– Zu Jan Wagners Gedicht „australien“ aus Jan Wagner: Australien. –
JAN WAGNER
australien
wir fingen mittags an:
wo sich die brücke in der brache
verlor, von fern die autobahn;
durch ein kaleidoskop zerbroche-
ner flaschen,
ein wurzelwerk von quecken
und alten teppichen; versteckt
hinter dem flüßchen,
dem abwasserrohr mit seinem biblischen
dunkel und dem schlichten
rinnsal, das es predigte.
wir gruben. hinter weißdornbüschen,
der kolonie von schilf, das paläon-
tologische autowrack, wie ein fossil
vom lehm verschluckt. ein fessel-
ballon
mit seiner werbung für bier
oder gelee
zog kühn jenseits der siedlung vorüber,
und ringsherum die glänzend schwarzen egel
entsorgter reifen, vollgesogen
mit schlamm und regenwasser,
die farbkanister, zerschlagen
und liegengelassen.
wir gruben; eine grille
verstummte und ein amselpärchen
hüpfte nervös um einen rostigen rechen,
die größere vogelkralle.
wie lange, bis wir es mit felsen
zu tun bekommen würden, kohle
flözen
und erz? wie lange noch, bis irgendwo ein koala
die erde sich bewegen spürte,
um etwas seltsames zu sehen:
ein loch im boden, zwei verschmierte
jungen, die bis zehn
zu zählen versuchten, dann
verschwanden in dem mythischen, dem most-
richgelben abend, wo am rand
ein spaten steckte wie ein fahnenmast.
Do you come from a land down under
Where women glow and men plunder?
(Down Under, Men at Work)
I.
Wie die Kunst zur Welt sich verhält, das ist eine Frage, die die Ästhetik umtreibt seit Platons harschem Verdikt, sie, die Kunst, sei lediglich ein unnützes Schattenverdopplungsmedium. Weitaus differenzierter, dialektisch geradezu, fällt die Einschätzung des idealempirischen ,Weltbetasters‘ Goethe aus, wenn er in den Wahlverwandtschaften ausgerechnet seiner Weltverneinungsvirtuosin Ottilie (s)eine Maxime ins Tagebuch schreibt, der zufolge die Kunst das Medium einer gleichzeitigen Weltvermeidung und Weltverbundenheit schlechthin sei:
Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.1
Dem Vorwurf, gerade ihr sei die Welt abhanden gekommen, weil sie sich zu sehr mit sich selbst und zu wenig mit den Dingen des Lebens beschäftige, sieht sich unter den gegenwärtigen Bedingungen des literarischen Feldes wahrscheinlich keine andere künstlerische Äußerungsform so vehement ausgesetzt wie die Lyrik. Dieser vermeintliche Mangel an Welthaltigkeit, so zumindest das Bild, das der Lyriker Jan Wagner, mittlerweile immerhin einer der wirkmächtigsten deutschsprachigen Repräsentanten dieser Gattung, in öffentlichen Bekundungen wiederholt in Umlauf bringt, hat ihren Preis. Die Lyrik, einst die Königsdisziplin unter den literarischen Gattungen, nun „das unpopulärste Genre“ und eine „seltsame[] und alles andere als einträgliche[] Tätigkeit“,2 sei, so leitet er etwa seine 2006 anlässlich der Verleihung des Arno-Reinfrank-Preises gehaltene Dankesrede ein, heutzutage ihrer „Reichweite und Wirkmächtigkeit“ verlustig gegangen und nunmehr gezwungen, „eine Nischenexistenz zu führen“. Allein bei der „bloßen Erwähnung des Wortes ,Poesie‘ oder der Berufsbezeichnung ,Lyriker‘“ suchten die „Blicke der Umstehenden […] peinlich berührt die Schuhspitzen.“3 Und liest man verlegerische Klappentexte als inszenierungsstrategische Vorwegnahmen gegnerischer Einwände, dann hallt dieser Generalverdacht einer gattungsspezifischen, ästhetizistischen Weltenthobenheit und die daraus resultierende Sorge um eine nur eingeschränkte öffentliche Aufmerksamkeit auch im Peritext von Jan Wagners viertem, 2010 erschienenem Gedichtband Australien deutlich vernehmbar nach: „Werden gesamten Kanon lyrischer Formensprache derart beherrscht und sich seiner mit nonchalanter Virtuosität bedient wie Jan Wagner“, so heißt es dort,
