Sammlung den Titel gibt, ist essentieller, klarer, rigoroser Ausdruck einer luziden Moral, die die Form bitterer Sentenzen annimmt, verstärkt durch rasche, nahezu atemlose Verse, die wirken, als seien sie vom Schatten einer trostlosen Tragik berührt; der zweite Teil hingegen, der den Titel „Ein neuer Freundeskreis“ trägt, ist ganz privat, weitgehend umgangssprachlich gehalten und zu Herzen gehend, wenn vom Familienleben und dem Frohsinn der Kinder die Rede ist; der dritte Teil wird von einigen übersetzten Texten des französisch-belgischen Dichters Marcel Paquot gebildet, die alle durchdrungen sind von einer tiefen Religiosität, die sich besonders in der bestimmten und klarsichtigen Betrachtung des Todes manifestiert (und Vacana versteht es vorzüglich, die äußerst reine und verhalten leuchtende Sprache des alten Dichters angesichts der aus der Welt schwindenden Bilder wiederzugeben).1
Im ersten Teil des Bands sind die Texte eher kurz, der Ton ist trocken, ein wenig rau, um derart jegliche Ausschmückung, jedes Zaudern und jeden allenfalls tröstlichen Anklang von Musikalität und genauer Beschreibung zu vermeiden. Hingegen ist in jedem Text eine überaus rasche Entwicklung hin zur Conclusio zu bemerken, die in Form einer Sentenz den Sinn einer Erfahrung wiedergibt, das Urteil über eine Lebensart, die Verurteilung eines Verhaltens, einer Täuschung, einer Mystifikation, einer Lüge. Die größte Anspannung ist da zu spüren, wo der Dichter durch einen Irrtum und eine Schuld verletzt wird: wie in „Bacchus Tabak Venus“, einer tragischen Betrachtung der böswilligen Götter, die uns heute zu Asche werden lassen und viel schlimmer sind als die natürlichen Übel von früher; wie in den Bildern von Leben und Gewissen, die in „Du begnügst dich“  und „Auch danach“ in kurzen prägnanten Versen festgehalten werden, die die Klage enthält über die trostlose und peinigende Vergeudung und den unaufhörlichen Verlust, die das Leben charakterisieren (man betrachte in diesem Zusammenhang auch den ironischen Text „Mit mir geboren“); wie in den bitteren und schmerzlichen moralischen Zeugnissen von „Wie für die Toten“ (ein in seiner klarsichtigen und bitteren Härte wunderbarer Text, der den anklagt, der die Liebe leugnet und verdrängt), von „Eine Kleinigkeit vielleicht“, von „Hl. Franziskus Unternehmung“. An anderer Stelle finden sich strenge und doch liebevolle Porträts in der Kürze des poetischen Diskurses: wie in „Arbeiter für alles“ und „Dem Namen nach“. Und es gibt die Gewissenserforschung, die von Religiosität zeugt, die herrührt aus einer völligen und rigorosen Akzeptanz des Lebens und von allem, was es mit sich bringt: wie in „Lüge der Augen“ und „Ich verlange keine Privilegien von dir“, das ein außerordentlich inniges und lauteres Gebet darstellt, das von großer Ruhe und Vertrauen geprägt ist, und ebenso eine Betrachtung der Vorkommnisse in einem Leben und des bevorstehenden Alters ist. Andere Texte verweisen durch ihre freiere und herzliche Art gewissermaßen bereits auf den zweiten Teil: „Frühlicht“, „Habitat“, „Verzweiflung mit Kodex und Moral“, ein Gedicht, das auch eine Erklärung der Poetik ist, da es die Forderung nach einer äußersten Dezenz des Lebensstils enthält, die sich sofort als eben jene Dezenz des Schreibens erweist, die das gesamte lyrische Werk Vacanas kennzeichnet und das Geheimnis seiner inneren Seelenstärke ist, die sich in der Genauigkeit und im Maß seiner Sprache widerspiegelt.
