EPITAPH
nicht nasche
von der asche
denn sie stammt
insgesamt
von einem verwehten
poeten
Bei der Edition der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm, und somit bei ihrer hier präsentierten ersten Lieferung, dem Doppelband der Gesammelten Gedichte, handelt es sich nicht um eine historisch-kritische Ausgabe, in der die Textgenese dokumentiert und Überarbeitungsspuren im Einzelnen vermerkt sind, vielmehr um eine kommentierte Lese- und Studienausgabe.
Es existieren nur wenige Handschriften (Ms) fertiger Gedichttexte, hingegen unzählige handschriftliche Notizen und Entwürfe. Editionsgrundlage bilden primär die vom Autor erstellten Typoskripte (Ts), die zum Teil autographe oder auch maschinenschriftliche Streichungen, Ergänzungen und Korrekturen enthalten. In vielen Fällen sind von einem Text mehrere Typoskript-Fassungen erhalten. Den Vorlass von Gerhard Rühm sammelt zur Zeit die Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, wo zukünftig die Manuskripte und Typoskripte einsehbar sein werden.
Der glückliche Umstand, dass diese Edition (von Oktober 2004 bis März 2005) in Zusammenarbeit mit dem Autor entstand, vereinfachte die Lage: Gerhard Rühm selbst bestimmte die Fassung letzter Hand. Als Editionsvorlage für die einzelnen Texte diente daher entweder das vom Autor bestimmte Typoskript (Ts) oder die vom Autor ausgewählte Druckfassung (Df), wobei die definitiv ausgewählten Textfassungen für diese Ausgabe letzter Hand in vielen Fällen noch vom Autor überarbeitet wurden.
Textkritische Hinweise finden sich in den Anmerkungen des Herausgebers, poetologische Kommentare enthalten die Erläuterungen des Autors. Nicht alle Gedichte lassen sich zweifelsfrei datieren, doch ist bei wenigen Texten sogar der Entstehungstag genau verzeichnet. Die Datierungshinweise beschränken sich in der Regel auf das Jahr oder den mutmaßlichen Entstehungszeitraum. Grundsätzlich wird nur das kommentiert, was Autor und Herausgeber für sinnvoll erachten, auch um Redundanzen zu vermeiden. Beide wollen kommentieren, nicht interpretieren und neben bibliographischen Hinweisen lediglich Zusatzinformationen geben.
Prinzipiell ausgespart aus dieser Gesamtausgabe sind die Gemeinschaftsarbeiten etwa aus der Zeit der Wiener Gruppe oder des Berliner Kreises. Einige ursprünglich titellose Gedichte haben hier erstmals Titel erhalten, doch finden sich auch Gedichte ohne oder mit halbfett gedrucktem Titel. In solchen Fällen gilt die erste Zeile beziehungsweise gelten die ersten beiden Zeilen als Titel, was die Handhabung für die Leser, das Auffinden einzelner Texte im Inhaltsverzeichnis wie in den Anmerkungen erleichtert.
Um die Fülle des Materials übersichtlich zu ordnen, erscheinen die Gedichte in dieser Edition nach Gattungen gegliedert. Naturgemäß ergeben sich hier gelegentlich Abgrenzungsprobleme, denn einzelne Texte lassen sich durchaus verschiedenen Gruppen zuordnen. In solchen Zweifelsfällen blieb die definitive Entscheidung dem Autor selbst vorbehalten. Innerhalb der Gattungsgruppen sind die Gedichte möglichst nach ihren Entstehungsdaten angeordnet, doch wird die chronologische Abfolge mitunter zugunsten einer sinnvolleren Gruppierung nach inhaltlichen oder formalen Kriterien durchbrochen.
Dieser Doppelband der Gesammelten Gedichte Gerhard Rühms umfasst ca. 900 Texte, darunter ca. 200, die bislang unveröffentlicht waren. Gedichte, die primär zum Sehen oderzum Hören bestimmt sind, werden in den beiden folgenden Bänden der Ausgabe der Gesammelten Werke, Visuelle Poesie und Auditive Poesie, erscheinen. Sie sind darum auch als zwingende Ergänzung zum vorliegenden Band zu verstehen.
