Gerhard Rühm: Visuelle Poesie

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gerhard Rühm: Visuelle Poesie

Rühm-Visuelle Poesie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Turbulenz der Sinne

– Gerhard Rühms visuelle Poesie. –

Daß der Bedeutungsleib der Sprache aus bildlicher Darstellung und Klangkörper komponiert wird, ist für Gerhard Rühm die sinnliche Herausforderung auf dem Weg zu poetischer Sinngebung.
Die Letter, die Linie der Schreibspur, die Schreibfläche, Farben, Verteilung auf der Fläche, Rhythmus der bildlichen und klanglichen Gestaltung, alle Elemente, die einem Text, einer Texteinheit, interpretierbare Qualitäten geben, spielen im Zusammenklang des Textsinnes gleichberechtigt mit.
Es gibt kein belangloses Selbstverständliches in Gerhard Rühms Texten: das unterscheidet sie wesentlich von Literatur, die ihre Geschichte unabhängig von gestalterischen Qualitäten erzählen kann. Das Vokabular seiner Kunst ist weitaus vielfältiger als ein übliches Wörterbuch herzugeben vermag, die Lesbarkeit folgt nicht den strengen Spuren der Grammatik, die Texte routinemäßig von links oben nach rechts unten entlang fester Leseregeln einer Konvention entschlüsselbar macht. Hier arbeitet ein Künstler, der mühelos und lustvoll die Grenzen zwischen den Ausdrucksformen aller Künste überspringt und sie zu neuen Ansichten, Einblicken und Expressionen nutzt.
Die Sinnlichkeit eines poetischen, künstlerischen Textes wird erfahrbar. Die Turbulenz der Sinne, die Gerhard Rühm mit visuellen, akustischen und rhythmischen Impulsen anreizt, steuert den Prozeß einer subjektiven Bedeutungsfindung für jeden Leser, jede Leserin auf eigenwillige Weise.
Wer sich auf das Spiel mit den Elementen der Sprache einmal einläßt, den läßt die Lust am Wort nicht mehr los.
In den fünfziger Jahren probte der Musiker Gerhard Rühm, der dann später an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste „Freie Grafik“ lehrte, gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Wiener Gruppe den literarischen Aufstand. Zusammen mit Hans Carl Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener experimentierte er mit dem Klang-, Bild- und Bedeutungsmaterial der Sprache, schockierte lustvoll das Bürger-Lese-Hirn mit Provokationen aller Art, montierte sprachliche Versatzstücke und literarische Formhülsen zu abenteuerlichen Sprachbildern zusammen und konstellierte Einzelwörter und Lettern zu Klangereignissen oder Bildblättern. Gerhard Rühm schreibt über seine Anfänge:

1954 hatte ich begonnen, ,konstellationen‘ (wie sie später genannt wurden) mit isolierten begriffen zu machen. eine art ,punktueller‘ dichtung, in der die einzelnen wörter eigenständigkeit gewannen. beim versuch einer maximalen objektivierung und reduktion des ,gedichtes‘ auf die totalität des einzelnen begriffs (denn schon die konfrontation mit einem anderen schränkt ihn assoziativ ein) kam ich im extremfall zu ,ein-wort-tafeln‘. das hierarchische prinzip des satzes wurde zuerst einmal aufgegeben, um die wörter, der fixierung auf aussagen entbunden, wieder zu gleichberechtigten elementen aufzuwerten. die ,konstellation‘ trifft aus dem verfügbaren wortfundus eine signifikante auswahl; ihre gestimmtheit (sie ist das ,persönliche‘ daran) weist sich durch die so herausgestellten beziehungen aus, die semantischen aber auch die materialen, ,konkreten‘, „was in den zeichen nicht zum ausdruck kommt, das zeigt ihre anwendung“ (wittgenstein). die trennung von inhalt und form ist hinfällig: etwas anders gesetzt, bedeutet etwas anderes.

