Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Pont du Carrousel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Pont du Carrousel“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Pont du Carrousel

Der blinde Mann, der auf der Brücke steht,
grau wie ein Markstein namenloser Reiche,
er ist vielleicht das Ding, das immer gleiche,
um das von fern die Sternenstunde geht,
und der Gestirne stiller Mittelpunkt.
Denn alles um ihn irrt und rinnt und prunkt.

Er ist der unbewegliche Gerechte
in viele wirre Wege hingestellt;
der dunkle Eingang in die Unterwelt
bei einem oberflächlichen Geschlechte.

1902/3

 

Kommentar

Sozialromantik oder eine gewichtige Aussage? Rilke bemüht hier eine jahrtausendealte Topologie: 1) der blinde Seher, als dessen Ahnherr Homers Teiresias gilt; 2) der Gerechte, wie er zur talmudischen Legende der 36 Gerechten gehört, ohne welche die Welt unterginge. Er wird hier zum „Mittelpunkt“ der Welt, der zugleich Dreh- und Angelpunkt, zugleich aber auch der Ankerpunkt ist, der Ruhe verheißt. Dass dazu der Pont du Carrousel die Kulisse abgibt, macht auch den Ort (griech. τóπoζ) zu einem weiteren Bildaspekt, der neben der zentrischen Struktur das „Oberflächliche“, Amüsierliche unterstreicht. Darüber hinaus verbindet die Brücke den Palais du Louvre mit dem Quai Voltaire, rückt also sowohl den erwähnten „Prunk“ ins Bild, der die herrschaftlichen Fassaden kennzeichnet, als auch den universalistischen Denker Voltaire, dessen Sterbehaus sich am Seine-Ufer unweit der Brücke befindet.
In dieser Umgebung, die sich durch ästhetische Raffinesse und Vordergründigkeit auszeichnet, ist der Blinde vor allem eine Kontrastfigur, verbunden gleichwohl mit der Welt durch die Brücke zum philosophe par excellence am Quai Voltaire 27. Auch der Vergleich mit einem „Markstein namenloser Reiche“ lässt nebenbei an Voltaire denken, der beitrug den Kosmos zu vermessen, indem er u.a. auch in (Newton’scher) Astrophysik und Mathematik brillierte. In der „Sternenstunde“, den „Gestirnen im Mittelpunkt“ klingt diese Dimension am Rande an.
Rilke hat sich immer wieder mit dem Blindsein beschäftigt, seit er auf seiner zweiten Reise nach Russland in Kiew Station machte und dem blinden Kobzar-Barden Ostap Veresai begegnete. Allein fünf Gedichte beschäftigen sich thematisch mit blinden Personen, während die entsprechende Motivik sein ganzes Werk durchzieht. Im Malte gibt es beispielsweise einen blinden Zeitungsverkäufer im Jardin du Luxembourg und einen ebenfalls blinden alten Gemüsehändler,1 denen er ausführliche Beschreibungen widmet.Lebenslang ist ihm das Sehen ein epistemisches Thema, das mit seinem Verständnis der Wirklichkeit korrepondiert und die mystische Schau ebenso umfasst wie die Wahrnehmung der Dinge von innen heraus, ihrer Eigenart und Bestimmung.
Nicht umsonst werden hier wieder Töne laut, die aus der Romantik kommend von André Chénier über Victor Hugo zu Charles Baudelaire reichen, dessen Gedicht „Les Aveugles“ aus der zweiten Auflage der Fleurs du Mal Rilke hier vor Augen stand. In jenem Streiflicht aus den Tableaux parisiens von 1861 ist zwar nicht die „Unterwelt“ aufgerufen, wohl aber die Stille und die Dunkelheit, beides in der Dimension des Unendlichen:

Ils traversent ainsi le noir illimité.
Ce frère du silence éternel.
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Baudelaire kann sich seinerseits auf Hugos Gedicht „A un poète aveugle“ von 1842 berufen, wo es von dem Blinden im Anschluss an den antiken Topos heißt:

L’aveugle voit dans l’ombre un monde de clarté. (1985: 286)

Sieht man dies vor dem Hintergrund von Chéners Langgedicht „L’aveugle“ (1819), wird die Linie zu Rilke umso klarer. Dort wird nämlich der Blinde nicht nur als „prophète éloquent“, sondern auch als „un habitant de l’empire céleste“3 bezeichnet.
Warum es der Blinde sein muss, der diese Welt (nicht nur der modernen Großstadt) symbolisch kontrastiert, ja konterkariert, ist nicht von vornherein ausgemacht, wie etwa das Gegenbeispiel Pieter Breughels d.Ä. zeigt. In dessen Illustration zum „Gleichnis der Blinden“ aus Mt 15,14 erscheinen diese als Horde, die, wiederum von einem Blinden geleitet, in die Irre geht.
Die Allegorisierung des Blinden in der romantischen Traditionslinie setzt voraus, dass man den Sehenden wie bei Rilke dem „oberflächlichen Geschlechte“ zuordnet, was ja nur heißen kann: er ist orientierungslos („irrt“), schnelllebig („rinnt“), und gefallsüchtig („prunkt“), wobei er plan- und ziellos „wirre Wege“ geht. Anders als der mythische (oder mystische) Blinde hat er keine spirituelle Lebensmitte, sondern ist Spielball äußerer Einflüsse und trachtet nach dem schnellen Glück. Ohne Regie folgt er auf der Bühne des Lebens einem sinnlosen Spektakel oder, wie Brecht in seiner Ballade für die Dreigroschenoper dichtete:

Denn alle rennen nach dem Glück
Das Glück rennt hinterher
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Dass auf der anderen Seite der Blinde das nicht tue, weil er eine „wahre Mitte“ besitze, entspricht einer erkenntniskritischen Geringschätzung der Empirie, wie sie vor allem die Philosophie des 18. Jahrhundert als Gegenbewegung zu dem sich anbahnenden Positivismus prägte.
Bei Rilke überrascht uns die Überwertigkeit des Innerlichen vor dem Äußerlichen kaum. Überraschend ist allenfalls, dass ein Dichter des 20. Jahrhunderts das idealistische Erbe wenn nicht übernahm, so doch fast zaghaft („vielleicht“) daran erinnerte.
Ganz anders war da Rilkes Vorbild Baudelaire vierzig Jahre davor in seinem Gedicht verfahren, wo die Pariser Blinden in sozialkritischer Perspektive schonungslos porträtiert wurden und von romantischer Überhöhung keine Rede sein konnte. Auch wenn Baudelaire noch etliche Jahre vor Rilkes Geburt verstarb, so war er doch der „modernere“ von beiden, wenn man Modernität an der Fähigkeit der Kunst bemisst, auf die Umbrüche der damaligen Realität wiederum mit Umbrüchen und entsprechenden Darstellungsmitteln zu reagieren, vor allem dem Verzicht auf herkömmliche kohärente Weltdeutung und symbolistische Beschönigung.
Rilke blieb ein Leben lang an der Epochenschwelle, die er nur gelegentlich, vor allem im Malte Laurids Brigge und im lyrischen Spätwerk überschritt. Sein Ruhm gründet auf seiner virtuos inszenierten Epigonalität, die dem Publikum der Belle Époque umso willkommener war, als die Zeichen der Zeit auf Aufbruch und Erneuerung, aber auch auf Verlust und Untergang standen.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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