– Zu Günter Eichs Gedicht „Inventur“ aus dem Günter Eich: Gesammelte Werke. –
GÜNTER EICH
Inventur
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt.
zwischen mir und der Erde.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
,Inventur‘ meint als Begriff aus dem Handelsrecht die Aufnahme von Vermögen und Schulden, laufend oder zu einem Stichtag. Eine laufende Inventur ist in Hölderlins Elegie „Brot und Wein“ gemeint, wenn es in der Schilderung eines Abends heißt:
Und Gewinn und Verlust waget ein sinniges Haupt
Wohl zufrieden zu Haus
Vom antiken Versmaß abgesehen, verwendet Hölderlin einen gehobenen poetischen Wortschatz für eine Alltagssituation der Geruhsamkeit und des Friedens. Wenn sie in Bewegung gerät, öffnet sich der grandiose Horizont einer geschichtstheologischen Vision. Günter Eichs Gedicht „Inventur“ meint dagegen die Bilanz zu einem Stichtag, der sogenannten Stunde Null des Kriegsendes, das er als Soldat erlebt hat. Es geht zurück auf die amerikanische Kriegsgefangenschaft vom April bis zum Sommer 1945 in einem Lager bei Sinzig am Rhein, und die ältere Forschung hat ohne weiteres angenommen, es sei auch während dieser Zeit entstanden. Sicher ist das aber nicht. In einem Brief Eichs vom März 1946 aus seinem dörflichen Domizil bei Landshut in Niederbayern heißt es:
Die Verse fließen ungehemmt aus Erinnerung und Blick durch das Fenster. Manchmal muß ich schon die Augen schließen, dass mir nichts Neues dazuwächst […].
Die tabellarische Biographie der Gesammelten Werke Eichs, in revidierter Fassung 1991 herausgegeben von Axel Vieregg, formuliert vorsichtig: „1945/46 Lyrik der Kriegsgefangenschaft entsteht.“
Entscheidend sind der Entstehungsort und -zeitpunkt nicht. Denn generell sind Erlebnisgedichte mit ihrer Spur von Unmittelbarkeit keineswegs Erlebnisprotokolle aus der Situation heraus; vielmehr sind sie das Ergebnis einer dichterischen Artikulation, die biographisch erlebten Impressionen und Emotionen nachtastet. Wieder aufsteigend, steuern sie das Schreiben, strukturieren sich aber auch in ihm und kommen zu einer Art von Selbstdurchleuchtung und Selbstwahrnehmung. Dabei entsteht eine Unmittelbarkeit höherer Ordnung, in der statt Gegenwart Vergegenwärtigung herrscht. Das Äußere wird zum Zeichen des Inneren, das Innere zum Ausdruck, das Zerstreute verdichtet und das Faktum zur Mitteilung. Die Organisation des Erlebnisses in einer Sprache des Gedichts, die gleichberechtigt semantische und außersemantische Mittel wie Reim, Metrum, Rhythmus, Verszeile, Klanglichkeit ins Spiel bringt, stellt eine Fülle von Bezügen im Innern des Gedichts und nach außen zu anderen Texten und zum Leser her, die erst den Reichtum des Gedichts und des Erlebnisses als Gedicht erzielen. Ein Gedicht, das einen prägnanten Moment der Gefangenschaft verdichtet, kann also durchaus nach der Gefangenschaft entstanden und dabei völlig authentisch sein.
Jedenfalls ist Eichs „Inventur“ erstmals veröffentlicht in einer von Hans Werner Richter 1947 in Stuttgart herausgegebenen Sammlung: Deine Söhne Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener. Auch in diesem Titel äußert sich ein Pathos, das seltsam durch viele künstlerische Erzeugnisse der frühen Nachkriegsjahre in Deutschland hinweht, literarisch am eindrucksvollsten wohl in den neoexpressionistischen Texten von Wolfgang Borchert, am breitesten wirksam in den ersten Filmproduktionen des Nachkriegs mit ihrem Moralismus, ihrer Schwarz-Weiß-Symbolik (undenkbar etwa Die Mörder sind unter uns als Farbfilm), ihren Schwenks über die Mondlandschaften zerstörter deutscher Städte. Die Stunde Null war eben keine. Das Pathos des Leidens, der Menschlichkeit, des weichgezeichneten Neuanfangs war die Buß- und Umkehrgestalt des heroischen Durchhalte-Pathos der NS-Propaganda. Wenn man den Deutschen nachsagt, sie seien vorne Hiob und hinten Attila, dann war nun Hiob vorn. Hans Werner Richters Sammlung legt die jammervolle Hinterlassenschaft eines verbrecherischen Kriegs, die Elendsarmeen deutscher Kriegsgefangener, dem heraufkommenden Europa als seine Söhne ans Herz.
Nichts von Hölderlins grenzgängerischem Pathos, nichts vom Jammerpathos der geschichtlichen Katastrophe findet sich in Eichs „Inventur“, das als Gedicht aus der deutschen militärischen, politischen und moralischen Katastrophe ähnliche Berühmtheit erlangt hat wie Paul Celans „Todesfuge“. Die Stillage von „Inventur“ ist um so erstaunlicher, als die anderen Gefangenschaftsgedichte Eichs durchaus Pathos, Melancholie, Ironie, literarische Parodie, Klage, Anklage enthalten. Und nicht nur das. Günter Eich hat als Schriftsteller im NS-Rundfunk eine Nische gefüllt mit systemangepaßten Preisungen des einfachen Lebens, der Natur, ewiger Werte in traditionell schöner Sprache. Auch davon keine Spur mehr in diesem Gedicht. Alles das ist wie weggebeizt. Nach dem versteckten Selbstwiderspruch zwischen Anpassung und Widerwillen, quälender mit fortschreitendem Kriegsgeschehen, ist Eich zum Kriegsende am nackten Grund angekommen. In keinem anderen Gedicht so sehr wie in „Inventur“. Keines erreicht einen Lakonismus wie dieses. Nicht nur trotzdem, sondern deshalb kann man es repräsentativ nehmen; denn repräsentativ ist nicht unbedingt der Durchschnitt – der ist typisch –, sondern zuweilen auch das Extrem, die Quintessenz. Denn erst von der äußersten Konsequenz her tritt manchmal hervor, was in einem Sachverhalt steckt.