Die Dichter, die in den fünfziger Jahren mit dem Begriff ,konkrete Poesie‘ zu arbeiten begannen, folgten dem Impuls, den Gerhard Rühm in dieser Analyse beschreibt: die Sprache muß befreit werden, gereinigt von metaphorischem, romantisierendem Schwulst einerseits, von der Vernutzung durch die Alltagssprache andererseits. Für die deutschsprachigen Dichter kam entscheidend die Motivation hinzu, ihre Sprache, die durch die Herrschaftssprache des Naziregimes blockiert und zersetzt worden war, von Grund auf neu zu entdecken. Der Weg zu diesem poetischen Reinigungsprozeß war vorgegeben durch die bildende Kunst Theo von Doesburg, Begründer der Gruppe De Stijl, schrieb 1930 das „Manifest der konkreten Malerei“, in dem er proklamiert, daß seine Malerei konkret und nicht abstrakt genannt werden muß, weil er seine Malerei von der Verpflichtung, etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes abzubilden, entbunden hat:

Eine Frau, ein Baum, eine Kuh sind konkret im natürlichen Zustand, in der Malerei dagegen sind sie weit abstrakter, illusorischer, unbestimmter, spekulativer als eine Linie. Eine Fläche ist eine Fläche, eine Linie ist eine Linie, nicht mehr und nicht weniger.

Wenn nun also auch Buchstabe, Wortfragment, Klang, Wort, Satzzeichen, Satz befreit werden von der Funktion, in festgefügter grammatikalisch fixierter Reih- und Glied-Formation immer nur auf außersprachliche Zusammenhänge zu verweisen, ergeben sich völlig neue Betrachtungsweisen, die um die Ausdruckskraft der künstlerischen Mittel kreisen. Der gewohnte Sprachablauf wird gestört, die einzelnen Elemente des ,Textes‘ werden als Reizmaterial freigesetzt in ungewohnten Nachbarschaftsverhältnissen.
Das vereinzelte Wort oder das Sprachfragment verweisen nicht auf einen zwingenden Kontext, sondern lassen Sprache-in-Möglichkeit aufschillern. Die Fahndung nach dem möglichen semantischen Zusammenspiel der Bild- und Sprachelemente ist Aufgabe des Lesers, der Leserin. Der Text stellt sich her aus dem Prozeß der Betrachtung, des semantischen Auslotens, des Echos im Leser. Dem Leser bleibt es überlassen, wie schöpferisch gewandt er sich im Labyrinth des offenen Kontextes bewegt, wie er mögliche Bedeutungsgebungen aus dem Zusammenspiel der Bild- und Sprachelemente herausfindet. Solche Texte stellen sich quer, sie demonstrieren Sprache als Gerüst, reduziert auf Wortkörper, auf Lettern oder Lautfügungen. Sie treten auf als Textspuren oder Textgespinste auf der Fläche. Die Gestaltung jedes Elementes ist von Bedeutung, wenn die konventionelle Grammatik ersetzt wird durch eine Flächengrammatik, bei der Größe und Typ der Buchstaben, Plazierung auf der Fläche, die Beschaffenheit der Grundfläche, die Schriftlinie syntaktische Funktion übernehmen. Franz Mon spricht von der „Plastizität“ der Wörter, vom „Bedeutungshof“, der sich im Spannungsfeld zwischen dem Beobachten und Sehen des Textbildes und dem „assoziativen Anschließenlassen von Bedeutungen, Beziehungen und Übertragungen“ ausbildet und ausbreitet:

wo die horizontale kette am schwinden ist, taucht vertikal grund unter gründen aus dem vokabelhof hervor und fesselt die aufmerksamkeit in der gegenwärtigen vokabel spiegelt sich der unabsehbare schwarm ihrer verwendungen /… / die vokabel hat keine folge mehr, ist nur noch anweisung zu artikulierender echofähiger bewegung /… / winziger wirbel in einem unabsehbaren see von beziehungen, bedeutungen, erinnerungen, die gleichzeitig, hintereinander, ineinander und sich verdrängend hervorkommt, eben von diesem wirbel gerufen.

