Bei der Edition der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm handelt es sich nicht um eine historisch-kritische Ausgabe, in der die Entstehungsgeschichte dokumentiert und Fragen der Materialprovenienz, der Fassung und Überarbeitung detailliert erörtert werden, vielmehr um eine kommentierte Lese- und Studienausgabe.
Die zweite Lieferung dieser Edition, die den Schaffensbereichen Visuelle Poesie und Visuelle Musik jeweils einen Teilband widmet, enthält nun erstmals nicht Texte im üblichen Sinn, sondern bildnerische Arbeiten, die hier indes gewissermassen wie „Texte“ präsentiert werden. Grundlage der Publikation bildeten die vom Autor zur Verfügung gestellten Originale (Or), die als Scans eingelesen und, wenn nötig, marginal retuschiert wurden. Doch musste gelegentlich auch auf Druckvorlagen aus Sammelmappen, Katalog- und Buchpublikationen zurückgegriffen werden (Df), da viele Originale – weit verstreut in öffentlichen und privaten Sammlungen – nicht mehr greifbar waren.
Dass auch dieser Band in enger Zusammenarbeit mit dem Autor entstand, vereinfachte das Verfahren: Gerhard Rühm selbst konnte aus der Überfülle der Arbeiten im bildnerischen Gesamtœuvre eine – notgedrungen begrenzte – Auswahl treffen und im Einvernehmen mit der Herausgeberin die Gliederung in Werkgruppen wie die Reihenfolge der Abbildungen bestimmen. Im Verlauf der Sichtung und Ordnung des Materials hat der Autor wenige Blätter überarbeitet oder ergänzt, manche auch mit (neuen) Titeln versehen und mitunter Scan-Vorlagen (zumal von inzwischen verblassten und verschmutzten Schreibmaschinenideogrammen) für diese Edition neu erstellt.
Da der Band nur Schwarzweiss-Reproduktionen erlaubte, mussten von vornherein jene Arbeiten ausgeschieden werden, in denen die Farbe ein integraler Bestandteil der Komposition ist. Besonders bedauerlich war hier der Verzicht auf eine Serie von Farbwortkonstellationen, die in einer (längst vergriffenen) Buchpublikation als „Farbengedicht“ erschienen sind. Wo gleichwohl im Original farbige Elemente figurieren, ist dies jeweils in den Anmerkungen verzeichnet. Prinzipiell unberücksichtigt bleiben auch – schon aus Gründen des Umfangs und der Reproduzierbarkeit – alle grösseren zyklischen oder gar buchfüllenden „visuellen Texte“ (sie sollen in einem späteren Band der Gesammelten Werke erscheinen), ferner Werke, die keine „Arbeiten auf Papier“ im strengen Sinne sind, namentlich mobile Texte, Schrift- und Buchobjekte, Wortplastik und -architektur und Schriftfilme.
Der vorliegende Band Visuelle Poesie umfasst insgesamt rund 680 Arbeiten, von denen fast die Hälfte bislang unveröffentlicht war. Um die Fülle des Materials sinnvoll zu strukturieren, erscheinen sie hier in achtzehn Werkgruppen gegliedert, die bestimmte inhaltliche und formale, vor allem aber technische Aspekte thematisieren. Nähere Hinweise dazu finden sich in den Erläuterungen des Autors. Die Zuordnung einzelner Arbeiten zu bestimmten Werkgruppen war mitunter eine Ermessensfrage, da es zwischen eng verwandten Arbeitsbereichen wie „Zeitungsrisse“ und „Zeitungscollagen“, „Grafische Reaktionen auf Zeitungsmeldungen“ und „Kritische Kalligraphie“ oder „Schrifttuschen“ und Tuschtypocollagen“ naturgemäss Verfransungen und fliessende Übergänge gibt. Auch unter den „Schriftzeichnungen“ finden sich manche Blätter, die Collagematerial (Foto oder Drucktext) miteinbeziehen, und unter den „Typocollagen“ wiederum solche, die vereinzelt handschriftliche Elemente enthalten.