Demgemäß treffe ich hier eine methodische Entscheidung: Ich interpretiere dieses Gedicht, in dem sich wie in einem Brennglas historische und biographische Linien bündeln, in seiner Einzigartigkeit und nehme sein Profil nicht auf ein Kontinuum von Eichs Werk zurück. Es hat seinen Rang in seiner Diskontinuität. Schon der Buchhaltertitel provoziert und ist ein genialer Griff. Statt Exaltation ist Bilanzierung angesagt. Als ,Haben‘ werden schäbige Restbestände statuiert; von ,Soll‘ keine Rede. Wenn das Gedicht vollends ein poetologisches Gedicht heißen soll, dann ist es wohl eines der seltsamsten, am meisten minimalistischen und radikalen der deutschen Literatur. In ihm spricht einer, der völlig auf sich selbst zurückgeworfen ist oder besser: der sich völlig auf sich selbst als letzte Bastion zurückgezogen hat, denn geworfen mag er zwar sein, aber ungebrochen. Ein Du kommt in diesem Gedicht nicht vor, wohl aber sagt das sprechende Ich immer wieder: „ich“ und „mein“, zieht demonstrativ seine Grenze gegen ein Draußen, das unbestimmt und leer und entpersonalisiert bleibt, so weit ist es abgeschoben. An der Widrigkeit dieses Draußen aber kann kein Zweifel bestehen, denn sie ist ablesbar an der Anstrengung, sich zu konzentrieren und sich nicht beirren zu lassen. „Niemand“ ist das einzige Personalpronomen außer dem der ersten Person, das in dem Gedicht vorkommt. Der sich hier äußert, läßt keine feindliche, aber auch keine freundliche Menschenwelt an sich heran. Keine Legegnenden erscheinen; nicht einmal Körper; nur einmal partes pro toto: „begehrliche Augen“ – nicht auf einen Menschen, sondern auf eine Sache gerichtet.
Überhaupt leistet sich das Ich des Gedichts, entgegen jahrtausendealter Tradition lyrischer Gefühlsverlautbarungen, die das Geheimste des Herzens aussprechen, keine Herzensergießungen, weder Angst, noch Zorn, noch Haß, Schmerz oder Freude. Wenige Gegenstände, alle leicht am Körper zu tragen, materiell unter Normalbedingungen Plunder, jetzt überlebensnotwendig, markieren Reichweite und Verfügung des Ich. Es sind ein paar Utensilien des persönlichen Gebrauchs, wie sie dem ortlos Schweifenden – und dem Gefangenen – zugehören. Kostbar für ihn auch deshalb, weil stets von Verlust bedroht. Aber von Gefangenschaft ist ebensowenig die Rede wie von Wanderschaft. Nichts von Lageratmosphäre und Lagerelend, in diesen Jahren dankbare literarische Beschreibungsgegenstände. Sie drücken sich nur negativ im Text durch als Absprungbrett des Texts. Allein das zusammengefaßte, geballte Selbst, die Selbstbewahrung, der Stolz äußern sich. Doch so dezidiert dieses Ich sich artikuliert, so sehr verbirgt es sich. Nur einmal steht „ich“ in den Versen in Spitzenstellung – wo es von seinem Namen spricht. Der Name ist Inbegriff der Identität der Person, aber er sagt inhaltlich nichts über die Person. Genau in der Mitte redet das Gedicht denn doch vom Geheimnis, aber anders als im Gedicht üblich. Es wird nicht inhaltlich zur Sprache gebracht, es wird nicht als – wie Goethes Formel lautet – offenbares Geheimnis ausgesprochen, es wird als bewahrtes und zu bewahrendes Geheimnis benannt, unsichtbar und doch geradezu triumphal als nicht zu entwendender, innerster Kern des Besitzes hochgehalten und im Benennen verschwiegen – „einiges, was ich niemand verrate“. Wie die Spitze eines Eisbergs ist dieses Wort, das immer noch nicht direkt von einer schlechten Wirklichkeit spricht, sondern sie lediglich aus dem Verhalten des Ich erschließbar macht: Ein Hinüberschwingen zur Umwelt und zum Du wäre nicht Mitteilung, Hingabe, Offenbarung; es wäre Selbstverrat.
Was nicht verraten werden soll, wird noch einmal zusätzlich sprachlich versteckt – in opaker Gegenständlichkeit. Wenn es in Goethes Zürichsee Gedicht von 1775 heißt: „Und im See bespiegelt / Sich die reifende Frucht“, dann ist die reifende und sich bespiegelnde Frucht ganz Frucht, aber durchsichtig auf das Ich in seiner Fähigkeit, zu reflektieren und zu reifen. Brotbeutel jedoch bedeutet nichts als Brotbeutel, wollene Socken nichts als wollene Socken. Nicht werden die Dinge transparent auf das Ich, sondern das Ich wird hinter die Dinge zurückgenommen. Statt im Herzen ist im Beutel, was nicht verraten wird. Das Geheimnis ist auch nicht im Kopf, „es“ dient als Kissen. „Was ich niemand verrate“ ist gleichsam zum Synonym für „Brotbeutel“ geworden. Eine frühere Lesart hatte noch „er“ an Stelle des „es“ und bezog sich damit auf den Brotbeutel, unter den Kopf geschoben. Erst die Verdinglichung dessen, was nicht verraten wird, zum Kissen ist der letzte Schritt, es zu verbergen. Der Name wird als Besitzvermerk in das Weißblech der Konservenbüchse eingeritzt, die als Teller und Becher zugleich dienen muß, nicht das fühlende Herz ausgeschrieben. Von wegen: „Ich schnitt es gern in alle Rinden ein“; „ich schnitt in seine Rinde / So manches liebe Wort“. Baumrinde gibt es hier so wenig wie Bäume. Welches Elend das bei Eich bedeutet, sagt das Gedicht „Ende eines Sommers“ aus den Botschaften des Regens von 1955:
Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!
Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben!
Der einzige Naturgegenstand neben lauter Zivilisationsresten, der lakonisch in einem Wort benannt wird, ist „Erde“; aber nicht, um sich ihrer zu versichern (etwa: „Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig / Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen“), vielmehr als etwas, gegen dessen Unwirtlichkeit – Feuchte, Kälte – man sich notdürftig abdichtet:
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
Ausgeschlossen in diesem Gedicht die Natur sogar als Sehnsucht, im Unterschied zu anderen Eichs auch aus dieser Zeit. Nichts also von einem der großen Resonanzräume der Lyrik, und vor allem nichts von Liebe, dem vornehmsten Thema von Gedichten. Begehrlichkeit richtet sich nur auf den „kostbaren Nagel“, am meisten wird die Bleistiftmine „geliebt“. Die letzten verbliebenen noblen Worte des gehobenen Stils werden an Zeug geheftet.
Inventur – da könnte man an große lyrische Lebenssummen denken wie Bertolt Brechts Anrede „An die Nachgeborenen“, aber auch an viel Früheres, besonders prägnant und grandios etwa Paul Flemings berühmtes Sonett: „Ich war an Kunst / und Gut / und Stande groß und reich“ von 1640. In Eichs Gedicht findet sich keine Rechenschaft, keine monologische Selbstklärung, kein Abstandnehmen, um Überblick zu gewinnen. Der verengte Wahrnehmungshorizont wird geradezu demonstrativ wie eine Verdoppelung der körperlichen Gefangenschaft vorgeführt. Ebensowenig eine kritische Sichtung der Verstrickungen in Diktatur und Gewaltherrschaft, mit deren Erörterung sich Eich auch später immer schwer getan hat. Es gibt in „Inventur“ nichts von Gerichtstag halten über das eigene Ich, wie Ibsen das Dichten nennt. Vor uns liegt nichts als ein im wahrsten Sinn des Wortes sachliches Inventar des Nächstliegenden. Auf den ersten Blick sieht so kein Gedicht aus. Vielmehr wirkt der Text zunächst wie ein Gegengedicht, wie ein Protest gegen Gedichte. Keine Hand, eine geschlossene Faust. Eher keine Mitteilung, eine Mitteilungsverweigerung.
Auch die Sprache ist arm. Simples Zeigen und Benennen von Sachen im Draufzeigen, wie bei Geistesschwachen: „Das ist…“. Weitgehend Parataxe. Erst recht keine poetischen Schmuckformen. Vierzeilige Strophen, das Geläufigste, aber was für welche! Vierzeilig ist die häufigste deutsche Strophenform, die sogenannte Volksliedstrophe, aber Volksliedstrophen schwingen, diese Strophen sind abweisend, mit fast jedem Zeilenende in Sprachlosigkeit absinkend, aus der ein neuer Anlauf nötig ist. Man kann zwar ein zweihebiges metrisches Schema in die Verse hineinlesen und man hat sie einer minutiösen metrischen Analyse unterworfen, aber dieses Schema und der im Text herrschende Rhythmus klaffen so weit auseinander, daß es mir näherzuliegen scheint, ruhige, fast ruppige prosanahe Kurzzeilen zu vernehmen, das Versende jeweils ein Stocken. Wie sich kein Metrum durchsetzt, fehlt auch der durchgehende Reim; es fehlen Klangspiele und prägnante Metaphern. Die Kostbarkeit des Nagels besteht allein in seiner Eigenschaft, Nagel zu sein, mit dem man ritzen kann. Was könnte allein das Wort ,Brot‘ bedeuten, aber nein, statt ,Brot‘ kommt nur „Brotbeutel“ vor, banaler Teil der militärischen Ausrüstung.
Trotz allem: es gibt keinen geschriebenen Text, der nicht Mitteilung wäre, vollends keinen als Gedicht in einer Anthologie veröffentlichten. Noch seine Einigelung ist ein Wink für andere, spricht als mitgeteilte Einsamkeit, mitgeteilte Verweigerung zu anderen Einsamkeiten, anderen Verweigerungen. Winzige Hinweise – das Demonstrativpronomen „dies“, das deiktische insistierende „hier“ – appellieren: Sieh her, wie einsam ich bin, wie sehr ich mich verweigere! Beachte, wie strikt und kunstvoll ich Symbolik und Metaphorik, Reim und Metrum zurückdränge. Das ist ein Gedicht, das kein Gedicht ist, lies es! Angesprochen ist kein Mitgefangener, denn es wäre sinnlos, ihm Mütze, Mantel usw., die doch offensichtlich daliegen, vorzuweisen. Angesprochen ist ein imaginäres Gegenüber, aber nicht als imaginärer Gesprächspartner, vollends nicht jetzt und hier. Das durchbräche die unsichtbare Wand, die Pappwand, die das sprechende Ich nicht nur zwischen sich und die Erde legt, sondern um sich aufgerichtet hat. Angesprochen ist irgend jemand, der das später irgendwo liest, also ein Publikum, und die Deixis ist poetische Evokation.
Schriftlichkeit, bei Gedichten, die wörtliche Rede vorgeben, lediglich ein beliebiges Fixativ, ist beim Inventar wesentlich. Die Zeilen sind optisch markant durch ihre gleiche Länge, erzielt durch die nur geringe Schwankung der Silbenzahl in der Zeile. Wo von Sprachlichem die Rede ist, ist es schriftlich gedacht. Der Name ist mit einem Nagel in Weißblech „geritzt“, zweimal fällt das Wort. Es ist, als sei mit der Schriftlichkeit zugleich der Uranfang, die Stunde Null des Schreibens berufen – das mühsame und geheimnisvolle Einkratzen von Zeichen in harte Untergründe wie bei Zeichenmagie. Der Name, der hier als Eigentumsvermerk eingefurcht wird, ist ja ursprünglich etwas Magisches (Rumpelstilzchen!), häufig auch der Nagel, das aggressive Schreibzeug – man erinnere sich der sogenannten Nagelfetische archaischer Kulturen, Figuren, denen Wünsche oder Flüche förmlich eingehämmert werden.