Den eigentlichen Übergang zum zweiten Teil des Buchs bildet der Text „Ich öffne die Augen und schaue“: der Anstand ermöglicht es, in der Präzision der geringsten täglichen Gesten zu leben, die im Bewusstsein immer präsent sind, eine Lebensform, die aber auch ihre Belohnungen hat, ihre Freuden, die für die allzu große Müdigkeit entschädigen und zwar durch das „glückliche Geschick“ der schlafenden Gattin, deren Gesicht einen neuen Ausdruck hat, der eine sanfte und stille Allegorie der immerwährenden Erneuerung des Lebens ist. Der zweite Teil der Sammlung enthält die direkte, spontane, verhalten liebevolle Darstellung dieses neuen Lebensgefühls. Hier möchte ich gerne vor allem den Text „Ich denke wieder an die Beschwerden“ nennen: ein heiteres und ein wenig verschmitztes wieder Wachrufen der misslichen Zwischenfälle in der Kindheit des Dichters, der sie mit Genugtuung und Freude darüber, sie überwunden zu haben, betrachtet, wodurch die gegenwärtige Freude am Leben mit der jungen Familie möglich geworden ist. „Es gibt für alle eine Vorhersehung / es gibt auf Erden auch ein glückliches Geschick“: dies ist das Sigel des Werks, das das Vertrauen ins Leben eben durch die Erinnerung an das „böse Geschick“ erst möglich macht, das in der Kindheit so oft erlebt und auf wunderbare Weise immer glücklich überwunden wurde durch jene komplizierte und risikoreiche Navigation der Existenz, die trotz so vieler Zwischenfälle und so vieler schmerzlicher Erfahrungen zuletzt doch an einem Punkt großer Freude angelangt ist. Vacana verwendet hier eine Sprache von lebhafter Fröhlichkeit, für alltägliche, gewohnte Umstände und Gesten, die die Erinnerung aus der Vergangenheit zurückholt, jedoch nicht für eine selbstgefällige Betrachtung, sondern vielmehr damit der Erwachsene von heute durch die Ereignisse, die ihm vor so vielen Jahren als jungem Mann zugestoßen sind, das Vertrauen in das „glückliche Geschick“ wiedergewinnen kann, das den zahllosen Gefahren und Ängsten trotzt, wenn es um die schutzlosen und gefährdeten Existenzen der Kinder geht, die die Vorsehung gemeinsam mit den Eltern verteidigen muss. An anderer Stelle spricht Vacana direkt von seiner Erfahrung mit der kleinen Tochter: und es ist nicht so sehr eine Beschreibung oder eine Anhäufung von Episoden und Situationen, sondern vielmehr eine erstaunte Erforschung der eigenen Person in ihrer neuen Rolle als Vater eine Lehrzeit lang, die äußerst schwierig ist, bei aller Freude, die ihn leitet und ihm hilft. Da gibt es Momente größter und intensivster Rührung, wie in „Ich wache stundenlang“, einem Gedicht, das geprägt ist von großer, banger Furcht, die der Vater beim Anblick der schlafenden Tochter empfindet; und es gibt Momente leichter, liebevoller Ironie wie in „Geschenke und Amulette“ oder in „Eine neue Gesellschaft“, und es gibt Momente, in denen dem Dichter die wahre Bedeutung von Episoden und Gesprächen in der Vergangenheit bewusst wird, die nur durch die Geburt der Tochter klar und erhellend geworden sind.
So bewegt sich diese neue Gedichtsammlung Vacanas zwischen moralischer Anspannung und dem Vertrauen ins Leben durch den Trost der Familie. Es sind jene scheinbar miteinander konkurrierenden Themen und Motive, die eine schwierige dichterische Lektion erteilen, die sich zwischen Sentenz und Leben, stürmischer Zuneigung und strengem ethischen Urteil, zwischen Diskurs des Gewissens und Diskurs der Existenz in ihrem ganzen unerschöpflichen und unvorhersehbaren Erfindungsreichtum bewegt, der in letzter Konsequenz jener der Dichtung ist. Die Wahrhaftigkeit von Vacanas Werk beruht auch auf dieser Fähigkeit, die durch die Erfahrung erlernte Lektion mit der aktuellen Situation zu verbinden und mit dem ununterbrochenen sich Erneuern eben jener Erfahrung, in einer wunderbaren Kontinuität des Worts und des Lebens.

Giorgio Bàrberi Squarotti, Vorwort

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin + Instagram
Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00