steht leicht unter Elfenbeinturmverdacht. Wie schön, dass Jan Wagner schon im Titel seines neuen Lyrikbandes diesem Verdacht die Grundlage entzieht. Australien zeigt diesen Ausnahmelyriker als Reisenden, rund um den Kompass und ans andere Ende der Welt, quer durch Raum und Zeit, zeigt ihn als Entdecker, Landschaftsmaler, Spiritisten […] und egal, ob er einen Gecko betrachtet, den Lake Michigan besingt oder doch noch nach Australien gelangt – wo immer Jan Wagner uns hinführt, fördert er Überraschendes zu Tage.4
Abgesehen davon, dass man durchaus darüber streiten kann, ob und wie Wagner am Ende „doch noch nach Australien gelangt“ (dazu später mehr) – bei der Werbestrategie des Verlages merkt man denn doch allzu deutlich die Absicht, die hinter solchen Verlautbarungen steckt: Der Lyriker soll gegen den ruf- wie auflagenschädigenden Verdacht eines form- und traditionsverliebten und deshalb vielleicht ein wenig anämisch wirkenden poeta doctus immunisiert werden, indem man ihn als global traveler inszeniert, der von seinen Weltfahrten einen Band erfahrungsgesättigter, gleichsam photographisch-realistischer Reiseimpressionen mitgebracht hat. Der Gedichtband selbst indes, der insgesamt 58 Gedichte umfasst, entfaltet (und reflektiert) einen Weltbezug ganz anderer Art; eben keinen quasi-reisejournalistischen, auch wenn die Titel der fünf Kapitel, die nach den Himmelsrichtungen (in der Reihenfolge „süden“, „westen“, „osten“, „norden“) und schließlich „australien“ nach dem südlichen Kontinent, eben der terra australis, benannt sind, diese Annahme zunächst nahelegen. Australien ist gekennzeichnet von einem immer schon durch das Medium der Kunst gebrochenen Weltbezug, der – ganz im Sinne der Goethe’schen paradoxalen Maxime – sich dadurch auszeichnet, dass er Nähe und Ferne zu den Dingen, zu den Sachen der Welt zugleich ins Werk setzt und so eine im und durch das Medium der Kunst gesteigerte Weltwahrnehmung vermittelt. Allein schon das dem Gedichtband vorangestellte Motto, das Wagner sich aus Fernando Pessoas Gedicht „Oxiordshire“ borgt, lässt sich als programmatische, para- wie intertextuelle Warnung davor verstehen, es mit der durch den Titel und der Verlagswerbung insinuierten Genrezuordnung zur Reiseliteratur im traditionellen Sinne allzu wörtlich zu nehmen:
Man ist glücklich in Australien,
sofern man nicht dorthin fährt. (JWA, o. S.)
So entwickelt Pessoas, unter dem Heteronym Álvaro de Campos 1931 veröffentlichtes Gedicht in den letzten Versen, in denen die Sprecherinstanz zunächst aus der Ferne einen Kirchturm betrachtet, dem er sich dann nähert, denn auch jenes ästhetische Programm einer gerade durch die Einhaltung einer gewissen räumlichen Distanz zu den Dingen gesteigerten Welterfahrung, das auch Wagners ,Reisebilder‘ prägt:
Von meinem Weg aus sah ich eine Art Spiritualität in diesem Kirchturm,
Ein Symbol des Glaubens aller Zeiten, und tatkräftiger Nächstenliebe.
Von dem Marktflecken aus aber war, als ich dort ankam, der Kirchturm der Kirchturm,
Und dem nicht genug, er stand auch noch da.