– Meist in schräger Balance zwischen gezügelter Form und losgelassener Angriffslust: Gerhard Rühms gedichte – über den ersten Band der Gesamtausgabe, mit 200 unveröffentlichten Gedichten. –
In seiner Wohnung in Köln gibt es ein Arbeitszimmer für Musik, eines für bildende Kunst und eines für Literatur. In seinem Werk indes führt Gerhard Rühm die drei Bereiche zusammen, ganz so als ob es in Literatur, bildender Kunst und Musik nie etwas anderes gegeben hätte als jene Grenzbereiche, die er mit seinen Arbeiten auslotet. Gerhard Rühm, ein ungemein vielseitiger, ja wahrscheinlich einer der letzten universellen Künstler, radikal belesen und bei den Expressionisten ebenso zu Haus wie bei den Zwölftönern. Dass er einst der legendären Wiener Gruppe angehörte oder, wie H.C. Artmann behauptete, diese im Eigentlichen „erfunden“ hat, macht in seinem Gesamtwerk nur den geringsten Teil aus – jenen freilich, auf den er bis heute festgelegt scheint.
Wie verkehrt das ist, beweist ein Doppelband mit gedichten, der als erste Lieferung einer auf zehn Bände dimensionierten Werkausgabe erschienen ist. Bis zum Jahr 2010 soll diese Ausgabe abgeschlossen sein; eine verlegerische Großtat, zu der sich der Parthas Verlag, angesiedelt im Berliner Willy-Brandt-Haus und auch sonst der SPD ziemlich nahe, entschlossen hat. Treibende Kraft ist mit Michael Fisch ein jüngerer Germanist, der sich die Edition des Rühmschen Gesamtwerkes zu einer wahrhaft ausfüllenden Lebensabschnittsaufgabe gemacht hat.
Tatkräftig unterstützt wurde und wird der Herausgeber vom Autor selbst und nicht zuletzt auch von dessen Ehefrau Monika Lichtenfeld. Für den Band mit gedichten hat man die vielen Zimmer Rühms nach Typoskripten durchsucht. Neben zirka 700 bereits gedruckten Gedichten fanden sich zahlreiche unveröffentlichte, von denen der Autor an die 200 für publikationswürdig hielt. Rühm selbst hat die jeweils letztgültige Fassung bestimmt und in einigen Fällen letzte Korrekturen eingefügt. Nicht immer leicht fiel die Ausscheidung von Texten, die den beiden späteren Bänden auditive und visuelle poesie vorbehalten sein sollen. Zwischen ihnen und den gedichten sind die Grenzen manchmal fließend, was Wunder bei einem Autor wie Gerhard Rühm.
Dass Gruppenzuordnungen trotz jener unvermeidlichen und vielleicht sogar essenziellen Überlappungen dennoch sinnvoll sind, beweisen eindrücklich die Gruppen, in die sich der jetzt erschienene Doppelband gliedert. Genau zwölf Stück haben sich dabei aus Zufall und/oder Berechnung für jeden der beiden Bände ergeben, von „konkreter poesie“ über „wortspiele“, „thusnelda-romanzen“, „litaneien“ und „anagramme“ bis hin zu „vier- und zweizeilern“, „dreiunddreissig triolen“, „gegenständlichen fabeln“ und „nachdichtungen“. Die Chronologie der Entstehung (verzeichnet im Anmerkungsapparat) wird durch diese Anordnung teilweise außer Kraft gesetzt. Der historische Rühm (der Wiener Gruppe) und der Rühm des eigenen Lebenswerkes scheinen solcherart nicht länger getrennt, sondern in sinnfälliger Weise zusammengefügt – auf den Abdruck von Gemeinschaftsarbeiten wurde im Übrigen überhaupt verzichtet.
Wer über die Systematik der Einteilung Näheres wissen will, ist mit den diesbezüglichen Erläuterungen des Autors bestens bedient. Beginnen wir mit der „konkreten poesie“, zu der Rühm einen für sein gesamtes Werk richtungweisenden Zugang fand:
wie arnold schönberg in der dodekaphonie die tonalen funktionen von tönen und klängen ausser kraft gesetzt, wie anton webern in seinem spätwerk elementare, punktuell gesetzte intervall-,konstellationen‘ entwickelt hat, so wurde in der konkreten poesie das hierarchische prinzip der syntax aufgebrochen und das wort als autonom verfügbares gestaltungselement freigesetzt.
Anders als die eher klinische Variante der konkreten Dichtung im damals zeitgenössischen Umfeld berief sich Rühm bereits in seinen frühesten Texten auf eine Tradition der „Wortkunst“, die er im Sturm-Kreis des frühen 20. Jahrhunderts und dabei insbesondere bei August Stramm, Otto Nebel und dem von ihm selbst wieder entdeckten Franz Richard Behrens verwirklicht sah.
