Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die fünfte Elegie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die fünfte Elegie“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Die fünfte Elegie

Frau Hertha Koenig zugeeignet

Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig
Flüchtigern noch als wir selbst, die dringend von früh an
wringt ein wem – wem zu Liebe
niemals zufriedener Wille? Sondern er wringt sie,
biegt sie, schlingt sie und schwingt sie,
wirft sie und fängt sie zurück; wie aus geölter,
glatterer Luft kommen sie nieder
auf dem verzehrten, von ihrem ewigen
Aufsprung dünneren Teppich, diesem verlorenen
Teppich im Weltall.
Aufgelegt wie ein Pflaster, als hätte der Vorstadt-
Himmel der Erde dort wehe getan.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaUnd kaum dort,
aufrecht, da und gezeigt: des Dastehns
großer Anfangsbuchstab …, schon auch, die stärksten
Männer, rollt sie wieder, zum Scherz, der immer
kommende Griff, wie August der Starke bei Tisch
einen zinnenen Teller.

Ach und um diese
Mitte, die Rose des Zuschauns:
blüht und entblättert. Um diesen
Stampfer, den Stempel, den von dem eignen
blühenden Staub getroffnen, zur Scheinfrucht
wieder der Unlust befrucheten, ihrer
niemals bewußten, – glänzend mit dünnster
Oberfläche leicht scheinlächelnden Unlust.

Da, der welke, faltige Stemmer,
der alte, der nur noch trommelt,
eingegangen in seiner gewaltigen Haut, als hätte sie früher
zwei Männer enthalten, und einer
läge nun schon auf dem Kirchhof, und er überlebte den andern,
taub und manchmal ein wenig
wirr, in der verwitweten Haut.

Aber der junge, der Mann, als wär er der Sohn eines Nackens
und einer Nonne: prall und strammig erfüllt
mit Muskeln und Einfalt.

Oh ihr,
die ein Leid, das noch klein war,
einst als Spielzeug bekam, in einer seiner
langen Genesungen . . . .

Du, der mit dem Aufschlag,
wie nur Früchte ihn kennen, unreif,
täglich hundertmal abfällt vom Baum der gemeinsam
erbauten Bewegung (der, rascher als Wasser, in wenig
Minuten Lenz, Sommer und Herbst hat) –
abfällt und anprallt ans Grab:
manchmal, in halber Pause, will dir ein liebes
Antlitz entstehn hinüber zu deiner selten
zärtlichen Mutter; doch an deinen Körper verliert sich,
der es flächig verbraucht, das schüchtern
kaum versuchte Gesicht … Und wieder
klatscht der Mann in die Hand zu dem Ansprung, und eh dir
jemals ein Schmerz deutlicher wird in der Nähe des immer
trabenden Herzens, kommt das Brennen der Fußsohln
ihm, seinem Ursprung, zuvor mit ein paar dir
rasch in die Augen gejagten leiblichen Tränen.
Und dennoch, blindlings,
das Lächeln . . . . .

Engel! o nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut.
Schaff eine Vase, verwahrs! Stells unter jene, uns noch nicht
offenen Freuden; in lieblicher Urne
rühms mit blumiger schwungiger Aufschrift:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa„Subrisio Saltat.“.
Du dann, Liebliche,
du, von den reizendsten Freuden
stumm Übersprungne. Vielleicht sind
deine Fransen glücklich für dich –,
oder über den jungen
prallen Brüsten die grüne metallene Seide
fühlt sich unendlich verwöhnt und entbehrt nichts.
Du,
auf alle des Gleichgewichts schwankende Waagen
immerfort anders
hingelegte Marktfrucht des Gleichmuts,
öffentlich unter den Schultern.

Wo, o wo ist der Ort – ich trag ihn im Herzen –,
wo sie noch lange nicht konnten, noch von einander
abfieln, wie sich bespringende, nicht recht
paarige Tiere; –
wo die Gewichte noch schwer sind;
wo noch von ihren vergeblich
wirbelnden Stäben die Teller
torkeln . . . . .

Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich
die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig
unbegreiflich verwandelt –, umspringt
in jenes leere Zuviel.
Wo die vielstellige Rechnung
zahlenlos aufgeht.

Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz,
wo die Modistin, Madame Lamort,
die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder,
schlingt und windet und neue aus ihnen
Schleifen erfindet, Rüschen, Blumen, Kokarden,
künstliche Früchte –, alle
unwahr gefärbt, – für die billigen
Winterhüte des Schicksals.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten,
auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier
bis zum Können nie bringen, ihre kühnen
hohen Figuren des Herzschwungs,
ihre Türme aus Lust, ihre
längst, wo Boden nie war, nur an einander
lehnenden Leitern, bebend, – und könntens,
vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten:
Würfen die dann ihre letzten, immer ersparten,
immer verborgenen, die wir nicht kennen, ewig
gültigen Münzen des Glücks vor das endlich
wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem
Teppich?