Man ist glücklich in Australien, sofern man nicht dorthin fährt.5
Der Ton einer solchen Poetik des gelungenen Abstands, der welterschließenden Äquidistanz zu den alltäglichen Dingen in ihrem So-Sein einerseits wie zu deren abstrakt-idealischer Überhöhung andererseits, wird gleich im ersten Gedicht von Wagners Australien am Beispiel eines „chamäleon[s]“ (so der Titel) angeschlagen, wenn der sprichwörtliche Masken- und Verwandlungskünstler aus dem Tierreich,6 durch seine extrem beweglichen Wahrnehmungsorgane sozusagen zu einer doppelten Optik befähigt, nicht nur als ein in seiner Exotik beschreibungswürdiges Phänomen der Tierwelt, sondern zugleich als Chiffre der künstlerischen Weltbeobachtung erscheint:
ein astronom mit einem blick am himmel und dem andern am boden – so wahrt es den abstand zu beiden. (JWA, S. 9)7
Als ,sachliche Romantik‘ könnte man diese in der doppelten Optik des Chamäleons gespiegelte Haltung des Lyrikers zur Welt charakterisieren; eine Haltung, die es im lyrischen Sprechen gestattet, sich den alltäglichen Dingen dieser Welt zu nähern, ohne sich in ihnen zu verlieren, und die es – andersherum gewendet – erlaubt, mit den Mitteln der Poesie, die die Alltagswahrnehmung entautomatisiert und damit intensiviert, diese Welt zu betrachten, zu formen und zu transzendieren, ohne sie dabei aus dem Blick zu verlieren. „Ein Gedicht“, so Wagner in einem seiner poetologischen Essays zur Verteidigung der Poesie diese Haltung charakterisierend,
nimmt sich das Recht, die Dinge so zu denken und zu sehen, wie sie nie zuvor bedacht und gesehen worden sind, und lädt den Leser, seinen Partner, dazu ein, es ihm gleichzutun. Es verhilft dem geflissentlich Übersehenen zu seiner verdienten Aufmerksamkeit und läßt das nur scheinbar Banale leuchten oder, in den Worten von Shelleys Defence of Poetry, „lifts the veil from the hidden beauty of the world, and makes familiar objects be as if they were not familiar.“ Indem es das tut, fügt es der Welt gleichzeitig etwas hinzu.8
II.
Wie in einer Nussschale führt nun auch das Titelgedicht des Bandes Australien, dem als Schlussgedicht zugleich die bedeutenden, letzten Worte des gesamten Bandes eingeräumt werden, noch einmal Wagners Poetik einer ,sachlichen Romantik‘, die sich der Welt der alltäglichen Dinge annähert, um sie gleichzeitig zu überschreiten, vor. Es führt sie allerdings vor, ohne sie in ausdrücklicher und deshalb aufdringlich selbstbezüglicher Manier zum Thema zu machen. Denn ganz im Sinne von Wagners Forderung nach einer an ,Welthaltigkeit‘ wieder interessierten Lyrik, die „eine Referenz außerhalb ihrer selbst nicht nur zuläßt, sondern ausdrücklich wünscht, gleich ob es sich um Historie, Natur oder vermeintlich Alltägliches handelt,“9 ist der Einsatzpunkt, das setting wie auch die Geschichte, die das Gedicht in nahezu prosaischem Duktus ,erzählt‘ – denn tatsächlich handelt es sich bei „australien“ um ein in seiner Grundstruktur ausgesprochen narratives Gedicht – durchaus alltäglicher Natur: „[W]ir fingen mittags an:“ (V. 1), so der erzählerische Einstieg in der ersten von zehn vierversigen, weitestgehend in freien Versen gehaltenen, auf den ersten Blick ungereimten Strophen. Und es mag gewiss mit Wagners Überlegungen zu einem gelungenen Gedichtanfang, dessen Ziel es sei, die Neugier des Lesers zu wecken und ihn „über die Schwelle und in den fremden Raum des Gedichts zu locken“,10 zusammenhängen, dass eben dieser Leser erst in der dritten Strophe erfährt, womit hier angefangen wird (nämlich „wir gruben“, V. 12). Erst in der vorletzten Strophe kann er sich dann auch ein Bild davon machen, wer hier eigentlich gräbt (nämlich „zwei verschmierte / Jungen“, V. 35f.).