Das nächste mögliche Utensil der Schriftlichkeit ist die Pappe, die zwischen dem Ich und der Erde liegt. Auch das lädt zur Assoziation ein: Pappe, zwischen den Ritzzeichner und die Erde gelegt – zeigt sich hier eine Ahnung von Schriftlichkeit als Distanzmedium, zwischen Ich und Welt eingeschoben? In einem nächsten Steigerungsschritt wird die am meisten von allen Gegenständen geliebte Bleistiftmine genannt, weniger Werkzeug als – fast – Partnerin, Verbündete, Freundin und Mitwisserin, dazugehörig das Notizbuch. Die einzigen Wörter der Emotionalsphäre gelten also doch nicht einfach irgendwelchem Zeug, sondern der Lebensmitte.
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Nicht mit der Bleistiftmine schreibt der Verseschreiber, sondern sie selbst schreibt ihm, seine Verse, für ihn, aber auch an ihn als Adressaten – mit einem Hauch von Erotik und Autoerotik ist das formuliert, und in der Tat hat Autorschaft ja etwas Selbstreferentielles und Selbstverliebtes, tatsächlich ist ein Autor ein Mann, der an andere schreibt, indem er an sich selbst schreibt, der sein erster und liebster Leser ist. Dieser Schreiber erträgt seine Einsamkeit, weil er sie mit seiner Anima, seiner Bleistiftmine teilt. „Verse“ – so stark ist das Wort in dieser Umgebung, daß es wirkt, als habe es auch den einzigen Reim des Gedichts hervorgerufen: „Notizbuch – Handtuch“, und nachträglich fällt auf, daß schon mit der Formulierung vom Nagel, „den vor begehrlichen Augen ich berge“, die poetischen Mittel der Subjektnachstellung und der Alliteration ins Spiel gekommen sind.
Die stark abgeschliffene Vorstellung von Dichtung als Wortmagie hat sich in dieser Steigerungsreihe vom Schreiben noch einmal selbst wie anfänglich hervorgebracht, ohne auf den Begriff gebracht zu sein. Vom Nagel wandert das geläufige Attribut der Eindringlichkeit in einer nun denn doch metaphorischen Bedeutung zur Bleistiftmine hinüber. Mit dem Satz „Dies ist mein Notizbuch“, dem Anfang der letzten Strophe, erreicht das Gedicht reflexiv sich selbst als Gedicht und gewinnt damit eines der zentralen Merkmale moderner Lyrik. Indem das Notizbuch vorgewiesen wird, prätendiert es, dieses Notizbuch zu sein, das wir jetzt lesen. „Dies ist“ meint jetzt einen Gegenstand des Gedichts und zugleich das Gedicht selber. Doch als wäre das zu weit gegangen, ziehen sich die folgenden Verse mit dem Benennen von Zeltbahn, Handtuch und Zwirn wieder in die Mimikri des Anfangs zurück, der sich gibt, als sei in dieser Welt noch nie von Gedichten die Rede gewesen. Das gehört zum Verweigerungsgestus in diesem Gedicht, das in seiner Geschlossenheit so hart ist wie ein Stein.
Aber Entscheidendes hat sich doch gegenüber dem Anfang verändert, etwas, wodurch das Gedicht zum poetologischen Gedicht geworden ist. Generell formulieren poetologische Gedichte nach Gottsched keine explizite Poetik mehr. Erst recht Günter Eich und erst recht an diesem Existenzpunkt ist nicht der Mann, poetologische Konzepte im Gedicht zu auszufalten. Noch 1965 hat er in einem Gedicht „Kunsttheorien“, dem 1966 die Fortsetzung „Und Wirklichkeit“ folgte, Expertengerede verhöhnt: „Versmaße halten nicht vor.“ „Mehrsprachig, Podiumsgespräche, / Lyrik / ihrem Wesen nach faschistoid, / Prozesse im Flattersatz“. „Lieber, laß uns die Einsätze / erhöhen, sicher sind / Kugel und Strick […]“. Es kann in Gedichten wie „Inventur“, ausgesandt vom Rand der Existenz, nur grundsätzlich um Lebensrecht und Lebensnotwendigkeit von Gedichten gehen, aber dieses Nur ist auch ein äußerstes, was zum Thema gesagt werden kann. Am letzten Rand der Existenz berichten diese Strophen lediglich von einer einzigen Tätigkeit. Sie ist gänzlich unpraktisch und dennoch wichtiger als jede Praxis. Es ist Poiesis, das Machen von Gedichten. Ein stummer Verseschreiber ist der Mann, der widersteht. Das Ich hat sich als Gedichtschreiber zu erkennen gegeben. Von seinem Verseschreiben schreibend, spielt er uns diese Verse über das Schreiben zu, und zwar wiederum gänzlich unprogrammatisch, verstohlen und verhohlen fast, noch mehr ein Kassiber als eine Flaschenpost. Indem sie Aufmerksamkeit auf sich hervorrufen, machen sie auf etwas aufmerksam.