1922

 

Kommentar

Die längste der Elegien, von der ihr Autor meinte: „ich weiß nicht, ob sie mir nicht die liebste ist“,1 ist ein akrobatischer Akt von Worten, Zeilensprüngen, gebrochenen Sätzen, abstrakten Bildern, Chiffren, Abbreviaturen. Wer (sich selbst) am leichten Verstehen hindern will, dichtet so, seine Gedankenwelt implodiert förmlich, splittert kaleidoskopisch, macht Lesen zur Forscherarbeit.
Beginnen wir mit der Szenerie: Umherziehende Gaukler, Akrobaten auf einem Platz in Paris, die ihre Kunststücke darbieten: Jongladen, Überschläge, Salti, Seiltanz, Pyramiden … Unter den Passanten der Erzähler, der sich – als Dichter – sogleich mit ihnen identifiziert. Die „Fahrenden“ auf der einen, die Sesshaften auf der anderen Seite, dazwischen so viel innerer Abstand, dass die Gedanken arbeiten, hin- und herfliegen, ein Feld für Projektionen. Bewunderung, Neid, Verachtung melden sich gleichzeitig, ein Schauplatz der sozialen Gegensätze, wie sie sich in der Stimmung der Menschen niederschlagen. Charles Baudelaire hat die sozialen Unterschied in seinem Prosagedicht „Le vieux saltimbanque“ („Der alte Gaukler“) dramatisch gestaltet, das zum Werkhintergrund dieser Elegie gehört:

Au bout, à l’extrême bout de la rangée de baraques, comme si, honteux, il s’était exilé lui-même de toutes ces splendeurs, je vis un pauvre saltimbanque, voûte, caduc, décrépit, une ruine d’homme, adossé contre un des poteaux de sa cahute ; une cahute plus misérable que celle du sauvage le plus abruti, et dont deux bouts de chandelles, coulants et fumants, éclairaient trop bien encore la détresse.
Partout la joie, le gain, la débauche ; partout la certitude du pain pour les lendemains ; partout l’explosion frénétique de la vitalité. Ici la misère absolue, la misère affublée, pour comble d’horreur, de haillons comiques, où la nécessité, bien plus que l’art, avait introduit le contraste. Il ne riait pas, le misérable ! Il ne pleurait pas, il ne dansait pas, il ne gesticulait pas, il ne criait pas ; il ne chantait aucune chanson, ni gaie ni lamentable, il n’implorait pas. Il était muet et immobile. Il avait renoncé, il avait abdiqué. Sa destinée était faite.2

Am Rand, am äußersten Rand der Budenreihe, als habe er sich aus Scham selbst aus all diesem Glanz verbannt, sah ich einen armen Gaukler, gebeugt, hinfällig, altersschwach, eine Ruine von Mensch, an einen Pfosten seiner Hütte gelehnt; eine Hütte, elender als die eines völlig stumpfsinnigen Wilden, in der zwei Kerzenstummel, tropfend und rußend, noch genügend Licht auf das Elend warfen.
Ringsum Freude, Reibach, Ausschweifung; ringsum das Brot für morgen im Kasten; ringsum die tobende Explosion der Lebenskraft. Hier das nackte Elend, das Elend, das, um das Grauen voll zu machen, mit lächerlichen Lumpen ausstaffiert war, bei denen mehr die Not als die Kunst für Kontraste gesorgt hatte. Er lachte nicht, der Elende! Er weinte nicht, er tanzte nicht, er fuchtelte nicht mit den Händen, er schrie nicht; er sang kein Lied, kein fröhliches, kein trauriges, er flehte nicht. Er war stumm und starr. Er hatte entsagt, hatte aufgegeben. Sein Schicksal hatte sich erfüllt.
(Übers. Klee 2018)

Rilke beobachtete seine Straßenszene im Juli 1907 und schilderte sie ausführlich in seinem Prosagedicht „Vor dem Luxembourg“, das den Baudelaire-Text im Blick hatte. An die Bildhauerin Dora Herxheimer schrieb er:

Ich war eben im Luxembourg; davor, nach dem Pantheon zu, hat wieder Père Rollin mit den Seinen sich ausgebreitet, derselbe Teppich liegt da, dieselben abgelegten Mäntel […] Aber Père Rollin, der die schweren Gewichte schwenkte, „arbeitet“ nicht mehr und sagt kein Wort. Er ist aufs Trommeln gesetzt. Rührend geduldig steht er da mit seiner Kraft, die nicht mehr recht zu brauchen ist, obwohl sie für das Trommeln noch ein bißchen zu groß ist.3