Zwei Jungen also, noch Kinder wahrscheinlich, einer davon offensichtlich jene Sprecherinstanz, die im durchgängigen Präteritum die Vergangenheit heraufbeschwört, die sich einen halben Tag lang (das Gedicht endet mit einem „most- / richgelben Abend“, V. 38f.) daran abarbeiten, in einer als unwirtlich skizzierten, postindustriellen Brache-Landschaft mit allerlei Zivilisationsmüll, der von „alten teppichen“ (V. 7) über ein „paläon-tologische[s] autowrack“ (V. 13f.) und „entsorgte Reifen“ (V. 21) bis zu „zerschlagen[en]“ „farbkanister[n]“ und einem „rostigen rechen“ (V. 27) reicht, ein Loch zu graben. Kinder bei der Arbeit also. Warum sie sich aber diesem mühevollen Unterfangen so ausdauernd widmen, lässt sich dann erst ab der achten Strophe und im Rückgriff auf den Titel des Gedichtes vermuten: Die beiden verfolgen ein durchaus phantastisches, eben ein typisches Kinder-Projekt, dessen Hoffnung und Ziel es ist, sich quer durch das Erdinnere bis nach Australien zu graben, wo sie dann, wenn sie denn dereinst aus dem selbst gegrabenen Loch auf der anderen Seite stiegen, von einem „Koala“ (V. 32), dem Symboltier Australiens, angestaunt würden.
So weit der narrative Kern, oder, wenn man so will, die histoire des Gedichts. An der von Wagner eingeforderten „Hinwendung zu den Dingen um uns herum, zu Gerüchen, Geräuschen und Geschichten,“11 mangelt es also „australien“ nicht, wofür vor allem der genaue Blick auf die verfallenden Gegenstände, auf die das waste land bevölkernde Fauna („grille“, „amselpärchen“, V. 25f.) und – schließlich handelt es sich um ein Jan-Wagner-Gedicht – auf die Flora („quecken“, „weißdornbüsche“ und „schilf“, V. 6, 12 und 13) sorgt. Auf dieser Ebene der Annäherung an einen Ausschnitt der alltäglichen Welt ließe sich das Gedicht also lesen als Ausdruck einer sicherlich für die meisten Leser unmittelbar nachvollziehbaren, wehmütig gestimmten Erinnerung an jene längst vergangenen Kindertage, in denen man noch voller Eifer an das Gelingen gänzlich unmöglicher Projekte der Alltagsflucht glauben konnte.
III.
Allerdings begnügt sich Wagners Poetik nicht mit der Forderung, das Gedicht möge durch seine Weltverknüpfbarkeitselemente so gemacht sein, dass es dem Leser gleichsam wie ein Ausdruck von dessen eigener Erinnerung erscheint, sondern er insistiert darüber hinaus auch, dass es das Ergebnis einer „stete[n] Reflexion der eigenen Spracharbeit“, des Bewusstseins „des Materials Sprache, seiner Möglichkeiten und Unmöglichkeiten“12 sein soll.
Auch „australien“ erschöpft sich ganz im Sinne einer solchen sprachbedachten Poetik nicht in der Zeichnung einer einfachen, welthaltigen Geschichte, sondern entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als das Ergebnis einer sentimentalischen Operation, d.h. als das Ergebnis einer bewussten, die eigenen sprachlichen Mittel reflektierenden Formgebung und Zurichtung. Wagners formaler Gestaltungswille erstreckt sich nicht nur auf die streng eingehaltene Vierversigkeit der zehn Strophen, sondern auch auf deren Reimstruktur. Folgt man dem Reimverständnis des Lyrikers, demzufolge auch „Reim[e] in Schräglage“, „Assonanzen, […], Parareime[], Konsonanzen“, kurz: der „im Englischen sogenannte slant rhyme“,13 zum unabdingbaren Formgebungsinventar der Lyrik gehören, dann erweist sich das beim ersten Lesen noch ungereimt erscheinende „australien“ als eine relativ strikte Fügung aus kreuz- und blockgereimten Strophen.14 So klingen dann – wie gleich in der ersten Strophe – konsonantisch „brache“ (V. 2) und „zerbroche-“ (V. 4, Hervorhebung G. K.),15 oder „paläon-“ (V. 13) und „ballon“ (V. 16) ebenso zusammen