Dazu gehört schließlich, daß die verseschreibende Bleistiftmine Tag und Nacht in Beziehung setzt:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht
Das ist vordergründig die einfache Feststellung, daß der Gefangene nur bei Tageslicht schreiben kann, weil es im Lager keine künstliche Beleuchtung gibt. Dahinter liegt die Aussage, daß Dichten und Schreiben dieses Leben erfüllen und ausmachen. Es sind seine wesentlichen Bestimmungen. Zuletzt liegt in diesen einzigen traditionell „schönen“ Versen des Gedichts der Anreiz, den in den anderen zweiten Vershälften verdeckten daktylischen Rhythmus klingen zu lassen. Nachts erdacht und tags geschrieben, enthalten sie einen leisen Verweis auf die Scheidung von Tag und Nacht als erstem Tagewerk der Schöpfungsgeschichte, die auch eine Ordnungsgeschichte ist. Ohne daß man auf Grund allein dieses Gedichts entscheiden könnte, wie viel an Eich geläufigen sprachmystischen Vorstellungen in dem archaisch wirkenden Benennen und Vorweisen seiner Strophen mitschwingt, ohne auch Eichs eigene Äußerung in seiner Rede vor Kriegsblinden von 1953 überzubewerten, „daß alles Geschriebene sich der Theologie nähert“, möchte ich doch wenigstens andeuten, daß der Schöpfungscharakter des Worts ein Eich naheliegender Gedanke war:
Jedes Wort bewahrt einen Abglanz des magischen Zustandes, wo es mit dem gemeinten Gegenstand eins ist, wo es mit der Schöpfung identisch ist.
Inventur, sagten wir, ist Bilanzierung, darin ein Ansatz zur Ordnung. Es ist nicht viel und sehr viel, in einer Stunde, in der jeder den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte, primitivste Orientierung festzuhalten und zu setzen: Dies ist meine Mütze, dies mein Mantel, hier mein Rasierzeug. Das sind erste Schritte, aus dem Chaos eine neue Welt aufzubauen, schreibend zusammenzuheften, zusammenzunähen – „Zwirn“ ist das letzte Wort des Gedichts. Mütze, Rasierzeug, eingeritzter Name, das sind Außenmarkierungen einer Person, eines unverwechselbaren Individuums, einer Innerlichkeit auch, die sich im Widerstand gegen den Sog der Auflösung bekundet. Vom Ende her läßt sich im Ordnungschaffen der Inventur auch schon das Dichten hören, von dem später die Rede ist. Umgekehrt ist im Erdenken und Schreiben der Verse am Ende, in der unscheinbaren Anspielung auf die Schöpfungsgeschichte und damit auf die alte Vorstellung vom Poeten als alter deus, einem anderen Schöpfer durch das Wort, auch das Moment der Weltordnung durch Dichtung in den Zusammenhang von Schöpfung und Wort eingeschrieben.
Notabene steckt im Ordnungschaffen der Eichschen „Inventur“ auch mehr an Vorbedingung und sogar Anlauf für die heute so häufig von der Generation des Kriegsendes eingeklagte geschichtliche und politische Selbstbesinnung und Schuldeinsicht, die wenig und nur von wenigen artikuliert wurde. Der erste Schritt des Aufwachens, Sich-und-sein-Zeug-Zusammenraffens, Sich-Sammelns führt nicht notwendig zum zweiten, dem Rundumblick: Wo stehe ich? Was habe ich getan? Was soll ich tun? Aber ohne den ersten Schritt kann der zweite nicht unternommen werden. Erst recht nicht der dritte – wohin sollen wir gehen? Eich hat zu ihm allenfalls angesetzt; zu sehr hatte er sich wohl schon durch sein Taktieren in der NS-Zeit selbstzweiflerisch unterwandert, als daß er nicht ein einzelgängerischer Unterwanderer und Infragesteller hätte bleiben müssen. Dies ist ein poetologisches Gedicht, haben wir statuiert, und als solches an ein Publikum adressiert, aber an ein Publikum von Versprengten und Vereinzelten, das Kassiber zu finden gewitzt genug ist. Weit weg ist das Mitmenschlichkeitspathos der frühklassischen Zueignung Goethes, wo die Muse den Dichter aus der Misanthropie wegscheucht, wo der Dichter rhetorisch fragt:
Warum sucht’ ich den Weg so sehnsuchtsvoll,
Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?
Hier ist kein Weg gefunden, erst recht nicht ein gemeinsam gangbarer. Hier wird ein Weg gesucht – ins Gedicht, nicht als Elfenbeinturm, aber als Maulwurfsbau. Mit Recht ist die Anspielung auf Eichs Sammlung kurzer beziehungsreich-widerspenstiger Prosatexte Maulwürfe von 1968 in Forschung und Publizistik zum Gemeinplatz der Charakterisierung von Eichs Dichtung geworden.
Damit ist an die komplexe Frage gerührt, wie weit Eich nach 1945 ins Politische gegangen ist. Für die politische Dimension seines Engagements als Schriftsteller wird häufig seine wichtigste programmatische Äußerung, die Büchnerpreis-Rede von 1959, ins Feld geführt. Aber Eich bekennt sich hier zu einer Bundesgenossenschaft der einzelgängerischen Nein-Sager:
Sie gehören alle der Ritterschaft von der traurigen Gestalt an, sind ohnmächtig und Gegner der Macht aus Instinkt. Und doch, meine ich, ist der Menschheit Würde in ihre Hand gegeben. Indem sie rebellieren und leiden, verwirklichen sie unsere Möglichkeiten.
Das ist resignativ, subversiv und aggressiv in einem, mit dem Schillerzitat auch ein wenig hilflos pathetisch. Eichs Vorstellung von Macht ist abstrakt, auch wenn sie für ihn spezielle und aktuelle Züge annehmen kann, und sie ist abstrakt negativ, historisch und politisch wenig reflektiert. Der vorhergehende Teil der Rede fördert zutage, was Eich unter den Möglichkeiten zur Selbstbehauptung der instinkthaften Gegner der Macht versteht. Sie liegen, ganz vom Literaten her gedacht, allein in der Sprache, und auch der Sprachbegriff ist an dieser Stelle weitgehend abstrakt und undifferenziert. Eich fordert:
Behaupten nicht mit Inhalten. Inhalte gibt es überall, sondern behaupten mit Sprache.