Wie im Band Visuelle Musik sind die Werkgruppen derart angeordnet, dass in Umrissen eine Chronologie, mehr noch: eine Art Entwicklungsgeschichte der Auseinandersetzung des Autors mit dem Thema erkennbar wird. Dies war hier jedoch ungleich schwieriger konsequent durchzuhalten. Denn während die Visuelle Musik eine relativ überschaubare Schaffensperiode von rund zwanzig Jahren dokumentiert (sie tritt erst seit Mitte der achtziger Jahre dominant in Erscheinung), hat die Visuelle Poesie das Gesamtwerk Gerhard Rühms von den frühen fünfziger Jahren an – wenngleich in wechselnder Dichte und Intensität – kontinuierlich geprägt, das heisst: sie spiegelt in all ihren komplexen Verästelungen mehr als fünf Jahrzehnte kreativer Arbeit wider.
Massgebend für die zeitliche Abfolge war dabei, wann ein Arbeitsbereich zum ersten Mal schwerpunktartig im Œuvre des Autors erscheint, was nicht ausschliesst, dass er kontinuierlich über einen längeren Zeitraum fortgeführt wird, dass er „Vorläufer“ aus früheren und „Nachzügler“ aus späteren Jahren einschliesst. So spannt sich der Bogen von den „Schreibmaschinenideogrammen“ und „Fototypogrammen“, die vorwiegend aus den Jahren 1954–1957 stammen, über die „Typocollagen“ und „Fototypocollagen“ (1955–1963), die „Zeitungsrisse“ und „Zeitungscollagen“ (1955-1965), die „Schriftfrottagen“ (1965–1966) und die „Automatischen Schriftzeichnungen“ (1972–1973), die „Skripturalen Meditationen“, die „Grafischen Reaktionen auf Zeitungsmeldungen“ und die „Kritische Kalligraphie“ (1985–1986) bis hin zu den „Schrifttuschen“ (1987–1991), den „Tuschtypocollagen“ (1991–1994) und schliesslich den „Bildgedichten“, die mehrheitlich nach der Jahrtausendwende entstanden sind. Ausgespart aus diesem Chronologieraster ist einerseits die für die „Visuelle Poesie“ zentrale – und weitaus umfangreichste – Werkgruppe der „Schriftzeichnungen“, die das gesamte Zeitspektrum abdeckt (mit Schwerpunkten 1956, 1965 und 1975–1976), sind andererseits aber auch kleinere Sondergruppen wie die „Vertuschungen“, die „Briefbilder“ und die „Adaptionen“. Da hier oft Arbeiten unterschiedlicher Datierung zusammengefasst wurden, schien es dem Autor geboten, sie dort einzufügen, wo sie ihrer Thematik oder ihrer Technik nach am besten in den Kontext passen.
Innerhalb der Werkgruppen sind die Arbeiten so weit wie möglich nach ihrer Entstehungszeit angeordnet, doch wird die chronologische Abfolge mitunter zugunsten einer sinnvolleren Gruppierung nach thematischen oder formalen Kriterien durchbrochen. Nähere Angaben zur Datierung, zur Technik und zum Format der einzelnen Blätter, so weit diese noch zu ermitteln waren, sind in den Anmerkungen detailliert verzeichnet. Das gilt ebenso für die Publikationsnachweise, die sicher an manchen Stellen lückenhaft sind, da verstreute Veröffentlichungen, vor allem von Arbeiten aus früheren Jahren, in Zeitschriften, Sammelbänden und Katalogen nicht durchweg greifbar waren.