wie der zum „egel“ (V. 20) anagrammatisch entfremdete „gelee“ (V. 18). Dass solche ,unreinen‘ Verknüpfungen nicht nur Ausdruck einer ästhetizistischen Inszenierung der eigenen, lyrischen Virtuosität sind, sondern es tatsächlich auch gestatten, „gedanklich und bildlich in Bereiche vor[zu]dring[en], die man selbst zuvor nicht für möglich gehalten hätte“ und dergestalt „eine Öffnung, eine Ausdehnung des Gedichtraums“, ein wahrnehmungssteigerndes „Element der Überraschung“16 ermöglichen, zeigt sich schlaglichtartig in der achten Strophe: „[W]ie lange“, so fragen sich die beiden Glücksgräber hier, „bis wir es mit felsen / zu tun bekommen würden kohle- / flözen / und erz? Wie lange noch, bis irgendwo ein koala“ (V. 29–32) der beiden ansichtig würde. In einer unvermittelten, durch den visuellen Einschnitt des Strophenendes noch verstärkten Weise wird hier mit dem „koala“ zum ersten (und letzten) Mal im Gedicht selbst überhaupt der im Titel angerissene Assoziationsraum „Australien“ betreten und eröffnet. Dass Wagner den „koala“17 hier ausgerechnet auf die eher an das Ruhrgebiet gemahnenden, gemeinhin nicht unter Romantikverdacht stehenden „kohle-“flöze reimt, lässt sich in zweierlei Hinsicht lesen: Zum einen als Bekräftigung des ans Absurde grenzenden phantastischen Potentials, das dem kindlichen Grenzüberschreitungsprojekt innewohnt, zum anderen als Ausdruck jener die Dinge weitenden Poetik einer ,sachlichen Romantik‘, die qua sprachlicher Zurichtung gerade in der Umgebung des Alltäglich-Profanen das Überraschende und Wunderbare aufzeigen bzw. entstehen lassen will.
Der formale Gestaltungswille zeigt sich indes nicht erst in der Strophen- und Reimgestaltung. Schon die Wahl des weitestgehend alltäglichen, schmucklosen Sprachregisters, in dem die Geschichte der beiden ,Erddurchquerer‘ entfaltet wird, darf als ein bewusster Akt verstanden werden. Die Entscheidung für das genus humile folgt der Strategie eines lyrischen Sprechens, das ganz bewusst darauf zielt, potentielle Rezeptionsschwellen in der Begegnung mit dem einzelnen Gedicht abzusenken. Im Rekurs auf Rolf Dieter Brinkmann hat Jan Wagner diese Strategie einer prophylaktischen Zumutungsdämpfung beschrieben, die darauf abzielt, beim Leser das Misstrauen zu mindern, den „gleichzeitig vertrauten und unvertrauten Sprachraum [des Gedichts] zu betreten[:] Lyriker verfallen, um dieses Mißtrauen zu zerstreuen, gelegentlich darauf, die Sprache ihres Gedichts so alltäglich wie nur irgend möglich zu halten, sie also dem üblichen Gebrauch anzunähern: ,Ein Stück Draht, krumm‘ – so absichtsvoll in seiner Gewöhnlichkeit beginnt etwa ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann.“18 Den Kölner Lyriker darf man allerdings nicht nur als Vorbild für die Wahl des absichtsvoll gewöhnlichen Sprachregisters vermuten. Denn auch die Landschaftsschilderung in „australien“ schreibt sich ganz gezielt – und bis in Details19 – ein in die Tradition einer deemphatisierten ,Naturlyrik‘, die mit Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Landschaft“ aus dessen 1975 veröffentlichtem Gedichtband Westwärts 1 & 2 – ebenfalls einem lyrischen ,Reisejournal‘ ganz eigener Art – den „Eintritt in die neueste, die Gegenwartslyrik“20 markiert. Allerdings handelt es sich hier, wenn der in den Süden der terra australis sich imaginierende Wagner das Anti-Landschaftsgedicht „Landschaft“ des westwärts in die U.S.A. sich bewegenden Vorläufers überschreibt, nicht nur um eine connaisseurhafte Verbeugungsgeste des in den Traditionen bewanderten Späteren vor dem einstigen Innovator des lyrischen Sprechens, sondern zugleich auch um