Anders als den starren „konstellationen“ beispielsweise Eugen Gomringers eignet dieser Dichtung ein dramatisches Element, das sich, oft abgespeckt zu pur-musikalischer Substanz, bei Rühm wiederfindet. So etwa im allerersten und dabei durchaus programmatisch zu verstehenden Gedicht des Doppelbandes, „tag und nacht“, geschrieben 1954 vom damals gerade einmal 24-jährigen Autor:
die nacht
und die tochter der nacht
und die tochter der tochter der nacht
und die tochter der tochter der tochter der nacht
der tag
und der sohn des tages
und der sohn des sohnes des tages
und der sohn des sohnes des sohnes des tages
der sohn
und
die tochter
und alle ihre verwandten alle verwandten
sie blicken auf das geschwisterpaar
sie blicken auf den sohn und die tochter
des sohnes und der tochter
des sohnes und der tochter
und es wird tag
und es wird nacht
In den nachfolgenden 50 Jahren hat es Rühm, oft auf der Basis einfachster formaler Verfahren, zu einer erstaunlichen Fülle lyrischer Formen gebracht. Zeitlos aktuell präsentiert sich beispielsweise der Text „die österreichische bundeshymne, um einen schritt weiter“ – jetzt, wo ich diesen Text in der Werkausgabe suche, fällt mir das Fehlen eines alphabetischen Registers schmerzhaft auf. Den Hintergrund jener neuen Version der österreichischen Hymne bildet das österreichische Wörterbuch; Rühm hat am „Land der Berge“ ein jedes Wort durch das nachfolgende ersetzt, hier die erste Strophe:
Landauer, derangiert geborgen, Landauer amalgamierender Stromer,
Landauer, derangiertes a conto, Landauer derangierter Domänen,
Landauer derangiert, hämmorrhoidenzulagenreif!
Heinzelmännchens Seismosgraph, Dübel grotesker Sojabohnen,
vollbartbegnügt Furiendasein schonend,
Vielfrass rührender Ottomanen.
In der Werkausgabe findet sich jener Text in die sogenannten „paraphrasen“ eingefügt, eine Gruppe, die unter anderem ein „hartnäckiges druckfehlergedicht“, ein (allein aus der Tatsache, dass in ihm ein jedes Wort buchstabiert wird, so gut wie unleserlich gewordenes) „buchstabiergedicht“, den schönen Text „artmanns ,wald‘ mit seinem namen gerodet“ und die „verbesserung eines sonetts von anton wildgans“ enthält.
Gerade diesem letzten Gedicht, welches das Wortmaterial des Ausgangstextes aufbricht, neu reiht und ihm dadurch einen ganz anderen und doch auf den Ausgangspunkt bezogenen Sinn verleiht („tief ruht nur der, / der die hand in unkraut führte“), merkt man eine grundlegende Tendenz der Rühmschen Dichtung an. Anders als es das rebellische Umfeld vermuten lässt, geht es nicht darum, die Idee des Kunstwerkes zu zerstören, vielmehr wird ein solches stets neu zusammengebaut. Von jener „verbesserung von mitteleuropa“, die Oswald Wiener im Sinn hatte, sind Rühms „verbesserungen“ weit entfernt: Die aufklärerische Funktion von Dichtung bleibt von der Zerstörung ihrer traditionellen Formen unberührt.
Manchmal wird es bei Rühm gerade auch in den jüngeren Gedichten ganz unmittelbar politisch, und oftmals bedient sich der Autor gerade dann der konventionellen Form. Uneingeschränkt ist dies beispielsweise in der „ballade von den farben“ der Fall, wo es heißt:
braunau ist ein schöner ort.
waren sie schon einmal dort?
leider blieb es nicht beim namen,
hier gedieh auch brauner samen.
Die zweite Strophe beginnt folgendermaßen:
kärnten ist ein schönes land,
sicher ihnen wohlbekannt.
kärnten war dereinst auch braun,
blau inzwischen anzuschauen.
Schließlich vermischen sich die Farben:
heillos trübt sich alles ein,
farbengrund und farbenschein.
wenn das land in schwarz versinkt,
riecht man, dass auch farbe stinkt.
In ihrer Wirkung wesentlich gebrochener präsentieren sich Rühms „zeitungsgedichte“, zu denen nicht zuletzt die Art ihres Vortrages gehört, auf den sich der Autor glänzend versteht. Stark skandierend sollen die vorgefundenen Meldungen gelesen werden. Zum Beispiel jene vom 13. Jänner 1987 unter dem Titel „Faule Freundin“:
„Meine Freundin liegt seit Tagen
faul im Bett,
kocht mir kein Essen,
ist überhaupt nicht mehr nett“,
beschwerte sich ein Nürnberger
telefonisch bei der Polizei.
Die Beamten schickten
einen Notarzt vorbei,
der feststellte:
Die Frau war schon seit Tagen
gestorben –
an Herzversagen.
