Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbst“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbst“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

1902

 

Kommentar

Die Fiktion einer großen Geborgenheit, die sich als solche verrät, weil die Andeutung ihrer anthropomorphen Transzendenz nicht genug ist, nicht genug sein kann angesichts dessen, was auf dem Spiel steht: „Einer“ – wer ist das schon? Eine Gottheit (und warum männlich)? Ein numinoses Wesen? Ein Raunen in den Nebel des Universums hinein? Das alles zugleich?
Eine Verführung ist es allemal, weil die Analogien allzu schön sind: das Fallen der Blätter gar „mit verneinender Gebärde“ – dagegen z.B. Dylan Thomas’ wütende Totenklage: „Do not go gentle into that good night. | Rage, rage against the dying of the light“1The New Oxford Book of English Verse 1250–1950. Chosen and Edited by Helen Gardner, Clarendon Press, 1972, S. 942 –, die „Einsamkeit“ unter Sternen, die Himmelsgärten usw. Der Tod ist ein romantisches Ereignis, eine Art Weltraumspaziergang mit freundlichem Exit.
Zu wenig das alles für verlässliches, gar tröstliches Wissen. Eher eine Demonstration des Unwissens mit poetischem Hintersinn und dekorvoller Kulisse. Ein metaphysisches Lullaby als Prüfstein für Atheisten? Die mythischen Menschenhände scheinen jedenfalls ein Armutszeugnis der Fantasie, genau wie die Männlichkeit der Schöpferfigur, die keinerlei Scheu vor der Tradition zeigt. Am Ende glaubt man Fausts agnostischen Zwischenruf aus dem Off zu hören (der auch dessen ehrlichere Antwort auf die Gretchenfrage hätte sein können):

Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? (Vs. S. 589)

Rilkes Gedicht beschert uns das Milieu, in dem wir schwimmen, die Droge, die wir brauchen. Aber sie, die Droge, ist noch nicht das ganze Gedicht (das es fast zum Volkslied gebracht hätte). Seine Musikalität ist unübertroffen, die Komposition mit dem siebenfach leitmotivischen „Fallen“, den rhythmischen Wechseln und Zäsuren („Die Blätter fallen, || fallen wie von weit“), die Lautmalereien mit dem siebenfach kakophonischen Umlaut „ä“ und den vielfach anlautenden Labialen [f/w/v]: all das ist Sphärenmusik, die den Umbruch der Jahreszeit in ein kosmisches Gesamtbild stellt, wo Übergang, radikale Veränderung Thema sind. Das Gedicht macht so in actu zum Ereignis, was es besingt und darstellt. Indem es Musik, Intonation ist, vergeht es im Erklingen und mimt so den transitorischen Übergang.
In diesem Prozess, könnte man sagen, ,ist gut fallen‘, weil das Universum mit seinen Gesetzen den Dingen und Lebewesen keine andere Wahl lässt. Die „verneinende Gebärde“ ist ein vornehmer Aufstand, hilft also nicht gegen das Gesetz, das stärker ist. Ein frommer Euphemismus, mehr nicht. Dabei ist das „Wir alle“ im astronomischen Maßstab so marginal, dass es dem Dichter keiner Beschreibung wert ist und somit auch keine Identität erhält. Da es nur heißen kann „wir Lebewesen“, umfasst das „Wir“ die gesamte Natur, die dem Wandel unterliegt.
In diesem Licht ist das „Fallen“ nicht notwendig nur ein Synonym für Vergänglichkeit, sondern steht für die Phänomene der Schwerkraft, des Magnetismus, der Wellen, Quanten und radioaktiven Strahlen. Alles fällt, wie auch alles fließt. Ein Oben oder Unten gibt es nicht. Das „Sein zum Tode“, wie Heidegger es nennen sollte, vereint Leben und Sterben im Einklang.
Wir sind also nur Körper im Raum, die wie andere Körper auf Wanderschaft und mit fließend wechselnden Raumzeitkoordinaten verortet sind. Das ist gewiss unbestreitbar, ob tröstlich oder nicht. Die metaphysische Erste Hilfe, zu der der Autor sich berufen fühlt, ist doch nur ein Angebot zum spirituellen Überleben, das zur Großen Natur, zu Kitchi Manitu oder zur Weltseele führt.
Wenn es darum geht, etwas Bedeutsames nicht zu wissen, darf man nicht wählerisch sein. Der Leser erlebt jedenfalls eine Geborgenheitsdroge, die er erst mit dem Gefühl, dann mit dem Verstand abschmeckt. Ob das zu einem sättigenden Mahl reicht, steht buchstäblich in den Sternen. Gedacht ist sie vermutlich nicht dazu. Eine Köstlichkeit ist sie aber schon.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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