eine Verortung und Bekundung des eigenen poetischen Standortes. Gewiss, der kapitalismuskritische Impetus, dem sich Brinkmanns Lyrik noch verdankte, vibriert in Wagners Gedicht bestenfalls noch von Ferne nach; etwa in jenem „fessel- / ballon / mit seiner werbung für bier / oder gelee“ (V. 15–18), der als verheißungsvolle Insignie einer durchökonomisierten Warenwelt jenseits der Ödnis des Brachlands zwar vorüberschwebt, der aber zur Hoffnung auf einen freien Flug, in dem sich der Alltagswelt entkommen ließe, gerade – da eben ein an die Erde gebundener „fesselballon“ – keinerlei Anlass mehr gibt. Brinkmanns immer wieder auch aus dem Zorn auf die Dinge dieser Welt geborenes ,Ansingen‘ gegen diese Welt ist Wagners Lyrik fremd. Aber auch Brinkmanns eigene desillusionierte Inventur21 der die Natur verschandelnden Restbestände einer Überflussgesellschaft lässt sich ja – wie Jan Röhnert in seiner Analyse des Gedichtes zeigt – gerade nicht nur als zivilisations- und kapitalismuskritischer Kommentar zur zeitgenössischen Gegenwart lesen, sondern zugleich auch als „knappe Gebrauchsanweisung des Autors Brinkmann für den Umgang mit seinen Gedichten.“ Dergestalt, so kann Röhnert zeigen,
offenbaren die Dinge in ihrer banalen Alltäglichkeit eine verblüffende poetische Ambivalenz. Die vermeintlichen Abfälle und unentsorgbaren Warenweltreste werden zu potentiellen Trägern einer poetisch rekonstruierbaren Welt, sind Rohmaterial einer poetischen Phantasie, welche die gewöhnlichen Dinge kraft ihres ,Witzes‘ zu etwas Anderem zu transformieren vermag.22
Eine so verstandene Poetik korrespondiert wiederum recht genau mit Wagners eigenem, quasi-romantischen Verständnis, die Poesie sei eine „Magie zweiter Ordnung“,23 weil und wenn sich im lyrischen Sprechen „die Dinge zu weiten“24 beginnen und das Gedicht dem Leser „einen veränderten Blick auf die ihn umgebende Welt“25 ermöglicht. Dieses Offenbarungs- und Transformationspotential eines lyrischen Sprechens, in dem die Dinge der Welt vieldeutig werden und zu leuchten beginnen, führt Wagners Gedicht in zweifacher Weise selbst vor: Erstens dann, wenn das Gedicht die wahrgenommenen Dinge des Alltags mithilfe jener Vergleichs- und Metaphorisierungstechniken, die Wagner unter der erkenntnissteigernden Optik einer „gezielten Unschärfe“26 rubriziert, gleichsam ins Verlebendigte hinüber-spricht, wenn also das „paläon- / tologische autowrack“ plötzlich „wie ein fossil vom lehm verschluckt“ (V. 12–14) erscheint, es sich bei den zunächst heraufbeschworenen „glänzend schwarzen egel[n]“ (V. 20) eigentlich – wie der Leser aber erst in den sich anschließenden Zeilen erfährt – um „entsorgte[] Reifen“ handelt, die sich mit „schlamm und regenwasser“ (V. 21f.) vollgesogen haben, oder wenn schließlich ein „rostige[r] rechen“27 (V. 27) auf vergleichslos und deshalb kürzestem Wege zur „größere[n] vogelkralle“ (V. 28) ummetaphorisiert wird. Wer die Welt so wahrnimmt, auch dies zeigt „australien“ seinen Lesern, der ist entweder – wie die beiden grabenden Jungen, deren Optik ja die des sprechenden Ichs bestimmt – noch ein Kind oder eben schon ein Dichter. Als Kinder bei der Arbeit sozusagen hatte schließlich schon Sigmund Freud in seinem erstmals 1908 publizierten, nachmals berühmten Essay „Der Dichter und das Phantasieren“ die Dichter sehen wollen, als er den Analogieschluss zog: „Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft, oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. […] Der Dichter“ aber, so Freud weiter, „tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d.h. mit großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert.“28
