Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die sechste Elegie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die sechste Elegie“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Die sechste Elegie

Feigenbaum, seit wie lange schon ists mir bedeutend,
wie du die Blüte beinah ganz überschlägst
und hinein in die zeitig entschlossene Frucht,
ungerühmt, drängst dein reines Geheimnis.
Wie der Fontäne Rohr treibt dein gebognes Gezweig
abwärts den Saft und hinan: und er springt aus dem Schlaf,
fast nicht erwachend, ins Glück seiner süßesten Leistung.
Sieh: wie der Gott in den Schwan
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa. . . . . . . Wir aber verweilen,
ach, uns rühmt es zu blühn, und ins verspätete Innre
unserer endlichen Frucht gehn wir verraten hinein.
Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens,
wenn die Verführung zum Blühn wie gelinderte Nachtluft
ihnen die Jugend des Munds, ihnen die Lider berührt:
Helden vielleicht und den frühe Hinüberbestimmten,
denen der gärtnernde Tod anders die Adern verbiegt.
Diese stürzen dahin: dem eigenen Lächeln
sind sie voran, wie das Rossegespann in den milden
muldigen Bildern von Karnak dem siegenden König.

Wunderlich nah ist der Held doch den jugendlich Toten. Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige. Aber,
das uns finster verschweigt, das plötzlich begeisterte Schicksal
singt ihn hinein in den Sturm seiner aufrauschenden Welt.
Hör ich doch keinen wie  ihn. Auf einmal durchgeht mich
mit der strömenden Luft sein verdunkelter Ton.

Dann, wie verbärg ich mich gern vor der Sehnsucht: O wär ich,
wär ich ein Knabe und dürft es noch werden und säße
in die künftigen Arme gestützt und läse von Simson,
wie seine Mutter erst nichts und dann alles gebar.

War er nicht Held schon in dir, o Mutter, begann nicht
dort schon, in dir, seine herrische Auswahl?
Tausende brauten im Schooß und wollten er sein,
aber sieh: er ergriff und ließ aus –, wählte und konnte.
Und wenn er Säulen zerstieß, so wars, da er ausbrach
aus der Welt deines Leibs in die engere Welt, wo er weiter
wählte und konnte. O Mütter der Helden, o Ursprung
reißender Ströme! Ihr Schluchten, in die sich
hoch von dem Herzrand, klagend,
schon die Mädchen gestürzt, künftig die Opfer dem Sohn.

Denn hinstürmte der Held durch Aufenthalte der Liebe,
jeder hob ihn hinaus, jeder ihn meinende Herzschlag,
abgewendet schon, stand er am Ende der Lächeln, anders.

1922

 

Kommentar

Rilkes „Helden-Elegie“, wie er sie selbst nannte,1 ist keine Elegie, sondern eine Hymne auf den elementaren Vitalismus, der einen deutschen „Dichter“ wohl besonders beeindrucken musste, besonders, wenn er Hölderlins Schimpftiraden auf die Deutschen kannte, etliche Seiten des Hyperion, die ex negativo einem Typus gewidmet sind, den man dann allerdings nicht „Held“, sondern (wie Hölderlin) „Mensch“ nennen sollte.
Dass Rilke dennoch von „Held“ spricht, ist kein Lapsus, sondern eine zeitgemäße Chiffrierung des Nietzsche’schen „Übermenschen“, der einem Intellektuellen stets als potenzstrotzender Schicksalsliebling erscheinen musste, da er sich ihm an Lebenskraft, Instinkt und – mit Schopenhauer zu sprechen – „Willen“ unterlegen fühlt.
Und mit diesem Begriff engt sich Rilkes vitalistischer Ansatz auch ein und bildet eine Brücke zur lebensphilosophischen Anthropologie Max Schelers sowie der Kulturphilosophie Henri Bergsons oder Georg Simmels, deren Schriften bzw. Vorlesungen er kannte. Ihnen ging es besonders um den dialektischen Widerstreit zwischen Bewusstsein und Materialität, Intellekt und Intuition, Ratio und Instinkt. Für Scheler (1975) war das „menschliche Drama“ von der Wesensverschiedenheit von Leben und Geist bestimmt; beide (interaktiven) Komponenten begründen ein hybrides Menschenbild, das den mit Descartes neuzeitlich aufgelegten christlichen Dualismus von Körper und Geist/Seele variiert und dabei einen menschenspezifischen modus vivendi ausmacht.
Was Rilke an der Scheler’schen Anthropologie vermutlich am meisten ansprach, war die Kontrastierung von Mensch und Tier unter dem Gesichtspunkt der Natur-Evolution, die der Mensch als „Träger des Geistes“ nicht mitgemacht habe, wobei ihm das Tier in seiner biopsychischen Intelligenz zwar grundsätzlich nachstehe, aber nicht generell unterlegen sei.

