DER LIPPENSAUM
am munde vor dem ohre
entschwebt dem lippensaum
ein schäumig leises tappen
in wachgeküssten raum.
wie glitt aus einem kinde
schon zwanghaft schiefes brot
und flog in scheuer eile
vom kiefer in den kot.
im lustrausch leute wanken,
dabei wird viel gelacht;
nacht hat im loch die zunge
mit tauben zugebracht.
wund weinen leise lauscher,
bald triefen sie im blut:
von schwerem ziergestelle
behindert, geigt die wut.
dem alten kinde giessen
sie glanz ins andre licht;
die flut hob viel vom boden,
veränderte die sicht.
nun schimmert an dem munde
versehrt ein jedes wort.
im finstern stört kein lauschen,
und drängten schuhe fort!
Gerhard Rühm
DER LINDENBAUM
Am Brunnen vor dem Thore
Da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt’ in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde
So manches liebe Wort;
Es zog in Freud’ und Leide
Zu ihm mich immer fort.
Ich mußt’ auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab’ ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle,
Hier findst du deine Ruh’!
Die kalten Winde bliesen
Mir grad’ in’s Angesicht,
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von jenem Ort,
Und immer hör’ ich’s rauschen:
Du fändest Ruhe dort!
Wilhelm Müller
die idee, die texte zu dem bekannten liederzyklus „die winterreise“ von franz schubert neu zu dichten, geht auf eine anregung_des „steirischen herbstes“ zurück – eine anregung, die ich, offen gesagt, anfangs nur zögernd aufgriff. ich halte wilhelm müller für einen durchaus bedeutenden dichter, dessen verse auch ohne schuberts geniale vertonung keineswegs an reiz verlieren, ja für sich gelesen oft erst ihre eigenständigen qualitäten offenbaren. als ich mich doch auf eine neudichtung zu den melodien schuberts einliess, erschien es mir daher angemessen, in irgendeiner form auf die originaltexte wilhelm müllers anzuspielen. ich entschied mich schliesslich für eine strenge phonetische bezugsmethode, die die vokalstruktur (und noch dazu so viel wie möglich vom konsonantenstand) des müllerschen zyklus beibehält, und liess mich auf dieser basis fortlaufend zu neuen wörtern in einem neuen satzverbund inspirieren. bei näherem hinsehen erweist sich diese methode als gar nicht so äusserlich, wie man vorschnell meinen könnte. die auf diese weise eigentümlich verzerrt wirkende klanggestalt der gedichte signalisiert eine halluzinative aussageschicht, die „dahinter“, nämlich hinter den originalworten zu liegen scheint und sie zugleich konterkariert. übrigens kann man ja häufig bei gesungenen texten die einzelnen wörter nicht mehr genau identifizieren, so dass eine gewisse semantische unschärferelation, gleichsam eine sinn-vernebelung entsteht, die eine tagträumerische assoziationstätigkeit in gang setzen mag.
so verrät das „dahinterweise“ im titel nicht nur etwas von dem formalen prinzip der neudichtung, sondern verweist auch auf einen tiefenpsychologischen be-deutungshintergrund in der für unbewusste inhalte spezifischen mischung von irritierender direktheit und traumsymbolischer verschlüsselung.
der akustische vortrag des zyklus zu den liedern schuberts gewinnt in der additiven abfolge fast etwas von einem trancehaften ritual. dieser eindruck wird in der szenischen realisation noch verstärkt durch die projizierten bilder, fenster ebenso in aussen- wie in innen-welten (zugleich eine anspielung mit modernen mitteln auf die zur zeit schuberts so beliebten „lebenden bilder“), und die insistierend repetitive aktion der beiden darstellerinnen, die durch eine immer wieder neu ansetzende „entschalung“ gleichnishaft zum „kern“, zum unverhüllten eigentlichen zu gelangen versuchen – ein prozess, den ja der tod weitertreibt bis zur völligen skelettierung. thanatos und eros – im spannungsfeld dieses mythischen paares verläuft auch die route der winterreise.