– Gerhard Rühms „Visuelle Poesie“. –
Bereits der von Helmut Heissenbüttel als „Vater der Moderne“ apostrophierte Arno Holz forderte eine „befreite deutsche Wortkunst“ und näherte sich ihr, indem er gegen die Konventionsformen lyrischer Texte, die durch Metrum, Reim und Strophik bestimmt waren, den Sprachrhythmus freisetzte und aus ihm heraus zur neuen Form seiner Mittelachsenlyrik kam. Sehr viel radikaler noch propagierten die italienischen Futuristen und in ihrem Gefolge die russischen Futuristen, die deutschen Sturm-Expressionisten und Dadaisten in ihren Manifesten die Befreiung des Wortes aus der Klammer der herkömmlichen Grammatik, dem Muster des aus der Antike ererbten Satzes nach dem Schema von „Subjekt-Prädikat-Objekt“, das verbraucht sei und keinerlei Ausdrucksqualitäten mehr besitze. Noch weiter, wenn man so will, ging Kurt Schwitters, als er auch noch die Allgewalt des Wortes sprengte und in seinem „i-Gedicht“ wie dem nach ihm benannten Prinzip seines Schaffens einen vereinzelten Buchstaben des Alphabets zum MERZ-Poem erhob:
rauf runter rauf
Pünktchen drauf
Dabei sind hier wie dort spezifische Formen einer neuen optischen Gestalt von Texten mit im Spiel, die der innovativen Poetik gerade auch visuell – also fürs Auge – eine neue Gestalt geben, die sie gegen die Tradition abhebt. Grenzüberschreitungen der Künste sind dabei notwendige Voraussetzung.
Eine ausdrücklich als solche bezeichnete „visuelle Poesie“ ist denn auch eine fixe Programmsparte der „konkreten Poesie“, wie sie sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als wohl wichtigste Moderne-Strömung international konstituierte. Aus den fünfziger Jahren heraus steht Gerhard Rühm, Mitglied der inzwischen legendären Wiener Gruppe, der neben ihm Konrad Bayer, H.C. Artmann, Friedrich Achleitner und Ossi Wiener angehörten, im Zentrum der hier angedeuteten Programmatik und weist mit seinem Schaffen in die unterschiedlichsten Richtungen einer so aufgezogenen „Visualisierung der Poesie“. Sie setzt mit frühen „schreibmaschinenideogrammen“ nach den Geometrie-Gesetzen des Typewriters ein, für die Eugen Gomringer den fruchtbaren Begriff der „konstellation“ prägte, zu dem es in dem entsprechenden Manifest heißt:
die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. sie umfaßt eine gruppe von worten – wie sie eine gruppe von sternen umfaßt und zum sternbild wird. in ihr sind zwei, drei oder mehr, neben- oder untereinandergesetzten worten – es werden nicht zu viele sein – eine gedanklich-stoffliche beziehung gegeben. und das ist alles! […] sie erlaubt das spiel. sie erlaubt die reihenbildung der wortbegriffe a, b, c, und deren mögliche variationen […] die konstellation wird vom dichter gesetzt. er bestimmt den spielraum, das kräftefeld und deutet seine möglichkeiten an. der leser, der neue leser, nimmt den spielsinn auf und mit sich: denn um die möglichkeiten des spieles zu wissen, ist heute gleichbedeutend dem wissen um eine endgültige klassikersatzung.
