– Zu Eugen Gomringers Gedicht „schweigen“ aus Eugen Gomringer: konstellationen, ideogramme, stundenbuch. –
EUGEN GOMRINGER
schweigen schweigen schweigen
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Seit der Goethezeit spricht das Gedicht von der Spiegelung der Welt in der Seele, aber in diesem Text kommen Seele und Welt nicht vor. Eugen Gomringer versteht ihn als Information, das heißt Mitteilung ohne Meinung, Sinn, Stimmung, Individualität, Ausdruck. Nach Personen- und Sachbezug dieser Wortserie zu fragen, wäre ebenso verfehlt wie die Frage an eine den Verkehr regelnde Lichtampel, warum „rot“ das Haltesignal und „grün“ das Bewegungssignal ist, welche Beziehung sie zwischen den Menschen oder welche Beziehung des Menschen mit sich selbst sie herstellt.
Die Verkehrsregelung durch die Ampel funktioniert gerade deshalb, weil die reine Konventionalität des Zeichens jede Sacherkennung oder Sacherinnerung erübrigt und weil es in seiner Personen- und Situationsneutralität an die Stelle der Kommunikation tritt. Schon die Straßenverkehrsordnung hat ihre Wirksamkeit darin, daß sie den Menschen nur in seiner Eigenschaft als Verkehrsteilnehmer anspricht – unabhängig von Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Charakter oder Stimmung. Die Verkehrsampel reduziert den Verkehrsteilnehmer für den Augenblick, in dem er unter ihrer Regelautomatik steht, auf die abstrakte Funktion, ihrem Signal folgend regelmäßig zu funktionieren.
So Gomringers Text. Er erinnert an nichts. Er enthält keinerlei Gebrauchsanweisung außer, daß er nichts als gelesen sein will, weil seine Anordnung um ein Loch im Schriftgefüge nicht lautlich vergegenwärtigt werden kann. Da aber Schweigen als Tatbestand nicht lesbar ist, sondern nur als Buchstabenfolge, wird es vom Text ebenso unausdrücklich wie nachdrücklich als Tatbestand ausgeschlossen. Schweigen ist nicht das Gegenteil von Stimme; es ist das Wort für die Lücke im typographischen Gefüge; die Lücke im typographischen Gefüge ist kein Ausdruck des Schweigens, sie ist die pure Opposition zum Bedruckten.
In ihr führt sich vor, was Druck ist und was die Lesbarkeit von Gedrucktem ausmacht: so wie dieser weiße Fleck entsteht durch seine bedruckte Umgebung, so entstehen Druckbilder von Wörtern im Außenverhältnis durch Wortabstände und im Innenverhältnis durch Buchstabenabstände, wobei die Buchstaben ihrerseits durch die umgebende weiße Fläche definiert sind und diese definieren. Gomringer vollzieht damit den Durchstoß zum Technischen der Schriftherstellung in seinem Grundbestand.
Das Sprachgitter, bei Paul Celan Metapher der Sprache, ist auf das zurückgeführt, was es materialiter ist: Buchstabengitter, serielle Anordnung von schwarzen, gegeneinander isolierten Lineamenten auf weißer Fläche. Der Text ist autonym geworden, und die Autonymie vollendet sich in der Titellosigkeit, denn jeder Titel gibt Leseanweisungen, die über die Anweisung: du sollst das lesen! hinausgehen. Indem der Leser hier liest, liest er, wie Lesen funktioniert. Die Verkehrsampel vermittelt Informationen; Gomringers Text vermittelt die Information, was Information ausmacht. Das Medium ist hier in der Tat die Botschaft. Hinter Signifikanten ohne Signifikat sind Welt und Seele vergangen, ohne Andeutungen zu hinterlassen, wohin. Eugen Gomringer hat seine konkrete Poesie als Aufruf zu Konzentration, Sparsamkeit und Schweigen, als Beitrag zu einer neuen Ganzheitsauffassung bestimmt, aber verifizierbar am Gebilde ist diese Absicht nicht. Eben weil der Text nichts ist als er selbst, kann man keine und jede Relation zu ihm herstellen, alles und nichts mit ihm machen, alles und nichts in ihn hineinlesen. Er fordert an sich selbst zu nichts auf und leistet gegen nichts Widerstand, aber auch alles gleitet von ihm ab. Der Versuch, ihn auf etwas außer sich festzulegen, gliche dem Unternehmen, einen Pudding an die Wand zu nageln.
Mögen die von Bedeutung befreiten Menschen spielen, mögen die von Bedeutung verlassenen Menschen verzweifeln, mögen die von bedeutungslosen Informationen überschwemmten Menschen protestieren, mögen sie überhaupt verschwinden – der Rest ist jedenfalls: schweigen.
Gerhard Kaiser, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985
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