– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die neunte Elegie“. –
RAINER MARIA RILKE
Die neunte Elegie
Warum, wenn es angeht, also die Frist des Daseins
hinzubringen, als Lorbeer, ein wenig dunkler als alles
andere Grün, mit kleinen Wellen an jedem
Blattrand (wie eines Windes Lächeln) –: warum dann
Menschliches müssen – und, Schicksal vermeidend,
sich sehnen nach Schicksal?…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaOh, nicht, weil Glück ist,
dieser voreilige Vorteil eines nahen Verlusts.
Nicht aus Neugier, oder zur Übung des Herzens,
das auch im Lorbeer wäre . . . . .
Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar
alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das
seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Einmal
jedes, nur einmal. Einmal und nicht mehr. Und wir auch
einmal. Nie wieder. Aber dieses
einmal gewesen zu sein, wenn auch nur einmal:
irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.
Und so drängen wir uns und wollen es leisten,
wollens enthalten in unsern einfachen Händen,
im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen.
Wollen es werden. – Wem es geben? Am liebsten
alles behalten für immer … Ach, in den andern Bezug,
wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier
langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins.
Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein,
also der Liebe lange Erfahrung, – also
lauter Unsägliches. Aber später,
unter den Sternen, was solls: die sind besser unsäglich.
Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands
nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern
ein erworbenes Wort, reines, den gelben und blaun
Enzian. Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, –
höchstens: Säule, Turm … aber zu sagen, verstehs,
o zu sagen so, wie selber die Dinge niemals
innig meinten zu sein. Ist nicht die heimliche List
dieser verschwiegenen Erde, wenn sie die Liebenden drängt,
daß sich in ihrem Gefühl jedes und jedes entzückst?
Schwelle: was ists für zwei
Liebende, daß sie die eigne ältere Schwelle der Tür
ein wenig verbrauchen, auch sie, nach den vielen vorher
und vor den Künftigen …, leicht.
Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat.
Sprich und bekenn. Mehr als je
fallen die Dinge dahin, die erlebbaren, denn,
was sie verdrängend ersetzt, ist ein Tun ohne Bild.
Tun unter Krusten, die willig zerspringen, sobald
innen das Handeln entwächst und sich anders begrenzt.
Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.
Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm
kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall,
wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig
ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,
als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.
Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest
bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil.
Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser,
wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt,
dient als ein Ding, oder stirbt in ein Ding –, und jenseits
selig der Geige entgeht. – Und diese, von Hingang
lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,
traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.
Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln
in – o unendlich – in uns! Wer wir am Ende auch seien.
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag
Erde, du liebe, ich will. O glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen, einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.
Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger . . . . . Überzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen.
1912/22
„Überzähliges Dasein | entspringt mir im Herzen“ – Rilkes vitalistischer Ton, der in der „Siebenten Elegie“ das „Hiersein ist herrlich“ hervorbrachte, wird hier noch einmal wiederaufgelegt und zeitigt ein vor gestotterter Daseinfreude kaum mehr verständliches Gedicht. Während in jener die sorgsam geordneten Distichen den tragenden Ruf der Lerche nachahmen, sind sie in dieser immer wieder moduliert und freirhythmisch abgewandelt. Der Naturlaut ist nun ein Menschenlaut, der dem schnelleren Atem eines unbedingten Willens folgt:
Erde, du liebe, ich will.
„Preise dem Engel die Welt“, heißt dann die Devise, ein Bekenntnis zum „Hiersein“ und zum konkret „Säglichen“ („Sag ihm die Dinge“). Der mythopoetische Kraftakt, der sich eher mit dem „Weltall“ als den „Dingen“ beschäftigte, ist ausgesetzt oder gar zu Ende. Man ist versucht eine biografische Klammer zu sehen: Der Elegienzyklus neigt sich dem Ende zu.
Aber offenbar ist das „Sägliche“ und das Tatsächliche nicht eins. Große Gefühle („herrlich Erfühltes“) gehören nicht dazu; fühlen heißt nicht sprechen, wissen einmal mehr die Liebenden. Dann: Die Zeit hat sich gewandelt. Die industrielle Welt entzieht uns mit der Erlebensfülle die Vorstellung: „Tun ohne Bild“ wird zum Standard; Abstraktion statt „In-der-Welt-Sein“,1 wie Heidegger es als Einheit von Subjekt und Welt definiert. Doch der Dichter bleibt bei seinem lebensphilosophischen „Siehe, ich lebe“ und ist sich sicher: „Zwischen den Hämmern besteht | unser Herz“, will sagen: Das industrielle Zeitalter, so sehr es uns terrorisiert, es kann unseren Gefühlen nichts anhaben.
Der Wert des Lebens bemisst sich an seiner Einmaligkeit. Das Singuläre ist kostbar, wie das Ephemere schön ist, weil es der Vergänglichkeit frönt:
diese, von Hingang
lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,
traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.
Es ist dieses „Rühmen“, das das Einverständnis mit der conditio humana besiegelt, das Jasagen zum Leben, das zugleich das Weltvertrauen begründet; dasselbe, das sogar den Tod, als Gabe der Erde, ,vertrauenswürdig‘ macht („der vertrauliche Tod“). Rilkes Ausflug ins Weltall scheint damit zu Ende, das platonische Zeitalter abgelebt. Hier herrscht jetzt Aufbruchsstimmung. Was wir haben, haben wir. Es ist genug.
„Was solls?“ fragt nur der Fatalist oder der Abgeklärte. Bei Rilke wirkt der flapsige Stil (den er in der „Zehnten“ noch forcieren wird), wie ein Zugeständnis an die Leser, die seinen hohen Ton endgültig satt haben. Aber dahinter steht eine Selbstdistanzierung, die bei diesem von vielen Bewunderten einer Selbstentweihung und einem Anflug von Selbstironisierung gleichkommt. Der Dichter tritt ab, weil jetzt die Dinge auf der Hand liegen. „Er wird staunender stehn; wie du standest | bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil“, erinnert er seine Ägyptenreise. Das Ritual, die Feier des Unmöglichen, das Überstrecken nach dem Sternenhimmel ist aus, nun tritt man den Heimweg an.
Was bleibt? Wenn die Frage nach der „Neunten“ schon erlaubt ist (bei Beethoven war sie das), so bleibt überraschend viel, genug, um jedem die Lektüre zur Pflicht zu machen. Es bleibt nach dem großen Gestammel der Elegien ein Menschenbild, das gegen alle Anstürme der Fantasie, Philosophie, Anthropologie und Mythologie sich inmitten der Stürme des Materialismus behauptet.
Menschsein ist eine Tragödie, aber der Utilitarismus macht sie nicht tragischer. Retrotopia gibt es so wenig wie Utopia. Die Verzweiflung Hölderlins mündet in kein neues Zeitalter, so wenig es einen Hyperion, eine Diotima je gab. Das Sein, das wir den Tieren neiden, das Natursein, scheitert nicht notwendig am Geist, aber die Wege zur Versöhnung sind nicht kartographiert. Dass es ein en kai pan, einen Mikrokosmos gibt und dass wir im Naturganzen wie der Fisch im Wasser schwimmen, scheint möglich, wenn wir von den alten Weisheitslehren lernen, aber die dazu nötige Persönlichkeit darf keinem Individualismus, keinem Egalitarismus, keinem Materialismus zum Opfer fallen.
Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022
Schreibe einen Kommentar