DAS THEATER VON EPIDAUROS
Es übersteht verdienstvoll
alle Herausforderungen, alle Bewährungsproben:
jene der Zeit, die seine Steine
nicht zerfrisst,
jene des Erdbebens, das seinen Grundriss
nicht verändert,
die des leicht bewegten Blatts
des Fremdenführers, die der Münze,
die fallen gelassen wurde
in der Mitte des Orchestergrabens,
deren schwache Geräusche
wahrgenommen werden
– Wunder seiner Akustik –
von den mit Vorbedacht
auf den höchsten Stufen sitzenden Touristen.
(Jedes Mal
applaudieren sie erleichtert,
nachdem sie den Atem angehalten haben:
ein Windstoß,
ein Seufzer genügen,
um den Ausgang der Probe zu gefährden.)
Der Zement hält stand,
niemand wagt es,
seinen grünen Schmuck zu verletzen,
die reine Linie der Hügel,
gleichsam die Krone des Theaters,
die geheimnisvolle Atmosphäre.
Wohin der Blick ringsum
fällt, der Mensch
geht vorüber, bewundert, arbeitet,
aber er gründet keine Heimstätte.
Hier wohnt in Würde
die Stille oder die Poesie.
Das Griechische Notizbuch und andere Verse versammelt Gedichte aus dem Jahre 1989 und ist Gerardo Vacanas achter Lyrikband.
Entstanden sind diese Texte nach einer Reise mit Schülern nach Griechenland, einem Land, das dem italienischen „mezzogiorno“ ähnelt, dessen Bewohner ähnliche kulturelle Wurzeln haben.
Wie in früheren Texten ist Vacanas Blick auf seine Umwelt ein liebevoll-kritischer. Im 1. Abschnitt des Bandes jedoch legt er sein Augenmerk vor allem auf Gemeinsamkeiten zwischen Griechen und Italienern, und immer sind es die scheinbar unwichtigen Charakteristika, die er hervorhebt: den Esel, den Olivenbaum, die Steine. Er fühlt sich zu Hause in der Fremde, weil ihn so vieles an seine Heimat, sein Dorf in der Ciociaria erinnert.
Empathie und Güte kennzeichnen auch den 2. Abschnitt der Sammlung, dessen Texte in Vacanas Dorf Gallinaro in der Provinz Frosinone in Apulien führen. Die Gedichte berühren durch ihre Schlichtheit, die Unverstelltheit des Tons, der in ihnen herrscht, wie z.B. das Gedicht über den Tod der Eselin Peppinella oder jenes über das Verschwinden der Katze. Vacanas Wortwahl ist einfach, die Botschaft deutlich und sofort verständlich.
Gerardo Vacana wird manchmal als „antilyrischer Dichter“ bezeichnet, weil seine Gedichte erzählenden Charakter haben, ohne jedoch Prosa zu sein. Wie auch in anderen, späteren Sammlungen (z.B. L’orto / Der Garten, 2008) erkennt der Leser rasch, dass es Vacana nicht darum geht, durch komplizierte Metaphern, ausgefallene Bilder, die entschlüsselt werden müssen, zu beeindrucken, dass sein Anliegen ein anderes ist.
Es geht ihm um Verständnis zwischen den Menschen, Verständnis für jegliche Kreatur, auch die vermeintlich geringste, es geht ihm um Brüderlichkeit, um eine Humanität, die sich als solche deutlich zu erkennen gibt. Er zeigt dem Leser, dass sich hinter jedem noch so alltäglichen Ereignis möglicherweise eine Lebenslektion verbirgt. Vacana ist also auch Moralist, jedoch einer ohne erhobenen Zeigefinger. Er vertraut in seinen Gedichten darauf, dass auch ein möglicherweise literarisch wenig vorgebildeter Leser seine Sprache versteht, seine Absicht erkennt. Diese Einfachheit, diese Unverstelltheit ist in der zeitgenössischen Lyrik nur sehr selten anzutreffen und verdient gerade deshalb umso größeren Respekt, umso mehr Wertschätzung.
Ich hatte das Vergnügen und Privileg, Gerardo Vacana vor einigen Jahren persönlich in seinem Dorf Gallinaro kennenzulernen. Die Übersetzung seiner Gedichte war für mich deshalb gleichfalls ein Vergnügen und Privileg, weil ich hinter den Texten deren Autor sehen konnte, mich an seine Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit erinnerte. Und sie ist eine Möglichkeit für mich, dem Dichter und dem Menschen Vacana meine Reverenz zu erweisen.
Franziska Raimund, Hochstrass, im April 201, Vorwort
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