Die Wiener formulierten aus eigenen Stücken ein ähnliches Programm, suchten und fanden aber später Kontakt zur Stuttgarter Autorengruppe um Max Bense, der auch Gomringer angehörte. Nach den typographischen Gesetzen der Schreibmaschinenmechanik geht es in derlei Texten um die geometrische Figuration einzelner Worte, die durch Reihung zu Linien, Rechtecken, Quadraten, sich schneidenden Diagonalen und anderen Formationen zusammengesetzt werden, wobei es zu erhellenden Sprachfeststellungen wie der Tatsache kommt, daß die Buchstaben „l“ und „t“ in „licht“ den Rahmen zu „ich“ bilden, „leer“ und „lärm“ aus jeweils vier Buchstaben gebildet sind, „falsch“ ein Anagramm zu „schlaf“ abgibt, „viel“ und „leicht“ zu „vielleicht“ zusammentreten etc. Die Buchstaben des Alphabets von „A“ bis „Z“ und die einfache Zahlenkette treffen sich im Zeichen „O“ als Bezeichnung des Vokals und Notation von „Null“. Rühm spricht expressis verbis von „schreibmaschinenideogrammen“ bzw. einer „poetik der schreibmaschine“, die er aus den besonderen technischen Gegebenheiten und Möglichkeiten dieses Instruments ableitet. Dazu der Autor in seiner eigenen Formulierung:
wer sich über die eigentümlichkeiten der schreibmaschine schon gedanken gemacht und der entwicklung der ,visuellen poesie‘ einige aufmerksamkeit geschenkt hat, dem wird sicher, neben dem gesetzten und handschriftlichen textbild, das schreibmaschinengedicht oder -ideogramm als eine spezifische variante visueller poesie nicht unbekannt sein. das ,funktionelle‘ schreibmaschinengedicht erwächst aus den besonderen gegebenheiten und möglichkeiten der schreibmaschine, das sind vor allem gleichmäßiger typenabstand (auffallend bei ,i‘ und ,m‘), der exaktes untereinandersetzen der zeilen in blockhafter form erlaubt, sozusagen geometrisch berechenbar ist, ferner übereinandertippen, beliebige wiederholung einzelner zeichen, verschiebungen durch lockerung des zeilenrasters, verschiedene manipulationen mit durchschlagpapier und tipp-ex, faltungen des blattes vor dem betippen und anschließendes glattstreichen, um textzerrungen und -streuungen zu erzielen.
An die in dieser Weise knapp umrissenen Produktionen schließen sich „typo“- und „zeitungs-collagen“ – gekennzeichnet durch die Verwendung von Newspaper-Ausschnitten bzw. -Ausrissen in unterschiedlicher Typographie – und „frottagen“ in bald schwungvoller, bald zittriger Bleistiftbewegung an, bei denen es erlaubt ist, an die Dada-Bewegung bzw. an Max Ernst zu erinnern. Daß bei der Selbstfindung des literarischen Programms der Wiener Gruppe Dada eine wichtige Rolle spielte, daran erinnert Rühm im Vorwort der von ihm herausgegebenen Anthologie, wobei er gerade auch auf die Schwierigkeiten hinweist, die man nach dem Ende der Nazi-Herrschaft mit ihrem Buch- und Bilder-Vandalismus hatte, an authentische Dokumente heranzukommen, und anmerkt, daß sich, was seinerzeit als progressiv radikale Kunst schockierte, auch heute noch – bzw. gerade heute wieder – in derselben provokativen Funktion zu halten vermöge: Jetzt, da man der „entarteten kunst“ wieder offen begegnen konnte, habe sie die Gemüter oft bis zu Handgreiflichkeiten bewegt.
Bei den „typocollagen“ handelt es sich um einzelne Buchstaben-Lettern unterschiedlicher Größe, später auch einzelne Worte und kurze Sätze, die in abstrakte Formationen gebracht werden, wobei die Arrangements an aufsteigende und fallende Abläufe sowie diverse geometrische Formen gebunden werden. So laufen in zwei geschwungenen Waagerechten die Buchstaben „n“ und „u“ parallel zueinander bzw. überschneiden sich in zwei Ovalen. In unterschiedlicher Druckertype bilden die Worte „Nacht“ und „Tag“ eine senkrecht abfallende Kette, kombiniert mit der Fotografie eines weiblichen Aktes. Deutlich als Textausschnitte markierte Wortestreifen präsentieren sich luftig auf weißem Papier, wobei es zu seriellen Wiederholungen, geometrischen Zuordnungen, aber auch quasi lesbaren Texten kommen kann – so etwa:
schnell bevor
Der Schlüssel
des passenden Schlüssels
Spülschüssel
fällt
Haar-Ton
bis aufs Messer
verfallen
die Sonne sinkt…
Bei den „collagen“ hingegen sind es Zeitungsausrisse unterschiedlichen Formats mit unregelmäßigen Rändern, die aneinander- und übereinandergeklebt die Bildfläche füllen, wobei die gedruckten Texte in der Manier des „Cross-readings“ gegeneinander zu stehen kommen oder eben nur noch – ohne auf Lesbarkeit aus zu sein, obwohl das Zeilenschema in etwa gewahrt bleibt – als graue und schwarze Buchstaben-Flächen wahrgenommen werden: Das Arrangement scheint vom Zufall diktiert, wie ihn dito die Dadaisten – allen voran Hans Arp – in die „moderne Anti-Kunst“ eingeführt haben.