Er trumpft auf:
Es sind nicht die Inhalte, es ist die Sprache, die gegen die Macht wirkt.
Er argumentiert:
Ein Inhalt, der zur Sprache käme, ließe sich nicht mehr ohne Aufsehen beiseiteräumen, er wäre ein Felsklotz. Die Macht braucht einen handlicheren Aggregatzustand, Inhalte, die transportabel und im Bedarf austauschbar sind.
Erst im letzten Zitat wird erkennbar, daß Eich Sprache, auch und gerade literarische Sprache, doch nicht ohne Inhalt denkt, denn er sieht die Sprache der Macht auf die Transportierbarkeit ihrer Inhalte angewiesen, wogegen der wirklich, nämlich literarisch zur Sprache gebrachte Inhalt resistent gegen Manipulation wäre. Der dichterisch artikulierte Inhalt hätte einen anderen Aggregatzustand als der von der Macht artikulierte. Das heißt aber wenig anderes als das Vielgesagte: Die Dichtung sagt die Dinge wesentlich. An diesem Punkt – den Aussagen zum Verhältnis von Sprache und Inhalt – bleiben Eichs Aussagen letzten Endes vage und inkonsistent, so sehr er auch dichterisch das Feld des wesentlich Sagbaren erweitert hat, so sehr sich auch das bei ihm Wesentliche von der Tradition abhebt. Seine Berufung auf die Sprache ist eine Abgrenzung gegen die ihm unheimliche Macht, keine Auseinandersetzung mit ihr. Man könnte auch scharf sagen: Er redet an der Macht vorbei. Jedenfalls wird beim Rückblick von der Büchnerpreis-Rede auf „Inventur“ doppelt deutlich, daß Eich mit keinem Wort andeutet, was in den nachts gedichteten und tags aufgeschriebenen Versen steht. Nicht was, sondern daß gedichtet wird, ist der point de résistance. Und doch ist das Gedicht Ausdruck einer Art von Katharsis, denn in dieser Nüchternheit vollzieht sich innerpoetisch die Ausnüchterung falscher Gefühle und Ideale, aus denen gelebt worden ist und mit deren Hilfe eine Generation verraten worden ist. Falscher politischer Gefühle und Ideale. Falscher, nämlich propagandistisch mißbrauchter poetischer Gefühle und Ideale von Hölderlin bis Rilke. Und die Genauigkeit und Nüchternheit der Sprache zielt letztendlich indirekt doch auch auf Genauigkeit und Nüchternheit des Lebens als Individuum.
Günter Eich hat in einem anderen, 1946 erstveröffentlichten Gedicht „Latrine“ der ausnüchternden Kraft der poetischen Sprache ihre andere Kraft zur Seite gestellt, eine Vision menschenwürdigen Lebens und Leidens – noch in der Reduktion des Menschen auf animalisches Überleben – festzuhalten. ln der Lagerlatrine hockend, über stinkendem Graben geschieht dem Ich dies:
Irr mir im Ohre schallen
Verse von Hölderlin.
In schneeiger Reinheit spiegeln
Wolken sich im Urin.
„Geh nun aber und grüße
Die schöne Garonne –“
Unter den schwankenden Füßen
Schwimmen die Wolken davon.
„Eilende Wolken! Segler der Lüfte!“ grüßt bei Schiller die Gefangene Maria Stuart, zur Begegnung mit der Königin Elisabeth in einen Park verbracht, die am Himmel nach Süden wandernden Wolken als Inbegriff der Freiheit und Weite und gibt ihnen ihre Grüße an ihr fernes Heimatland Frankreich mit. Sie lebt unter Todesdrohung in einer feindlichen Welt. Das Ich von Eichs Gedicht sieht Wolken unter den Füßen, und sie signalisieren noch Krasseres: verkehrte Welt. Und auch das ist noch nicht das Äußerste: Himmelsphänomene, Sterne, Sonne, Wolken im Wasser gespiegelt sind Symbole für die Einheit und Ganzheit der Welt, so häufig bei Goethe. Aber hier wird Reinheit in den Schmutz geworfen, in das, was alle Kulturen als Inbegriff der Unreinheit tabuisieren: Exkremente, untermischt mit Papier und dem Blut der Ruhr, die in den Lagern grassierte. Ich habe in einem Seminar, das ich vor vielen Jahren mit thailändischen Germanistikprofessoren abhielt, einen wahren Kulturschock mit diesem Gedicht ausgelöst. Es war für Angehörige einer alten Kultur, die damals noch keine solche Routine im Tabubruch entwickelt hatte wie wir inzwischen, zunächst fast unmöglich, sich weiter auf das Gedicht einzulassen.
Und doch: funkelnde Schmeißfliegen, die einen umschwirren – wer hat noch nicht an ihnen irritiert blitzhaft die Schönheit des Ekelerregenden erlebt, ein Reiz, der bei Baudelaire, dem Gründervater der modernen Lyrik, als eine der Blumen des Bösen ins Gedicht eingewandert ist. Eichs Gedicht geht noch einmal weiter: Irr schallen dem Ich des Gedichts, das sich von versteinertem Kot qualvoll entleert, Hölderlinverse im Ohr, in deutscher Rezeptionstradition seit der Generation Norbert von Hellingraths Inbegriff des erhabenen lyrischen Stils, visionärer metaphysischer Dichtung. Das Andenken des Gefangenen gilt der späten Hymne „Andenken“, Zeugnis der Heimwanderung des sich verwirrenden Hölderlin aus Bordeaux, der Sehnsuchtswelt des Südens, der Hymne also, die mit der inzwischen viel parodierten Sentenz endet:
Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Irrsinn in einer irren Welt? Aber ist nicht die eigentliche Sensation des Gedichts, daß die Reinheit der Wolken, der elegische Glanz des Gedichts durch nichts gebrochen, durch alles evoziert werden kann? Ist das Gedicht nicht der Beweis für Hölderlins Satz?