Das neue [durch „Geist“ begründete, Vf.] Prinzip steht außerhalb alles dessen, was wir „Leben“ im weitesten Sinne nennen können: Das, was den Menschen allein zum „Menschen“ macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens – erst recht nicht nur eine Stufe der einen Manifestationsform dieses Lebens, der „Psyche“ –, sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip, eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die „natürliche Lebensevolution“ zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das „Leben“ ist.2

Wenn wir es in Rilkes Gedicht nicht mit einem Tier, sondern einer Pflanze zu tun bekommen, ist das vermutlich nicht Scheler, sondern der Feige (lat. ficus von fecundus „fruchtbar“) als Sexualtopos und einer Analogie geschuldet, die allerdings den Botaniker kaum überzeugen dürfte. Natürlich „überschlägt“ die Feige nicht die Blüte, wie Rilke das gerne hätte – und ein „beinah ganz“ gibt es in der Natur nicht –, sondern sie blüht nur anders, nämlich nach außen unauffällig ins Innere der Blütenstände hinein. Wenn nach mindestens drei Monaten dann die Früchte daraus wachsen, nehmen diese den Blütenstand auf, so dass tatsächlich der Anschein der unterdrückten Blüte besteht. Nicht umsonst spricht man auch von einer „Scheinfrucht“, integriert diese doch u.a. den nämlichen Blütenstand, ja scheint zuweilen selber sowohl Blüte als auch Frucht zu sein.
Bedeutungsschwer kommt die Feige als Topos daher, nicht nur wegen des Feigenblatts im biblischen Kontext der Genesis oder als heiliger Baum Krishnas, Demeters, Dionysos’ und Priapus’ in der griechisch-römisch-indischen Antike, sondern auch wegen ihres ehrwürdigen Alters als eine der ältesten (jungsteinzeitlichen) Kulturpflanzen überhaupt.3 Nicht zuletzt darf man an die Feige als Vulva- oder Hoden-Synonym in einigen mediteranen Ländern denken, deren Holz beispielsweise auch für die Herstellung ritueller Phallus-Plastiken benutzt wurde.
Das Motiv der Fruchtbarkeit wird dann auch in der Simson/Samson-Geschichte des Alten Testaments aufgenommen, wo der Verkündigungsengel der unfruchtbaren Frau des Manoach die Geburt eines Sohnes prophezeit (Ri 13, S. 1–24). Das Gedicht rühmt Simson seiner sagenhaften Stärke wegen, die ihn zum Zerreißen eines Löwen (Ri 14, S. 6) und selbst noch als Geblendeten dazu befähigt, in einem Racheakt die Säulen des Tempels niederzureißen und sich und 3.000 Philister darunter zu begraben (Ri 16, S. 27–31).
Rilkes Bezüge sind also mannigfach und klar ist auch, dass er ihrer Bedarf, um seinen wuchtigen Existenzentwurf in einen naturwüchsigen Kontext und in den Horizont der zeitgenössischen Kulturkritik zu stellen. Dass hier außerdem wie in den anderen Elegien Hölderlin mitspricht, gehört zum Rilke’schen Siegel, das sich mit idealistischer Melancholie legitimiert. Allein der letzte Abschnitt nimmt das Setting der „Rhein“-Hymne auf der jugendlich brachiale „Rhein“ entspricht dem Löwenbesieger Simson –, wo es beispielsweise in der fünften Strophe heißt:

Drum ist ein Jauchzen sein Wort.
Nicht liebt er, wie andere Kinder,
In Wickelbanden zu weinen,
Denn, wo die Ufer zuerst
An die Seit ihm schleichen, die krummen,
Und durstig umwindend ihn,
Den Unbedachten, zu ziehn
Und wol zu behüten begehren
Im eigenen Zaume lachend,
Zerreisst er die Schlangen und stürzt
Mit der Beut’, und wenn in der Eil’
Ein Grösserer ihn nicht zähmt,
Ihn wachsen lässt, wie der Bliz, muss er
Die Erde spalten, und wie Bezauberte fliehn
Die Wälder ihm nach, und zusammen sinkend die Berge
.4

Was Rilke wohl am meisten mit Hölderlin verbindet, ist der Schicksalsbegriff, der dem Heroischen unterlegt ist. Das „Heldenschicksal“, wie Hölderlin es nennt, ist der Inbegriff des vitalistischen Lebenssinns, da sich in ihm eine kosmische Bestimmung und ein unabänderlicher „Wille“ treffen.
Vereinfachend könnte man sagen: Der „Held“ hat keine mühsam dem Leben abgerungene „Biografie“, sondern lebt seine self-fulfilling prophecy, strebt also einem inneren Gesetz gemäß ein telos, ein Ziel an. Diese Entelechie zeichnet den Hölderlin’schen „Göttersohn“ aus wie den Rilke’schen Helden, mit dem Unterschied freilich, dass dieser kein Ideal, auch keine Utopie und schon gar kein Zugeständnis an den nationalchauvinistischen Zeitgeschmack ist, sondern eine poetische Fiktion, die Rilkes Leben gegenspiegeln soll. Ihr zielprogrammiertes inneres Uhrwerk bedingt die größere Lebensgeschwindigkeit, so dass es scheint:

er springt aus dem Schlaf.
fast nicht erwachend, ins Glück seiner süßesten Leistung

Zu fragen ist: Was beklagt der Dichter oder sein Sprecher im Gedicht? Geht es um das klassische „ars longa, vita brevis“, das die Kürze des Lebens dem langen Weg bis zur künstlerischen Vollendung entgegenhält? Beklagt er die Ereignisarmut des Lebens oder die Mühen von Wachstum und Reifung, die, wenn jemals abgeschlossen, bereits das nahe Ende bedeuten? Beschört er die Nonchalance des ,Dahinstürmenden‘, der es sich erlauben kann, die „Aufenthalte der Liebe“ geringzuschätzen und damit „jeden ihn meinenden Herzschlag“ achtlos zu ignorieren?
Mit „den jugendlich Toten“ vor Augen scheint Rilke nicht nur ein dichteres Daseinsmodell vorzuschweben, sondern ein komprimiertes Sein, das keine Zeit mit dem Werden verliert. Wenn einer wie Rilke endlich am Ziel seiner Bestrebungen angekommen ist – das erleichterte „Heureka!“ am Ende der fulminanten Werkphase im Februar 1922 beweist das –, erscheinen die langen Jahre der scheinbar vergeblichen Suche als Jahre der Stagnation, Zeitvergeudung, vor allem aber als leidvolles Auf-der-Stelle-Treten, das krank macht vor Selbstzweifel, Ungewissheit und Ungeduld. Sein „Held“ scheint da ein verkappt selbstironisches Gegenbild zu sein, das den Wunsch nach einem da capo unter anderen Vorzeichen weckt:

O wär ich.
wär ich ein Knabe und dürft es noch werden und säße

in die künftigen Arme gestützt und läse von Simson

So gesehen ist die Elegie ein verspätetes, ein nachgerufenes „Du mußt dein Leben ändern“ aus dem Archäischen. Torso Apollos – und eine Demontage des mythischen Helden, der ja doch, bei aller Vorzugsbehandlung des Schicksals, der condition humaine zugeschlagen, ja deren strengster Bedingung unterworfen wird: dem frühen Tod.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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