Die Titelseite der Österreichischen Neuen Tageszeitung wird eingeschwärzt, als handle es sich in Analogie zum Schwarzen Quadrat von Malewitsch um ein nach unten gestrecktes „Schwarzes Rechteck“: Aber es bleibt nicht bei der schwarzen Fläche als solcher, sondern Rühm besetzt sie in loser Streuung mit kleinen rechteckigen Ausschnitten des Wortes „und“, als habe er den ursprünglich vorhandenen Leitartikel auf diese Kopula hin skelettiert und dabei notwendigerweise den Rest verschwinden lassen und eben der Schwärze anheimgegeben. Von solcher „Einschwärzung“ geht eine eigene Faszination der Auslöschung bzw. Verrätselung aus.
Auf die in dieser Weise knapp von mir charakterisierten „schreibmaschinenideogramme“, „typocollagen“, „zeitungscollagen und selektionen“ folgen, orientiert man sich an dem als „repräsentativer Gesamtüberblick“ aufgezogenen Sammelband visuelle poesie, der Rühms einschlägige Arbeiten dieser Richtung in ihrer historischen Reihenfolge zwischen den Jahren 1954 und 1994 präsentiert, „frottagen“, „schriftzeichnungen“, „briefbilder“, „leselieder“, „schrifttuschen und tuschtypocollagen“.
Was die „frottagen“ und „schriftzeichnungen“ angeht, orientiert sich der Schrift-Bild-Artist bzw. Bild-Schrift-Artist als Autor und Mal-Künstler in einem an den Durchreibezeichnungen Max Ernsts oder der wilden – spontanen – Malgestik des tachistischen „action painting“. Als handle es sich um Graffiti, also Wandmalereien, sind in den „frottagen“ durchgeriebener Ziegelwände einzelne Worte oder Silben wie „brauchen“, „schlaf“ oder „bleiben“ einbeschrieben. Ein halbes Zweipfennigstück und ein darübergesetztes Einpfennigstück figurieren – ebenfalls vom Original her durchgerieben, also durchgepaust – als „untergehende Sonne und aufgehender Mond“.
Die „schriftzeichnungen“ hingegen kommen bewußt von der Kritzelei her, das heißt: Die klaren Umrisse der Buchstaben lösen sich in abgehackte Lineamente auf, wobei Titelgebungen wie „müd“, „welk“, „schlaf“ auf die Kreations-Situation hinweisen bzw. die inhaltliche Richtung angeben, in die derlei Produktionen tendieren: Sie fixieren Zustände des Halbbewußten, in denen sich die Kontrolle des Schriftflusses durch Steuerung der Schreibbewegung ebenso auflöst wie die Eigenarten einer tief in der Persönlichkeitsstruktur verankerten persönlichen Handschrift. In mehrfacher Wiederholung bewegt sich das Wort „suchen“ über das weiße Papier, als habe es sich auf den Weg gemacht, seiner Wortbedeutung und dem ihm korrespondierenden „finden“ (so ein zweites, thematisch zugeordnetes Blatt) nachzukommen – ähnlich sind in zwei separaten Arbeiten die Wörtchen „dahin“ und „fort“ in einer schriftzeichnerischen Fortbewegung von links nach rechts begriffen, setzen also den Wortsinn ganz unmittelbar wort-graphisch um. Im übrigen kommt es zu Wortwiederholungen in fortlaufender Linie („bald“: immer rascher und hastiger geschrieben, bis es sich auflöst) oder dynamischen Schriftfeldern – auch bildhaften Veranschaulichungen wie etwa einer Art „Pusteblume“ aus zweiundzwanzig ,ja“.