Eine neue Facette in Rühms Werk bilden die sogenannten „schüttelreime“, die bislang unpubliziert waren, und die der Autor, einer gemeinsamen Laune mit H.C. Artmann folgend, in den 1950er-Jahren verfasste. Ähnlich wie in der nach dem verschollenen „coolen manifest“ Oswald Wieners als „coole poesie“ bezeichneten Werkgruppe geht es in diesen Schüttlern um die Verwendung eines in schöner Literatur möglichst tabuisierten Wortmaterials, vorwiegend sexueller und/oder anderweitig unanständiger Natur. Rühm beherrscht die Technik so gut, dass ich hier nicht wagen will, die abseitigsten Sprüche zu zitieren und mir stattdessen mit einer kulinarischen Köstlichkeit behelfe:
im sommer gleicht ein käsbrot
oft aufgeweichtem presskot.
Längst in die Literaturgeschichte eingegangen sind Rühms „dialektgedichte“. Knapp nach dem überraschenden Erfolg von Artmanns vergleichsweise gemäßigten med ana schwoazzn dintn erschienen viele von ihnen in dem gemeinsam mit Friedrich Achleitner und eben auch Artmann verfassten Band hosn rosn baa. Die verwischte Grenzlinie zur konkreten Poesie zeigt sich in Rühms jugendlich frischem Klassiker:
schdiagn schdeign
schdiagn schdeign
schdiagn schdeign
EWICH
schdiagn schdeign
schdiagn schdeign
schdiagn schdeign
EWICH EWICH
schdiagn schdeign
schdiagn schdeign
EWICH EWICH EWICH
schdiagn schdeign
Am fehlenden Lift allein kann die Wiederkehr des ewig Gleichen nicht gelegen sein, eine Refrainzeile aus einem der Rühmschen „chansons“ beweist es:
traurig steigt der lift empor
traurig sinkt er nieder.
In der Werkgruppe jener Liedtexte präsentiert sich der Autor at his very best. Der dumpfe Trott des alltäglichen Lebens und die gewaltsamen Anmaßungen der männlichen Sexualität sind hier in einen großbürgerlichen Ton von Anstand und Höflichkeit gepackt, der zum Singen gemacht und dabei doch eigentlich zum Schreien ist:
liebling du hast mich heute ausgelacht
liebling drum hab ich dich heut umgebracht.
Allein die Titel dieser Chansons sind Kunstwerke für sich, um nur zu nennen „schönes kind aus marzipan“, „schweiss der jungen mädchen“ oder „guter onkel schenk mir strümpfe“.
Entdeckungen dieser und ähnlicher Art, meist in schräger Balance zwischen meisterlich gezügelter Form und meisterhaft losgelassener Angriffslust, kann und wird man auf den annähernd 1300 Seiten der beiden Bände sehr viele machen. Ein besonders netter Text, besonders geeignet zur Labsal junger Väter, findet sich auf Seite 919 unter dem Titel „das hohe lied vom mutterglück (der vater hält sich da zurück)“. Wesentlich kürzer ein haiku, das hier gerade noch herpasst:
jäh ein donnerschlag
dann ein heftiger windstoss
mein hut grüsst von selbst.
Der kleine Japaner nennt sich „ungewollte reverenz“, verbeugt sich artig und tut damit genau das, was die Rühmschen Gedichte am Ende meistens tun.
Gott schütze Österreich. Lesungen, Performances, Montagen: H.C. Artmann, Diana Brus, Aloisius Schnedel, Jodik Blabik, Alexander, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Günter Brus, Wolfgang Bauer, Gerhard Rühm, Hermann Nitsch. Aufnahmen für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages um 1974.
Jörg Drews: Laudatio auf Gerhard Rühm zum Alice-Salomon-Poetik-Preis 2007
Thomas Eder und Paul Pechmann sprechen über die Sprachkunst von Gerhard Rühm. Dieser liest und Annalena Stabauer moderiert am 5.10.2023 in der Alten Schmiede Wien.
Michael Lentz: Spiel ist Ernst, und Ernst ist Spiel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.2010
Paul Jandl: Dem Dichter Gerhard Rühm zum 80. Geburtstag
Die Welt, 12.2.2010
Apa: „Die Mutter der Wiener Gruppe“
Salzburger Nachrichten, 12.2.2015
Peter Grubmüller: Der musizierende Literatur-Maler
OÖNachrichten, 12.2.2020
Daniela Strigl: Opernmörder
Süddeutsche Zeitung, 11.2.2020
Ronald Pohl: Gerhard Rühm zum Neunziger
derStandart, 12.2.2020
Doris Glaser und Peter Klein: „Der Herr der Laute“
radio.friendsofalan.de, 9.2.2020
Gerhard Rühm liest seine seufzer prozession am 10.11.2009 in der Alten Schmiede zu Wien.
Schreibe einen Kommentar