– Zu Theodor Kramers Gedicht „Wenn ein Pfründner einmal Wein will“ aus Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte in drei Bänden. Erster Band. –
THEODOR KRAMER
Wenn ein Pfründner einmal Wein will
Wenn ein Pfründner einmal Wein will,
sucht er im Gemeindehaus
eine Harke, eine Schlinge,
und dazu noch eine Schwinge
geht er auf den Anger aus.
Wo die Erde fett und frisch ist,
gräbt er schwarz dem Maulwurf nach.
Raben krächzen in den Kolken,
leise ziehen weiße Wolken
und die Gräser gilben brach.
Alle Gänge hebt der Pfründner
gründlich aus, die Zunge dick,
faßt die samtnen bei den Fellen,
schlägt die traurigen Gesellen
mit dem Schaft in das Genick.
Mittags mißt der Armenvater
ihm den Trunk zu trübem Rausch.
Faulig schmeckt der Wein, die Krallen
rosenroter Zehenballen
wachsen zart in seinen Rausch.
Ein Armenhäusler bricht „beschwingt“ auf (Schwinge ist ein Mundartwort für den Tragkorb), um sich nach Lesebuchmoral sein Vergnügen durch Arbeit zu verdienen. Er macht sich nützlich für die Gemeinde, die ihm Unterhalt gewährt, und erreicht in der Gangart fast hüpfender Verse den Anger, einen alten Ort für Spiel und Tanz. Die Erde dort ist fett und frisch von vermodertem Leben. Die gilbenden Gräser, die krächzenden Raben – Unglücksboten – machen die weiß dahinziehenden Wolken verdächtig. Die Assoziation ,Schindanger‘ stellt sich ein. Das Geschäft des Dorfarmen ist nützlicher Mord. Schwarzen Wesen nachgrabend, die seinem Zugriff nicht, wie die Raben in den Kolken, entzogen sind, ist er selber der schwarze Mann.
Ein einziges Attribut, „die Zunge dick“, macht ihn häßlich vor Tötungsanstrengung, Durst und Bedürftigkeit. Den Maulwurf dagegen, den schädlichen Wühler, der mit seinen Erdaufhäufelungen die schöne Regelmäßigkeit und Brauchbarkeit des Dorfangers stört, trifft ein melancholisch-zärtlicher Blick. Der traurige Geselle ist sanft, samten, vom Paradies her dem Menschen zur Gesellung bestimmt. Doch der wendet Nahkampfmethoden an. Das Schlimmste stellt sich als Erinnerungsinhalt dar. Im Rausch kommen dem Pfründner seine Opfer immer näher, wachsen in das getrübte Bewußtsein hinein, werden von ihm ununterscheidbar. Das wuselnde Detail der Maulwurfskörper ist verdinglichte Innerlichkeit, ein Ineinander von Krallen, Zehen, Zartheit, rosiger Nacktheit. Es ist gegenständlich, was eines der berühmtesten Gedichte der deutschen Lyrik in der gebildeten Seelensprache der gehobenen Stände das „Labyrinth der Brust“ nennt.
Die Trunkenheit ist vom Faulgeschmack des schlechten Weins durchzogen, durch Mord erkauft, von Gärung und Verwesung geschwängert. Der Mörder schmeckt den Mord an den Mitgeschöpfen als eigenen Tod. Er schmeckt ihn mit einer Sinnlichkeit, die empfindlicher ist als sein Denken. Er ist selbst Opfer einer ihn entstellenden Armut und schmählichen Abhängigkeit, die seiner Existenz das Häßlich-Maulwurfsartige anheften, das die Tiere im Gedicht gerade nicht behalten. Blind wühlt er in der Erde nach seinem bißchen Lust, das doch nur armselige Hirntrübung sein kann und damit Vorwegnahme des eigenen Sterbens.
Der Armenvater, den Lohn zumessend, ist der Repräsentant der moralischen und sozialen Ordnung. Er ist gerecht im Dienst eines Systems, das als Rechtssystem auch fragwürdiges Herrschafts- und Besitzsystem ist. Eine sehr leichte Spur schwerer Verzweiflung geht von ihm zu jenem Vater, der über dem großen Armenhaus, Welt genannt, waltet. Er mißt aus dem Paradies gefallenen Pfründnern und Mördern gnadenlos ihre Belohnung zu.
In diesem Gedicht ist keine Spur von Häme und Denunziation. Auch keine antireligiöse Polemik. Nur Schmerz. Es erneuert in unserem Jahrhundert den Blick Georg Büchners auf seinen Woyzeck. Theodor Kramer lebte von 1897 bis 1958. Das Gedicht aus seiner 1929 erschienenen Gaunerzinke liegt abseits von den Leitwegen der Lyrik der Epoche – auch das wohl ein Grund, weshalb nur der kranke Lyriker, nicht sein Werk aus der englischen Emigration zurückfand. Das ähnelt der Verdrängung der großen konkreten Maler während der Alleinherrschaft der Abstrakten aller Provenienz. Eine Entdeckung nicht nur für Insider steht an. Vor kurzem erschien der dritte Band einer Ausgabe von Kramers Gedichten.
Gerhard Kaiser, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989
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