Ganz in die Kritzelei aufgelöste, also nicht mehr lesbare Schrift zeigen „überquellender brief“ und „brief ausser rand und band“, wobei zum einen aus einem verschlossenen Brief quasi an Fäden diverse Schriftzeichen heraushängen, zum anderen wilde Kritzelzeichnungen einem Linien-Rechteck, das ein Kuvert markiert, einbeschrieben sind. Eine eigene Richtung behaupten demgegenüber einige Blätter, in denen Buchstaben und Worte durch Mehrfachstrichelung der Lineamente eine eigene Dynamik gewinnen – so etwa in „irgendwie wütendes ja“ und „wolkenbildung“ – oder die linearen Umrisse von Buchstaben durch kleine Kritzeleinheiten gefüllt werden und erst durch diese ihre einprägsame Umriß-Form erhalten.
Eine fixe Variation und aus ihr abgeleitete Kontinuität durch alle bis hierher aufgezeigten Techniken der „visuellen Poesie“ zeigt der Umgang mit den Worten „ich“ und „du“: sowohl separat wie aufeinander bezogen, kombiniert. Besonders auffällig unter den „Schriftzeichnungen“ ist hier eine Arbeit, auf der diese beiden Worte jeweils in die Mitte einer schwungvoll die ganze Breite des Blattes füllenden Linie zu stehen kommen, wobei „du“ spiegelverkehrt unter das „ich“ zu stehen – besser: zu liegen – kommt. Ein eigenes Experiment belegt eine andere, leicht happeninghaft eingefärbte Produktion, die während des Wien-Aufenthaltes im Frühling des Jahres 1975 entstanden ist: Hier forderte Rühm Verwandte, Freunde und Bekannte zu einer „ich“-Signatur auf und dokumentierte so den unterschiedlichen Schriftgestus der Eintragungen durch eine größere Personengruppe, darunter die eigenen Eltern und Geschwister, unter anderem aber auch in der Wiener Szene bekannte Schriftsteller und Künstler wie Friedrich Achleitner, Heimrad Bäcker, Otto Breicha, André Heller, Reinhard Priessnitz, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Unter dem Genretitel „Briefbilder“ präsentiert Rühm – auf schwarzem Untergrund plaziert – zerrissene Briefschnipsel, wobei die Klebeanordnung im Lineament als Lese-Herausforderung ligiert, die Zerreißungen aber oft so klein geraten, daß eine Rekonstruktion des intakten Dokuments nicht möglich erscheint: Lesbar bleiben aber einzelne Worte und Satzfragmente. Die Titel markieren mit „ricarda“ eine Adressatin und mit „traurigkeit“ die gedrückte Gemütslage des Briefeschreibers am Sonntag, dem 8. Februar 1976, die den Brief ungeschrieben, also das Briefpapier leer bleiben ließ. Mitunter werden Fotos einmontiert – oder kommt es in einer separaten Arbeit zum Schluß dieser Serie dazu, daß der Körper eines weiblichen Aktes von der Brust abwärts durch einen exakt im Umriß der Körperform gehaltenen Briefausschnitt ersetzt wird, während der abgeschnittene Teil des Fotos, also der nackte Körper, zur Seite gerückt, daneben gesetzt wird.
