Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die achte Elegie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die achte Elegie“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Die achte Elegie

Rudolf Kassner zugeeignet

Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene. Nur unsre Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.
Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts
Gestaltung sehe, nicht das Offne, das
im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.
Ihn sehen wir allein; das freie Tier
hat seinen Untergang stets hinter sich
und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts
in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.
Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag,
den reinen Raum vor uns, in den die Blumen
unendlich aufgehn. Immer ist es Welt
und niemals Nirgends ohne Nicht:
das Reine, Unüberwachte, das man atmet und
unendlich weiß und nicht begehrt. Als Kind
verliert sich eins im stilln an dies und wird
gerüttelt. Oder jener stirbt und ists.
Denn nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr
und starrt hinaus, vielleicht mit großem Tierblick.
Liebende, wäre nicht der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen …
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem andern … Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.
Der Schöpfung immer zugewendet, sehn
wir nur auf ihr die Spiegelung des Frei’n,
von uns verdunkelt. Oder daß ein Tier,
ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.
Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
und nichts als das und immer gegenüber.

Wäre Bewußtheit unsrer Art in dem
sicheren Tier, das uns entgegenzieht
in anderer Richtung –, riß es uns herum
mit seinem Wandel. Doch sein Sein ist ihm
unendlich, ungefaßt und ohne Blick
auf seinen Zustand, rein, so wie sein Ausblick.
Und wo wir Zukunft sehn, dort sieht es Alles
und sich in Allem und geheilt für immer.
Und doch ist in dem wachsam warmen Tier
Gewicht und Sorge einer großen Schwermut.
Denn ihm auch haftet immer an, was uns
oft überwältigt, – die Erinnerung,
als sei schon einmal das, wonach man drängt,
näher gewesen, treuer und sein Anschluß
unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand,
und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat
ist ihm die zweite zwitterig und windig.
O Seligkeit der kleinen Kreatur,
die immer bleibt im Schooße, der sie austrug;
o Glück der Mücke, die noch innen hüpft,
selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles.
Und sieh die halbe Sicherheit des Vogels,
der beinah beides weiß aus seinem Ursprung,
als wär er eine Seele der Etrusker,
aus einem Toten, den ein Raum empfing,
doch mit der ruhenden Figur als Deckel.
Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß
und stammt aus einem Schooß. Wie vor sich selbst
erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung
durch eine Tasse geht. So reißt die Spur
der Fledermaus durchs Porzellan des Abends.
Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Wer hat uns also umgedreht, daß wir,
was wir auch tun, in jener Haltung sind
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –,
so leben wir und nehmen immer Abschied.

1922

 

Kommentar

Das Erstaunlichste an diesen versi sciolti ist ihr Umweg zu einem bilanzierenden Menschenbild über ein spekulatives Gegenbild aus der Tierwelt. Vermutlich stand hier der Kulturphilosoph Max Scheler Pate, der sich ausgiebig mit dem Wesen der Tiere beschäftigte und dieses gegen die Menschenwelt hielt, um eine neue philosophische Anthropologie zu begründen. Aus dem Unterschied heraus entstand bei Rilke das Bild eines bedauernswert seinsvergessenen animal triste, das den evolutionären Wettlauf der Hominiden zwar gewonnen hatte, aber dabei heimatlos geworden war, nicht wissend, wo er und wer er in diesem Universum sei.
Rilke und den Kulturphilosophen Rudolf Kassner, dem das Gedicht zugeeignet ist und den Rilke seit 1907 kannte, verbanden damals populäre kulturkonservative Anschauungen, wie sie beispielsweise auch Stefan George oder Ludwig Klages vertraten. Kassners ebenfalls im Insel-Verlag erschienenes Buch Der indische Gedanke von 1913 pries eine Kultur, deren angestammte Religiosität einen Volksorganismus schuf, der von Zerfallserscheinungen wie dem Individualismus noch frei war. Kassner schrieb das dem Glauben an die Seelenwanderung zu, der im Gegensatz zum abendländischen Schicksalsbegriff für ein geschichts- und zeitloses Lebenskontinuum verantwortlich sei. Einem sozialen und geistigen Organismus wie dem indischen sei „ein ganz allgemeines, volkstümliches Verzichten auf das Objekt, ein Dichtwerden des Menschen nach innen“ zueigen, während dagegen, „was wir Menschen Europas Persönlichkeit zu nennen übereingekommen sind, niemals ohne Gegenstand, […] also nicht ohne Zweifel und Widerspruch“ auskomme.1
Rilke, der auch Kontakt zu dem „Kosmiker“ Alfred Schuler pflegte und mehrere von dessen Vorträgen in München besucht hatte, war kein Verfechter militanter Zivilsationskritik, ließ sich aber von all diesen Einflüssen in einigen Punkten anregen. Grundsätzlicher als dem Kulturpessimismus etwa eines Oswald Spengler, ging es ihm um die menschenbildliche Anatomie der Spezies Mensch, die im Zusammenwirken von Natur und Kultur über die Jahrtausende mehr und mehr Zugeständnisse an die Kultur erfuhr.
Mit ihren Augen nach innen gewendet, so das Gedicht, habe die zwischen Geist und Leben flottierende Spezies Mensch doch nur das Gestaltete, Vorgeprägte im Blick – es ist in Schopenhauers Begriff der „Vorstellung“ enthalten –, dagegen ist ihr das „Offne, das | im Tiergesicht so tief ist“, sprich: alles von Raum, Zeit und Denken Freie verschlossen. Sie ist sozusagen kulturheimisch (oder kulturgefangen) und weltfremd. Rilke hat diese Spannung auch in anderen Gedichten thematisiert, so z.B. in „Der Einsame“ von 1903, wo es heißt:

In mein Gesicht reicht eine Welt herein,
die vielleicht unbewohnt ist wie ein Mond,
sie aber lassen kein Gefühl allein,
und alle ihre Worte sind bewohnt.

Die Dinge, die ich weither mit mir nahm,
sehn selten aus, gehalten an das Ihre –:
in ihrer großen Heimat sind sie Tiere,
hier halten sie den Atem an vor Scham.

Der Mensch, der auf sich und seine eigene Welt blickt, reflektiert sich selbst, bedenkt damit aber auch seinen eigenen Tod und ist so dem bewusst erlittenen Schmerz ausgesetzt. Das Tier dagegen ist „frei von Tod“, hat also seinen Untergang nicht vor, sondern „stets hinter sich“.
In Sachen Leid-, Todes- und Zeitbewusstheit ist das Tier somit das Gegenteil des Menschen, da es im Kontinuum der Natur und in einem Raum lebt, der frei von Zeit und Vergehen ist. Wäre der Mensch nicht auch hungrig nach Leben im Sinn der triebhaft-vitalen Kraftentfaltung – Schopenhauers „Wille“ –, wäre ihm das Tier nicht nur vollständig fremd, sondern auch keineswegs beneidenswert.
Wo Max Scheler (1975) vom „menschlichen Drama“ spricht, bringt Rilke den Begriff „Schicksal“ ins Spiel als die Bestimmung exklusiv des Menschen, sein eigenes Erleben fortwährend widerzuspiegeln und damit sich selber zum Gegenüber zu haben, was eine gewisse Gegnerschaft und Spaltung einschließt.

Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
und nichts als das und immer gegenüber

Sich (als Subjekt) selber stets gegenüber und somit entgegenzustehen und damit gewissermaßen ein Anderer, ein fremdes Objekt zu sein, bedingt mit der Notwendigkeit der Selbstbestimmung das Ringen um Identität und Orientierung.
Die überraschende Wendung im Gedicht erfolgt dort, wo auch dem Tier „Schwermut“ bescheinigt wird, als sei es eben doch mit Bewusstheit ausgestattet. Die Konstrastierung von Mensch und Tier ist damit eingeschränkt, denn auch Tiere haben „Erinnerung“ – Scheler (1975) spricht von „Biopsyche“ –, vor allem, so folgert Rilke, die Erinnerung an „Heimat“, was Ursprung, Herkunft und letztlich Mutterschoß bedeutet. In seinem Hier und Jetzt „ist alles Abstand, | und dort wars Atem“, nämlich die Wärme des Nests und Nähe der Mutter. Zu diesem „Abstand“ gehört z.B. beim Vogel das Fliegen, alle Bewegung „hinaus“, weg vom Ursprung in eine plötzlich von der Distanz zerrissene Welt. Da in ihr alles unheil ist, „zerfällt“ auch alle Ordnung. Das Leben ist auf „Abschied“ gestellt.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00