Zu den Quellen dieser Elegie ist seit spätestens 1914 auch Picassos Ölgemälde La famille des saltinbanques zu rechnen, das er der Kunstsammlerin Hertha Koenig zum Kauf empfohlen hatte, bevor er es in deren Münchner Wohnung im Jahr darauf einige Monate lang vor sich sehen und bewundern konnte. Es soll dieselbe Gauklertruppe darstellen, die Rilke im Jardin du Luxembourg einst erlebt hatte.
Wenn es einen Augenblick der Epiphanie gibt, der dieses Erlebnis und später das Gedicht anstößt, dann „plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich | die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig | unbegreiflich verwandelt –, umspringt | in jenes leere Zuviel. | Wo die vielstellige Rechnung | zahlenlos aufgeht.“
Das ist die Kernstelle des Gedichts, die ein Existenzgefühl auf den Punkt bringt, mit dem „die Fahrenden, diese ein wenig | Flüchtigern noch als wir selbst“, die neuere Geschichte der Odyssee schreiben. Mit Paris als Kulisse, dem „unendlichen Schauplatz. | wo die Modistin, Madame Lamort, | die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder, | schlingt“, ist eine Weltbühne gefunden, die den Tod (La Mort) beherbergt, indem sie ihm alle Formen der Verkleidung bietet. Im Rampenlicht der Vergänglichkeit repräsentieren die schaustellenden Gaukler nun das ambivalente Humanum, das sich theatralisch zum Himmel streckt, während es zur Unbedeutenheit schrumpft, wobei Letzteres, das „reine Zuwenig“, mit der conditio humana versöhnt, Ersteres aber, das „leere Zuviel“, in hybridem Selbstbetrug endet.
Die traditionellen Possenreißer sind es also – Picasso malt einen Harlekin (im Flickenkaro) und einen Narren/Bajazzo (mit Zipfelkappe) –, die dem bürgerlichen Umfeld mit seinen „Rüschen, Blumen, Kokarden. | künstlichen Früchten –, alle | unwahr gefärbt“ einen Spiegel vor- und eine Welt entgegenhalten, die das vanitas vanitatem beherzigt und jene „Engel“ evoziert, welche die Utopie des kosmischen Einklangs symbolisieren.
Auch wenn sie das „englische“ Gardemaß verfehlen („dies hier | bis zum Können nie bringen“), werden „Liebende“ einmal mehr als Maß des Seins berufen, kommen sie doch in der Verschmelzung von Innen und Außen der Kreatürlichkeit am nächsten. Ihre „Figuren des Herzschwungs, | ihre Türme aus Lust, ihre | längst, wo Boden nie war, nur aneinander | lehnenden Leitern“ machen sie zu Artisten des Seins, jenen Akrobaten vergleichbar.
Dabei zeigt sich im philosophischen Horizont, dass jener „Riß in der Schöpfung von oben bis unten“, den einst Georg Büchner im Danton auf „das leiseste Zucken des Schmerzes“ zurückführte,4 derselbe ist, der das menschliche Bewusstsein von seiner Körperlichkeit trennt und so das Sein im Ganzen wie auch das Ganzsein verhindert.
Selbst wenn das bei Rilke nicht der berühmte „Fels des Atheismus“5 ist, so ist doch das Leid die bestimmende Ursache der anthropologischen Tragödie, insofern das Bewusstsein des Schmerzes dafür verantwortlich ist. Der Erzähler, der die Darbietung der Artistenpyramide als das vegetative Zusammenspiel von Muskeln und Nerven erlebt, sieht einen unbewussten Sehwarmorganismus vor sich, dem solches Leiden erspart ist. Er ruft die Akteure an: „Oh ihr, | die ein Leid, das noch klein war, | einst als Spielzeug bekam, in einer seiner | langen Genesungen …..“ und spricht von ihrer „niemals bewußten […] Unlust“, die andernfalls das Zusammenspiel verhinderte.
An dieser Stelle kulminiert die Bildsymbolik im erlösenden „Lächeln“ der jungen Akrobatin („Und dennoch, blindlings, | das Lächeln“). Wir kennen es u.a. aus dem Gedicht „Das Karussell“, wo es als „seliges, das blendet und verschwendet | an dieses atemlose blinde Spiel“, den Moment des unbewussten Glücks am Beispiel des karussellfahrenden Kindes bezeichnet. Es ist dieses Lächeln, das nach Rilke als „das Consentement des Geistes, in uns zu sein“, den Einklang von Körper und Geist in der „Anmut, Leichtheit, Heiterkeit“6 leistet und damit die duale Spaltung im kosmischen Einklang lindert.
Es ist daher naheliegend, dass angesichts der Demonstration des Unbewussten im perfekten Automatismus der Artistennummer eben jener „Engel“ wieder erscheint, der die anthropologische Tragödie vergessen lässt, indem er die Kräfte der Natur zur Heilung sammelt, diesmal mit einer Abbreviatur („Saltat[orum]“) im Apothekerjargon, die übersetzt „Lächeln der Springer“ bedeutet:

Engel! o nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut.
[…] rühms mit blumiger schwungiger Aufschrift.

,Subrisio Saltat.‘.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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