die reihenfolge der neuen gedichte ist gegenüber der bei schubert krebsgängig, bewegt sich also vom letzten zum ersten hin; es handelt sich ja auch – mit liedern aus dem 19. jahrhundert – um eine reise in die vergangenheit. bekanntlich hat schon schubert umstellungen im müllerschen zyklus vorgenommen, meine rückläufige anordnung hat einerseits inhaltliche gründe, andererseits erfolgte sie im hinblick auf die dauernverhältnisse bei einer szenischen realisation (um mit dem längsten lied, das bei schubert das erste ist, zu schliessen und damit die wiederholte aktion in ihrem vollendeten vollzug nicht gleich vorwegzunehmen).
noch eine bemerkung zu den zweimal zwölf zwischengeräuschen. sie sind akustische realisationen von textwörtern, die geräuschhaftes assoziieren lassen (hundegebell, regen, wind, hammerschläge…). sie fungieren als zäsuren und leiten, gewissermassen als „konkrete“ zwischenmusiken, von einem bild zum andern über – ein akustisches pendant zu den projizierten fotomontagen, die dokumentarisches material ins spiel bringen.
„die winterreise dahinterweise“ ist ein auftragswerk des „steirischen herbstes“ und wurde am 12. oktober 1990 in graz uraufgeführt.
Gerhard Rühm, Nachwort
Die Idee, die Texte Wilhelm Müllers aus dem bekannten Liederzyklus Winterreise von Franz Schubert neu zu dichten, geht auf eine Anregung des Steirischen Herbstes zurück.
Gerhard Rühm löste diese Aufgabe auf verblüffende wie originelle Weise, indem er sich schließlich für eine strenge phonetische Bezugsmethode entschied, welche die gesamte Vokalstruktur der Gedichte Wilhelm Müllers beibehält und soviel wie möglich vom Konsonantenstand. Die auf diese Weise aus neuem Wort- und Satzverbund entstandene Klanggestalt der Gedichte signalisiert eine „halluzinative aussageschicht, die dahinter, nämlich hinter den originalwörtern, zu liegen scheint und sie zugleich konterkariert“ (Rühm).
Die eigens für diesen Zyklus angefertigten Fotocollagen Gerhard Rühms unterstreichen und ergänzen diese sprachliche Reise, deren unbewußte Inhalte sich zwischen irritierender Direktheit und traumsymbolischer Verschlüsselung bewegen.
Ritter Verlag, Ankündigung
wo gerhard rühm anpackt, da bleibt kein reim mehr auf dem anderen. stets sind seine verse innovativ und erstaunlich. so auch bei diesem auftragswerk des steirischen herbstes. rühm orientiert sich an den originalgedichten wilhelm müllers, die die textliche grundlage zu franz schuberts winterreise bilden, reduziert diese auf ein vokalgerippe, das wiederum den ausgangspunkt seiner neudichtung darstellt. man ist erstaunt über die wandlungsfähigkeit der verse. aus „es bellen die hunde, es rasseln die ketten“ in „im dorfe“ wird unter dem titel „die worte“ die altkluge weisheit „zerschellen im munde, verprassen in schrecken“. die so entstandene zweite sinnebene über den originalgedichten verstärkt rühm durch hinzufügen einer schauspielerischen darstellung zweier sich gegenseitig entkleidender frauen, die die zu lüftende vielschichtigkeit der darbietung symbolisieren sollen, sowie einer vielzahl von photokollagen, die in anlehnung an die zu schuberts zeiten populären lebenden bilder gestaltet sind. rühms werk ist als parallelvortrag zu einer aufführung der winterreise gedacht. daß die multimediale präsentation wegen der vielfältigen rezeptionsmöglichkeiten dem publikum ein unentwirrbares rätsel bleibt, sei entschuldigt, denn schließlich heißt es ja in der winterreise „will kein gott auf erden sein, sind wir selber götter“ und bei rühm „stillsein, kot drauf, schwerer reim, wind wiegt gelbe spötter.“
der vorliegende band des authors kann eine aufführung nicht ersetzen, da diese doch mehr einem happening gleicht, gibt aber zumindest einen bemerkenswerten vorgeschmackt und ermöglicht die eingehende auseinandersetzung mit den lyrischen neufassungen. (Dies ist eine Amazon.de an der Uni-Studentenrezension.)