Vor dem Hintergrund einer solchen Sicht indes, einer Sicht, in der sich kindliches Spiel und dichterische Arbeit wechselseitig, ihre jeweilige Würde bestätigend, kommentieren,29 wird nun – zweitens – auch das Gedicht „australien“ als Ganzes als eine Allegorie der dichterischen Tätigkeit lesbar. Denn gerade in den Reste-Brachen unserer Alltagswelt, dort, wo die achtlos entsorgten Dinge als Müll ihr Wasser bzw. ihr „schlichte[s] rinnsal“ „predig[]en“ (V. 10f.), könnte – gräbt der Dichter sich nur tief genug in seiner Spracharbeit in die Schichten der Welt hinein und durch sie hindurch30 – schließlich doch noch jener Wein zu trinken sein, mit dem der Gewinn eines neuen Territoriums, eines neuen Blicks auf die Welt gefeiert wird. Die beiden Jungen des Gedichts jedenfalls versuchen, genau wie das aus zehn Strophen bestehende Gedicht selbst, kurz vor ihrem Durchbruch und ihrem Verschwinden im „most- / richgelben Abend“31 (V. 38) bis „zehn / zu zählen“ (V. 36f.) und der zehn Silben umfassende Schlussvers liest sich wie die Bekundung einer geglückten Landnahme, wenn „am rand“ des Abendbildes, in dem das Gedicht die beiden verschwinden lässt, wie auch am äußeren Rand, d.h. am Ende des Gedichtes selbst „ein spaten steckte wie ein fahnenmast“ (V. 40). Der Spaten, das Werkzeug der phantastischen, kindlichen Tiefenbohrung, markiert das Territorium einer neu gewonnenen Welt, die – wie in Jan Wagners Poetik eben auch das Gedicht – ein Kontinent von ganz eigenem Recht und eigener Gnade ist. Das Gedicht, so Wagner,
ist […] selbst schon eine aufs erstaunlichste veränderte Welt, die man betreten kann oder auch nicht. Wer es unterläßt, verharrt im Hergebrachten. Wer den Schritt aber wagt, wird reich belohnt. Auf wenigen Quadratzentimetern bedruckten Papiers wird er einen unermeßlichen Raum entdecken, in dem zeitlich, geographisch und semantisch weit Auseinanderliegendes in Einklang, ins Klingen gerät, in dem widersprüchlichste Dinge und Paradoxien zusammenfinden.32
Diesen neuen Kontinent allerdings erreicht man unmöglich allein. Schließlich haben wir es auch im Gedicht mit zwei Kindern zu tun; eines gräbt, so darf man vermuten, da nur von einem Spaten die Rede ist, während ihm das andere dabei zuschaut. Ein solches teamwork entspricht aber genau der lyrischen Kommunikationssituation, wie Wagner sie verstanden wissen will. Auch das Gedicht, so der Lyriker, ist eine Spielgemeinschaft, zu dessen Gelingen unabdingbar zwei gehören, ein Sprechakt, der „nicht nur vom Autor initiiert, sondern auch vom Leser vollzogen werden muß, was mit nicht unerheblicher Anstrengung verbunden sein kann und stets den Willen zum spielerischen Mittun erfordert.“33
Diese Anstrengungen einer Weltdurchmessung im Wort sind allerdings, so darf man das credo von Wagners Poetik, die „australien“ am Ende des gleichnamigen Gedichtbandes noch einmal unaufdringlich und doch programmatisch zugleich ins Bild setzt, verstehen, der Mühe in jeder Hinsicht wert. Für die Lyriker stehe „das Goldene Zeitalter immer unmittelbar bevor“, scheine es immer „gerade in diesem Augenblick anzubrechen.“34 Anders gesagt: Man mag zwar am glücklichsten in Australien sein, wenn man nicht dorthin fährt, aber dank des menschenverbindenden Weltverzauberungsmediums der Poesie – so zumindest Novalis – „geht“ man ohnehin schon „[i]mmer nach Hause.“35 Mehr noch, man ist ohnehin immer schon dort, in Australien, nämlich immer dann, wenn und so lange man Gedichte wie „australien“ schreibt und liest.
Gerhard Kaiser, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017
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