Sinngemäß habe ich dazu in meiner Geschichte der deutschen Lyrik ausgeführt: In der Latrine ereignet sich die poetische Neukonstitution der Welt, das Aufleuchten der Utopie menschlichen Lebens noch im Schmerz, folgenlos, aber unvergeßlich dem inneren Auge eingebrannt. Keine andere schneeige Reinheit ist so schneeig, so rein, so wirklich unwirklich wie diese in der spiegelnden flüssigen Ausscheidung am Grund der Grube. In der Desillusionierung herrscht hier ein Pathos, das sich eben der Geste der Desillusionierung verdankt. Die weiße Wolke ist nicht irgendwo und irgendwann, sie ist hier und jetzt: das Gedicht, dieses Gedicht – ein tiefes Leuchten, das am Dreck aufscheint. Hölderlins Gedicht verkündet das ferngerückte Göttliche. Eichs Gedicht verkündet das Gedicht, das – im vollen Blick auf den Abgrund – nur auf sich gestellte Hoffnung trägt, ja, ist. Es ist darin von einer im Entstehungsaugenblick in Deutschland beispiellosen Modernität.
Der Abstand zwischen „Latrine“ und „Inventur“ und ihren verschiedenen Weisen von Avantgardismus ist weit. Im imaginativen Ausbruch ist in Latrine auch ein Ausbruch der Sprache angelegt, der sich kontrastiv zur Zurückgenommenheit von „Inventur“ verhält. Offen wird der literarische Bezug auf Hölderlins Andenken ausgespielt, ja, er wird zum Thema. „Inventur“ – mit „Latrine“ verbunden durch den Rückzug hinters explizit und normativ Moralische und Politische auf nackte Überlebensreserven – verlangt doch einen anderen Modus der Interpretation. Ich spreche hier oft in Vermutungen und von Möglichkeiten, und dem methodischen Anspruch auf Exaktheit und Dezidiertheit der Aussagen mag das zuwider sein; aber es ist im Gegenstand begründet, einem Gedicht, das Versteck spielt mit Andeutungen und Zurücknahmen. Die Bedeutungshöfe, die durch wechselseitige Bestrahlung und Beschattung der Wörter entstehen, eröffnen und verschließen sich im Zugriff. Ich behaupte deshalb, daß das ,vielleicht‘ hier zum legitimen Beschreibungsmodus des Gedichts werden kann und daß manche Fragen der Interpretation nicht entschieden werden können.
Ich arbeite auch sehr häufig mit Negativcharakterisierungen: Es gibt hier das nicht und das nicht und jenes nicht. Es ist nicht so und nicht so, sondern so. Das erinnert an das satirische Predigtschema zum Text von den zwei Jüngern, die nach Emmaus gingen: Es war nicht einer und es waren nicht drei, sondern zwei. Sie fuhren nicht, sie ritten nicht, sie gingen usw. Aber auch das ist in der Sache begründet. Einmal in der Sache der Hermeneutik überhaupt. Es ist ein sinnvolles Erkenntnisverfahren, sich der Eigenart eines Texts oder Textmoments dadurch anzunähern, daß man ihm Alternativen als Folie unterlegt und ihn fortlaufend kontrastiv-parallel vergleicht. Zum anderen ist das Verfahren der Negativcharakterisierungen im speziellen Fall gerechtfertigt. So kunstvoll Kunstlosigkeit herzustellen, so prägnant Redundanzen zu vermeiden, wie es in „Inventur“ geschieht, spricht nicht nur Einfühlung und Mitgefühl, sondern auch Kennerschaft an, die goutiert, mit wieviel Aussortierung dieser Minimalismus erzeugt, mit wieviel Aussonderung dieser Lakonismus gewonnen ist. So wie schwarze Buchstaben eine weiße Leere um sich brauchen, damit sie hervortreten, so arbeitet dieses Gedicht mit Negativanspielungen, mit Evokationen durch Leerstellen. Etwa: so dezidiert kein Liebes- und Naturgedicht zu schreiben, ruft als Folie eine große Tradition von Natur- und Liebeslyrik hervor.
Ein Gedicht, das mit dem Anschein spielt, gar kein Gedicht zu sein, ist in der Verleugnung von Artistik sehr artistisch. Es ist auch darin artistisch, daß es wahrscheinlich eine literarische Vorlage hat, also Literatur nicht nur aus Leben, sondern auch aus Literatur ist. Diese Vorlage ist ein Gedicht des tschechischen Dichters Richard Weiner mit dem Titel „Jean Baptiste Chardin“:
Dies ist mein Tisch,
Dies ist mein Hausschuh,
Dies ist mein Glas,
Dies ist mein Kännchen.
Dies ist meine Etagère,
Dies ist meine Pfeife,
Dose für Zucker,
Grossvaters Erbstück.
[…]
Gut ist’s zu Hause,
Sehr gut zu Hause.
Dies meine Ecke,
Dies meine Hausschuh.
Glattes Email
Glanzüberquillt.
Dies ist mein Weib.
Dies ist mein Bild.
Auch Weiners Gedicht ist ein aussparendes Gedicht über Kunst, denn der Mann, der in diesen und den folgenden Versen aus der liebevollem Benennung der Gegenstände und Umstände seines Lebens die Szenerie einer scheinbar spießerhaft beschränkten Existenz aufbaut, ist ja einer der großen französischen Maler des 18. Jahrhunderts, vor allem von Interieurs und Stilleben. Auch hier herrscht Mimikri: das sprechende Ich des Gedichts ist ein Künstler. Der Künstler versteckt sich im Spießer, der Spießer im Künstler. Das formale Schema von Eichs Gedichtanfang ist bei Weiner vorgegeben. Doch das mindert Eichs schöpferische Leistung nicht, denn sie liegt in der Kontrafaktur: Weiners Chardin grenzt sich in Gegenstände und Umstände eines äußersten Behagens ein, in einer raffinierten Sensibilität, die sich im sublimen Lebensgenuß ebenso äußert wie in seiner künstlerischen Produktion. Hier steht eine ihrer selbst sichere Künstlerfigur des Fin de siècle gegen ein dichtendes Ich, das, aus einem Weltuntergang auftauchend, sich des Strandguts seiner letzten Bestände versichern muß. Von solcher Selbstbehauptung, auch von einer immanenten Wendung des Gedichts, gibt es bei Weiner nichts.