Rühm und vor allem O. Wieners Verbesserung von Mitteleuropa als Hauptvertreter und vor allem noch höchst lebendige Vertreter der Wiener Gruppe gebührt höchste Ehr. Sie hatten es ja nicht leicht, eher schwer. Die Winterreise ist ein vielschichtiges Werk mit vielen literarischen Bezügen, u.a. zu Puschkin, aber auch zu einem Text von De Lillo (weißes Rauschen); viele werden hier erstaunt sein, was dieser Text hergibt, das wird besonders deutlich, wenn man die oben genannten Texte parallel liest, nicht zu vergessen auch etwa Goethes Italienreise; denn Reise meint hier vor allem Reise mit dem Kopf, Reise im Kopf, Reise im literarischen Kopf, „dahinterweise“; Rühm dekonstruiert hier vor allem sich selbst bzw. seine bisherige Arbeit und ich bin nicht der Meinung, daß man das aufführen muß; viel besser für den eigenen Kopf dahinterweise ist die Parallellektüre; letzteres scheint vor allem die neue Wiener Gruppe rund um das Label Das fröhliche Wohnzimmer (Literatur,Musik, Film) mit Verlagssitz in Wien (s. Homepage Literaturhaus Wien) zu praktizieren und zu exerzieren, allen voran etwa G.A. Concic und Ujvary. Ich weiß nicht, ob Rühm zu der neuen Wiener Gruppe irgendeinen Kontakt pflegt bzw. umgekehrt, eines aber scheint mir sicher, diese Jüngeren werden den Atem der Älteren bis weit ins 21. Jh. hinein verlängern; „Paradies verloren“ und gar erst „Semeion Aoristicon“ von Concic (s. amazon.de) haben jetzt schon literarisches Weltliteraturniveau erreicht, was aus den Reihen der alten Wiener Gruppe bis jetzt nur Oswald Wiener gelang mit seiner Verbesserung.
Monika Mertl: Eilandweit Einsamkeit
Kurier, Wien, 14. 10. 1990
Madeleine Napetschnig: Die Sinne als Ansprechpartner
Neue Zeit, Graz, 14. 10. 1990
Erwin Kisser: Lindenbaum und Lippensaum
Der Standard, 15. 10. 1990
Peter Knotz: Wortkünstler und Lachtheater
Die Presse, 15. 10. 1990
Gisela Bartens: Quadratur des Lebenskreises
Kleine Zeitung, Graz, 16. 10. 1990
Bernd Czechner: Aus Irrlicht wird Pfirsich
Kleine Zeitung, Klagenfurt, 15. 1. 1991
Gott schütze Österreich. Lesungen, Performances, Montagen: H.C. Artmann, Diana Brus, Aloisius Schnedel, Jodik Blabik, Alexander, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Günter Brus, Wolfgang Bauer, Gerhard Rühm, Hermann Nitsch. Aufnahmen für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages um 1974.
Jörg Drews: Laudatio auf Gerhard Rühm zum Alice-Salomon-Poetik-Preis 2007
Thomas Eder und Paul Pechmann sprechen über die Sprachkunst von Gerhard Rühm. Dieser liest und Annalena Stabauer moderiert am 5.10.2023 in der Alten Schmiede Wien.
Michael Lentz: Spiel ist Ernst, und Ernst ist Spiel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.2010
Paul Jandl: Dem Dichter Gerhard Rühm zum 80. Geburtstag
Die Welt, 12.2.2010
Apa: „Die Mutter der Wiener Gruppe“
Salzburger Nachrichten, 12.2.2015
Peter Grubmüller: Der musizierende Literatur-Maler
OÖNachrichten, 12.2.2020
Daniela Strigl: Opernmörder
Süddeutsche Zeitung, 11.2.2020
Ronald Pohl: Gerhard Rühm zum Neunziger
derStandart, 12.2.2020
Doris Glaser und Peter Klein: „Der Herr der Laute“
radio.friendsofalan.de, 9.2.2020
Gerhard Rühm liest seine seufzer prozession am 10.11.2009 in der Alten Schmiede zu Wien.
Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld lesen unter anderem Sprechduette beim Literaturfestival Sprachsalz im Parkhotel bei Hall in Tirol (10.–12.9.2010)
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