Den Beschluß des Sammelbandes der visuellen poesie bilden sogenannte „leselieder“ sowie „schrifttuschen und tuschtypocollagen“. Bereits Marcel Duchamp hatte in einer seiner Arbeiten Avoir l’apprenti dans le soleil – einen Radfahrer ein Notenblatt hinaufjagen lassen, wobei die durch ein Seil verbundenen Notenlinien die Wegstrecke markierten, die der Velocipedist schräg nach oben zu nehmen hat. Rühm nutzt die Notenblätter als Material für Zeichnungen in der Art der „schriftzeichnungen“, wobei er sich nun durch die Lineamente der Schriftrichtung weitgehend disziplinieren läßt, das heißt, nur selten schräg oder quer zu den Linien schreibt. Nimmt man jedoch das leichte Auf und Ab der Worte als Plazierung im Sinne der Notenschrift, entstehen tatsächliche Kompositionen, die nach den gegebenen Anweisungen auch wirklich gesungen werden können. Ich erinnere in diesem Zusammenhang – in versetzter Weise korrespondierend – an Auftritte Rühms, bei denen er ihm zugereichte Drucktexte direkt ins Klavier einspielte, weil er behauptete, Buchstaben und Worte der gedruckten Texte nach einem geheimen Notenschlüssel direkt musikalisch umsetzen zu können. Fast durchweg sind diese leselieder – wie es der Titel anzeigt, wenn man ihn wortwörtlich nimmt – tatsächlich lesbar im Sinn herkömmlicher Lyrik, sogar gereimt, und ihr Autor vermerkt, daß er dabei zunächst auf eigene, schon vorhandene Verse zurückgegriffen habe, während diese später spontan während des Zeichnens aus ihm herausgetreten seien, wodurch die spezifische Komplexität dieser Art des künstlerischen Schaffens unterstrichen wird:
LEICHEN RIECHEN
FLEISCH FRESSEN
TRAURIG SEIN
UNERMESSEN
– oder:
EIN RUF ER-
SCHALLT DURCH
DEN TOTEN WALD
UND VERHALLT
bzw.:
ES IST NACHT
UND SACHT
ENTFACHT MICH
DEINE MACHT.
Hier wird die Grenze nicht nur zwischen Literatur und Kunst, sondern auch zwischen Literatur und Musik in Richtung auf ein modern-experimentelles Gesamtkunstwerk überschritten, wobei anzumerken ist, daß der Autor – so in der Buchpublikation auf messers schneide – gezielt auch mit auf Notenlinien gesetzten Zeichnungen operiert hat: Als eine „zeitgemäße konsequenz aus dem traditionellen puppentheater“ agieren Messer, Löffel und Gabel zugleich mit ihrer zeichnerischen Fixierung als Männer-, Fauen- und Kinderstimme im „tischtheater“, singen nach eingeheftetem Notenblatt, wobei, wie es im Szenenanweisungs-Vorspann heißt, „die verse im munteren schnadahüpfel-ton vorgetragen“ werden sollen.
Die abschließenden „tuschtypocollagen“ sind „durch die verwendung von pinsel und tusche“ – mithin durch den Gebrauch geläufiger Malutensilien – „gekennzeichnet“, die jedoch im Zusammenhang der „visuellen Poesie“ in durchaus neue Funktionen eintreten. Mit dem Auseinanderfließen der Tusche auf feuchtem Papier korrespondieren so etwa Titel wie „entichung“ oder „ichauflösung“ – und weiter merkt Rühm an:
man muss ,ES‘, die ,äußeren‘ einflüsse akzeptieren – darin liegt, im allgemeinen sinn, ein gleichsam religiöses moment dieser arbeiten. nicht von ungefähr habe ich als einführung zu einem katalog meiner tuschmalereien (frankfurter kunstverein 1989) ein längeres zitat aus dem buch Zen Buddhismus / Tradition und lebendige Gegenwart von alan watts gewählt.