Es scheint mir, daß sich Weiners Gedicht in seiner Bedeutung für Eich grundsätzlich von den bisher für „Inventur“ geltend gemachten literarischen Querbezügen abhebt, und zwar dadurch, daß die Bezugnahme auf Weiner eher Werkstattcharakter hat. Weiners Verse sind wohl ein Anstoß zur formalen Kristallisation der gesättigten Lösung von Eindrücken, Gefühlen und Erfahrungen, die in „Inventur“ zum Gedicht werden. Eich selber hat entschieden bestritten, dieses Gedicht bei Abfassung von „Inventur“ gekannt zu haben. Das kann Selbsttäuschung oder Verschleierung des Produktionsprozesses in seiner Tatsächlichkeit und seinem Anspruch auf Diskretion sein. Es ist auch nicht völlig auszuschließen, daß diese lapidare Äußerungsweise zweimal unabhängig voneinander gefunden worden ist. Schließlich ist das Aussageschema elementar einfach. Aber man sollte auch diese Frage nicht überbewerten, denn hinter ihr steht ein sentimentales, außerliterarisches Interesse. Es mindert den Eindruck des Urtümlichen einer Gedichtproduktion auf der tabula rasa des Gefangenencamps, wenn man sich Eich im Literaturlabor, selbst wenn er es nur im Kopf trüge, mit Vorlagen hantierend vorstellt. Doch wie die Unmittelbarkeit des Erlebnisgedichts ist auch die Urtümlichkeit einer Produktionssituation sekundär. Sie hat ihre Wahrheit darin, daß sie aus dem Text aufsteigt, oder sie hat literarisch keine Wahrheit, selbst wenn sie biographisch belegt wäre.
Jedenfalls gehört Weiners Gedicht nicht dem Arsenal an, das man frei nach Malraux das imaginäre Museum der Literatur nennen könnte, einen kulturell prägenden, ubiquitär abrufbaren Allgemeinbesitz an literarischen Reminiszenzen, mit denen „Inventur“ geheim offenbar umgeht, wogegen der wahrscheinliche Rückbezug auf Weiner, obwohl gesamthaft, nur dem gelehrten Spürsinn etwas sagt und vom Autor ausgeblendet ist. Im Fall Weiner geht es um mögliche Anregungen, in allen anderen punktuell anklingenden Resonanzen um Anspielungen. „Inventur“ als Gedichtganzes scheint mir nun einen weiteren Bezugspunkt in der Tradition zu besitzen, der dem Assoziationscharakter der bisher im einzelnen von mir geltend gemachter Allusionen entspricht, doch sie allesamt überwölbt und in sich einsammelt. Wie „Inventur“ gegenüber dem momenthaften Sprengungscharakter von „Latrine“ verschlossen bleibt, ist auch dieser Bezugspunkt verschwiegen und verschlossen, im Hinhalten entzogen, dem Autor vielleicht nicht einmal ganz klar. Man weiß vieles, was man im Moment nicht weiß. Der Bezug des Gedichts ist ein untergründiges Zitat: „Omnia mea mecum porto“ – Alles, was ich besitze, trage ich bei mir. Das ist ein Wort aus der antiken stoischen Überlieferung, von Cicero als Sentenz des um 570 vor Christus aus seinem Vaterland fliehenden griechischen Philosophen Bias überliefert, bei Seneca, Plutarch und anderen in Varianten tradiert, von Matthias Claudius für das Motto seines Wandsbecker Bothen verwendet. Das Wort hat einen Doppelsinn: Nichts ist mir geblieben, als was ich am Leibe trage. Aber auch: was wirklich zu mir gehört, das trage ich mit mir; das mitzunehmen, wird mir immer möglich sein. Und nochmals: Was ich mit mir trage, daran ist nichts Ballast, darin präge ich mich aus. In diese Reihe stellt sich Eichs Gedicht.
,Inventur‘ ist ein Wort des Handelsrechts, aber es gehört nicht den kaufmännischen Buchhaltern allein, sondern auch den literarischen ,Buchhaltern‘, die sich an die Texte und Bücher halten, die den Sachen als Wörtern auf den Grund gehen, die qualifizieren und nicht quantifizieren. ,Inventur‘ ist eine neulateinische Ableitung von invenire, hineinkommen, auf etwas kommen. Es ist dasselbe Wort, das in Inventio=Erfindung, Ermittlung, Erfindungsvermögen, einem Terminus der Rhetorik und Poetik übrigens, steckt. Zu einer Inventur muß man die Kraft und Fähigkeit haben; bei einer Inventur kommt man auf etwas. Sie zieht eine Summe, einen Schlußstrich, macht einen Endpunkt, der auch ein Anfangspunkt sein kann. In der Geschichte und in der gelebten individuellen Biographie gibt es keine Stunde Null, weil die Kette der historischen und biographischen Vorgaben und Folgen, das Fortwirken der Vergangenheit in der Zukunft nicht gebrochen werden kann. Aber im literarischen Text, vollends in der Kurzform des Gedichts, das gattungshaft die Tendenz zum Punktuellen hat, sei es, daß es etwas auf den Punkt bringt, sei es, daß es das Jetzt und Hier zur Entfaltung bringt, kann sie vorkommen. „Inventur“ ist das einzige mir bekannte deutsche Gedicht, das einen Punkt Null markiert. Ein poetologisches Gedicht. Mehr als ein poetologisches Gedicht.
Gerhard Kaiser, aus Olaf Hildebrand (Hrsg.): Poetologische Lyrik, Böhlau Verlag, 2003
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