BERLIN MITTE
Als ich den alten Büchersammler
den Freund des Schönen
Rentner seit langem
im Papierkorb nach
leeren Flaschen suchen sah
war ich sehr froh
dass er mich nicht bemerkte
und ich schämte mich
dass ich nichts hatte
als meinen Ärger
über diese Zustände
und meine eigene, verdrängte Angst.
Alte Männer, das ist ein eigenes Genre. Manche nennen sich so, andere werden so beschrieben. Sie machen all das, was junge Männer auch machen. Nur, dass sie vielleicht einen Hut dabei tragen. Oder einen Fünftagebart. Und dass ihre Haare nicht grau werden, sondern grau sind. Und dass sie nicht mehr so gut hören. Öfter mal husten. Und vielerlei Zeug sich nicht mehr so bereitwillig anhören wollen. Das nennt man die kraftlose Weisheit des Alters. Bei genauerer Betrachtung machen sie nur fast alles, was junge Männer machen. Sie sehen ja auch anders aus. Und haben mehr Schmerzen.
Der Wechsel vom jungen zum alten Mann passiert ungefähr um die 40. Ein paar scheinen als alte Männer auf die Welt gekommen zu sein: Charles Bukowski, Frank Sinatra oder Tom Waits. Am anerkanntesten sind alte Männer, wenn sie Filme drehen. Am berührendsten, wenn sie Gedichte schreiben. Gerd Adloff, Jahrgang 1952, schreibt zum Beispiel das hier:
Alle zehn Jahre einen neuen Shell-Parka
alle fünf Jahre ein bleibendes Erlebnis
alle drei Jahre eine tiefe Verzweiflung
jedes Jahr das Treffen mit den ganz alten Freunden
jeden Monat die Ratenzahlung
jede Woche der Stammtisch
jeden Tag aufstehen
trotz alledem
Es heißt „Who? My Generation“ und findet sich in Adloffs neuem Gedichtband Zwischen Geschichte und September, mit virtuos-kritzligen Grafiken von Horst Hussel, Jahrgang 1934. Adloff dichtet feinsinnig-warmherzig von Krankenhäusern, Kindern, dem Meer und Berlins neueren Arschlochwelten.
(…)
Was ich, Jahrgang 1968, an Adloff und Arenz gutfinde: Es geht um die „eigene, verdrängte Angst“ (Adloff). Nicht die vor dem Tod, sondern die, über die man spricht. Das schaffen eher die alten als die jungen Männer.
Christof Meueler, junge welt, 14.12.2015
Gerd Adloff, 1952 in Berlin geboren, wo er noch heute lebt, nahm 1970–1972 an den Schweriner Poetenseminaren teil und arbeitete zunächst in einer Druckerei, dann, nach seinem Germanistik-Studium, 1981–1992 am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften. Seitdem ist er freier Schriftsteller und Fotograf. Seine Gedichte erschienen vor allem in Zeitschriften und Anthologien, einzige selbständige Veröffentlichung zu DDR-Zeiten war Fortgang, mit Illustrationen von Albrecht von Bodecker (Verlag der Nation 1985). Nach dem 4. Heft der Reihe Versensporn (Edition Poesie schmeckt gut 2011, vgl. Marginalien Heft 211) und Wir erwarten die Zukunft in Kürze (Schock Edition 2012) liegt mit Zwischen Geschichte und September erneut eine Sammlung bisher überwiegend unveröffentlichter Texte Adloffs vor (der Titel des Bandes erklärt sich aus deren Anordnung: der erste ist „Geschichte“ überschrieben, der letzte „September“).
Adloffs Gedichte sind von kunstvoller Einfachheit. Schon bei erster Lektüre zugänglich, belohnen sie den aufmerksam analysierenden Leser mit Einblicken in das Handwerk des Schreibens. Enjambements voller Pointen, gezielte Irritation der Erwartungen des Lesers, das Spiel mit unterschiedlichen Sprachebenen, mit Redensarten, Zitaten und der Mehrdeutigkeit von Sprache, mit Wiederholung, Variation und Antithese sowie die überlegte Abfolge der Texte reizen zu genauer und wiederholter Lektüre. Einige von ihnen sind so einprägsam, dass sie einem schon bald als längst bekannt und vertraut erscheinen. Das mag an ihrem Realitätsgehalt liegen oder daran, dass man in ihnen eigene Erfahrungen wiederfindet, es zeigt aber vor allem, dass sie sprachlich gelungen sind.
Präzise Wahrnehmungen, Erinnerungen und reflektierendes, gelegentlich spielerisches Begreifen prägen die Gedichte. So kontrastiert gleich das erste die Weltgeschichte mit der privaten, andere thematisieren die eigene Kindheit und Jugend, das Erwachsenwerden, aber auch die Anwesenheit des Kindes, das man war, im Erwachsenen, der man ist. Hier wie auch dort, wo vom Altern und vom Alter, von Schmerz, Trauer und Enttäuschung, von Getröstetwerden und Lebensfreude gesprochen wird, gehen die Texte jedoch über das Persönlich-Individuelle hinaus, was erst recht für die Gesellschaftskritischen wie „Berlin“ oder „Berlin Mitte“ gilt. Die Verdichtung von Realität und Biographie verbindet sich auf erfreuliche und befreiende Weise mit Surrealem, Spielerischem und Sprachwitz, und so ermöglichen die Texte nicht nur Einsichten, sie bereiten auch Lesevergnügen.
Thomas Reinecke, Marginalien, Heft 221, 2016
gibt’s also noch, berlin-gedichte, cool, human,
skeptisch, witz & grütze. Einmal von Mitte nach
Spandau / und schon im Jetlag. Bin begeistert:
Geschichte, Karpfen, Einer blickt noch durch /
Mein Tierleben / Älter werden / Wenn einem
Hören und Sehen vergeht… Gratuliere! Und
schön gemacht, das Buch, die Zeichnungen nervös
und fein, passend!
Otto Jägersberg
Jayne-Ann Igel: Mit geschärfter Klinge
signaturen-magazin.de, Februar 2016
Walter Delabar: Über einen guten Gedanken
fixpoetry.com, 28.11.2015
Ursula Haeusgen: Lyrikempfehlung 2015
lyrik-empfehlungen.de
Abel Doering: Gerd Adloff zum 70.
pirckheimer.blogspot.com, 6.9.2022
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