Daran schließen sich Arbeiten an, in denen Rühm den Tuschmalereien Fotos oder feste Druckschriften eincollagiert, die in deutlichem Kontrast zur malerischen Vorgabe stehen und gleichwohl „objektiviert“ in das Bild integriert sind. In den Einzelworten und Wort-Konstellationen werden Themen angeschlagen, die bereits in den frühen visuellen Arbeiten des Autors aufscheinen und somit eine fixe Linie markieren, die bei allen Wandlungen und Variationen konstant bleibt. Stellvertretend verweise ich auf ein Blatt, das durch die Abtrennung der Buchstaben „n“ und „ts“ vorführt, daß im Wort „nichts“ das Wort „ich“ versteckt ist, und so zum „meditierbild“ avanciert. „Hier arbeitet ein Künstler“, läßt sich mit Christina Weiß im Vorwort zu visuelle poesie resümieren, „der mühelos und lustvoll die Grenzen zwischen den Ausdrucksformen aller Künste überspringt und sie zu neuen Ansichten, Einblicken und Expressionen nutzt“. Wie stark diese Feststellung die wirkliche Eigenart des visuellen Poeten Gerhard Rühm trifft, müßte – in Überschreitung der engen Werkgrenze, auf die ich mich hier im wesentlichen beschränkt habe – eine stärkere Ausarbeitung des einschlägigen literarischen Hintergrundes zeigen, wie er etwa mit der Studie Seh-Texte, Zur Erweiterung des Textbegriffes in konkreten und nachkonkreten visuellen Texten von Christina Weiß bzw. in dem von Heinz Ludwig Arnold zusammen mit Hermann Korte herausgegebenen Sonderband Visuelle Poesie seiner Zeitschrift Text und Kritik entfaltet wird. Gegenüber anderen Autoren, die sich vergleichend beiziehen ließen, ist festzuhalten, daß sich Rühm ein überraschend breites, in seinen Entwicklungsschritten höchst überraschendes Spektrum der „visuellen poesie“ geöffnet hat. Daß der Autor selbst dem visuellen Part seines Oeuvres einen hohen Stellenwert beimißt, zeigt der Titel Gesammelte Gedichte und visuelle Texte, den er bereits 1970 seiner ersten Werke-Edition im Rowohlt-Verlag gab.
Karl Riha, aus Kurt Bartsch und Stefan Schwar (Hrsg.): Gerhard Rühm, Literaturverlag Droschl, 1999
Gott schütze Österreich. Lesungen, Performances, Montagen: H.C. Artmann, Diana Brus, Aloisius Schnedel, Jodik Blabik, Alexander, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Günter Brus, Wolfgang Bauer, Gerhard Rühm, Hermann Nitsch. Aufnahmen für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages um 1974.
Jörg Drews: Laudatio auf Gerhard Rühm zum Alice-Salomon-Poetik-Preis 2007
Thomas Eder und Paul Pechmann sprechen über die Sprachkunst von Gerhard Rühm. Dieser liest und Annalena Stabauer moderiert am 5.10.2023 in der Alten Schmiede Wien.
Michael Lentz: Spiel ist Ernst, und Ernst ist Spiel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.2010
Paul Jandl: Dem Dichter Gerhard Rühm zum 80. Geburtstag
Die Welt, 12.2.2010
Apa: „Die Mutter der Wiener Gruppe“
Salzburger Nachrichten, 12.2.2015
Peter Grubmüller: Der musizierende Literatur-Maler
OÖNachrichten, 12.2.2020
Daniela Strigl: Opernmörder
Süddeutsche Zeitung, 11.2.2020
Ronald Pohl: Gerhard Rühm zum Neunziger
derStandart, 12.2.2020
Doris Glaser und Peter Klein: „Der Herr der Laute“
radio.friendsofalan.de, 9.2.2020
Gerhard Rühm liest seine seufzer prozession am 10.11.2009 in der Alten Schmiede zu Wien.
Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld lesen unter anderem Sprechduette beim Literaturfestival Sprachsalz im Parkhotel bei Hall in Tirol (10.–12.9.2010)
Schreibe einen Kommentar