In diesem Sinn ist auch für Gerhard Rühm das Wort, das Sprachfragment eine Reizgestalt. Ob er die Musik des Sprechens komponiert, ob er das Wortbild setzt oder collagiert, ob er die Schrift als Zeichnung auf die Zerreißprobe stellt: immer fordert er die sinnliche Qualität der Sprache heraus. Er jongliert mit den materialen Elementen der Sprache und demonstriert, oder besser: provoziert dadurch Sprachreflexion mit künstlerischen Mitteln.
Es gelingt ihm immer wieder, dem Leser Entdeckungsereignisse zu präsentieren: Wenn er etwa in den typographischen Arbeiten die materialen Eigenschaften der Grundfläche und die grafischen Eigenschaften des Typogramms als ,Vokabular‘, als Bedeutungsträger, miteinbezieht und in semantische Spannung zu den Wortbedeutungen bringt. Ein leeres Blatt Papier ist nicht mehr leer, wenn eine vertikale Reihe aus dem Wort „leer“ daraufgeschrieben wird, trotzdem zeigt die Weiße der Seite Schweigen, Stille; die Symmetrie suggeriert Konzentration, Meditation, wird dann aber gekreuzt und gestört durch die Linie mit dem Wort „lärm“. Es gehört zu diesen Bildtexten, die ebenso intensiv betrachtet werden müssen, wie die Bedeutung der Vokabeln nach ihren lexikalischen und selbst erfahrenen Erinnerungsspuren abgefragt werden muß, daß sie immer im Spannungsfeld zwischen Schweigen und Sprechen, zwischen Leere und Vielzahl, zwischen Lichtheit und Dichte aufscheinen. Die Weiße der Seite wird zum Meditationsraum.
Wenn der Komponist John Cage aufschreibt: „Meine gegenwärtige Art zu komponieren hat mit der Beobachtung von Mängeln im Papier zu tun, auf dem ich grad schreibe“, ist es eine Liebeserklärung an die Stille der Leere, aus der heraus sich der Klang erst formieren kann. In solchem Kontext trägt das Wort „zerbrechen“ den Klang diverser Bruchgeräusche mit aufs Papier, ebenso wie alle denkbaren übertragenen Bedeutungen, die sich aufdrängen, wenn das geschlossene Rechteck des „und“-Blocks. der „und“-Gemeinsamkeiten, aufgebrochen wird.
Die Wort- oder Letternkonstellationen können auch durch Bildelemente ergänzt werden: Farbe, Bewegung, Strudel, die aus zerflossener Farbe entstehen, das alles sind die visuellen Räume, die im Wortspiel Erinnerung an früher gelesene oder erfahrene Wortverwendungen steuern, die im semantischen Feld ebenso mitwirken wie die rein sprachlichen Elemente.
Gerhard Rühm lädt die Sprache vor allem in den gezeichneten Texten mit großer bildnerischer Ausdruckskraft auf. Mit dem Zeichengerät in der Hand scheint er immer zu schreiben, dabei spielt es kaum mehr eine Rolle, ob ein verbaler Text lesbar wird, oder ob die expressive Linie auf Sprache nur noch anspielt und rein nach bildlicher Zeichenkraft zu entschlüsseln ist. Gerhard Rühms Linien sind Denkspuren, spannungsgeladene Gratwanderungen zwischen dem emotionalen Ausdruck der linearen Bewegung und dem intellektuellen Witz gezeichneter Spitzfindigkeiten, die er manchmal durch ins Bild geschriebene Titel semantisch steuert.
Die Schreib- oder Kritzelspur und die geschriebene Chiffre haben bei Gerhard Rühm immer mit einer doppelten Herausforderung zu tun: auf der einen Seite der Reiz durch das sprachliche Material oder durch die Anspielung auf Sprache und auf der anderen Seite die Ausdruckskraft der Linie, der Linienballung, der Linienkreuzung, des Linienzuges, die der unmittelbaren Handschrift in ihrer jeweiligen momentanen Vollzugsemotionalität folgt. Jede Spur des Schreibgestus beschreibt einen subjektiven Kommentar zum Gegenstand, der sich entweder aus der bildlichen Allusion oder dem genannten Thema ergibt. Die eigene Handschrift kann zum Fetisch werden, zur narzißtischen Selbstspiegelung. Das Wort „Ich“ wird zum Selbstporträt besonderer Art. In der künstlerisch gestalteten Spur der geschriebenen Linie treffen sich beide Ausdrucksmedien Sprache und Bild zu gleichen, gleichgeordneten, untrennbaren Teilen.
Sinnlicher und intellektueller Reiz steigern sich gegenseitig. Nicht nur, wenn Gerhard Rühm in den „ich“ oder „du“ oder „Mann“-„Frau“-Texten eine erotische Komponente versteckt; diese Arbeiten entfalten ihren Wortkitzel für den Leser nur in der richtigen Sogweise, wenn der sich auf die „Lust am Text“ einläßt, seine Phantasie dem Spiel der Versinnlichung von Sprache durch das Bild ausliefert – gemäß Roland Barthes:

Der Text ist ein Fetischobjekt, und dieser Fetisch begehrt mich. Der Text erwählt mich durch eine ganze Vorrichtung von unsichtbaren Filtern, selektiven Hindernissen: das Vokabular, die Bezüge, die Lesbarkeit usw.; und ganz verloren mitten im Text (nicht hinter ihm wie ein deus ex machina) ist immer der andere, der Autor.

Der emotionale Zustand und der geistige Witz des Autors fließen mit dem Befinden des Lesers im Moment der Lektüre zusammen. Der Vollzug, der augenblickliche Prozeß, der, ausgehend von den sprachlichen und visuellen Reizen, im Kopf des Lesers passiert, das ist der Text, der sich bei jeder Lektüre in anderer Weise artikulieren kann.
Das Prozeßhafte der Relation zwischen Text und Leser ist es auch, das nicht nur das offene Vokabular von Pronomina oder abstrakten Substantiven so attraktiv macht, sondern gerade auch die Thematisierung des ,Jetzt‘ mit besonderer akuter Spannung auflädt. Es ist immer Gegenwart, aber bei jeder Begegnung mit dem Text ist die Augenblickserfahrung durch andere emotionale und situationale Komponenten anders geprägt, so daß die Offenheit der Texte eine enorme Übersetzungsvielfalt ermöglicht.
Jede Zeile von Gerhard Rühm überlistet die Gleichgültigkeit des alltäglichen Sprechens, jede Vokabel beschwört eine Welt aus Klang und Bild und Bedeutung, aber keines der Zeichen ist eindeutig auflösbar. Der Leser muß sich einlassen auf den Prozeß, der im Augenblick seiner Texterfahrung abläuft. Das Erleben des Textes ist zeitabhängig, und Gerhard Rühm artikuliert die Schlüsselfrage zum Prozeß der Lektüre in seinem Text „die frösche“:

welches wort ist jetzt im moment des lesens ,jetzt‘?

Die Erlebniszeit des Lesers, der Leserin stellt der Lektüre ihre eigenen Koordinaten, die sich von Lesezeit zu Lesezeit verändern. Daraus bemißt sich die schöpferische Kraft, zu der Gerhard Rühms Bildertexte anregen.

Christina Weiss, Vorwort

Zu meinen Textbildern

die ,visuelle poesie‘ bezeichnet einen markanten schwerpunkt meiner künstlerischen arbeit. ausgehend vom ,schreibmaschinenideogramm‘ der ,konkreten poesie‘ habe ich ab 1954 im lauf der jahre eine reihe charakteristischer ausdrucksbereiche entwickelt, die sich verschiedene künstlerische techniken nutzbar machen. waren sie bisher nur in verstreuten einzelpublikationen dokumentiert, zeigt dieses buch zum ersten mal einen repräsentativen gesamtüberblick. er umfasst neben den „schreibmaschinenideogrammen“, „typocollagen“, „zeitungscollagen und selektionen“, „textfrottagen“, „schriftzeichnungen“, „briefbilder“, „leselieder“, „schrifttuschen“ und „tuschtypocollagen“. „schriftobjekte“ und „mobile texte“, die sich in buchform nur ungenügend wiedergeben lassen, „unikate bücher“ (das sind vertuschte, collagierte, beschnittene oder sonstwie bearbeitete drucksachen), zyklische „schreibmaschinenideogramme“ (von denen die folge „bewegung“ als sonderbeilage der kärntner kunstzeitschrift Eröffnungen, bleiburg 1964, erschienen ist) und die blattfüllenden „einworttafeln“ aus dem jahre 1955 wurden hier begreiflicherweise ausgespart. zu aufwendig gewesen wäre auch eine wiedergabe der „farb-textkonstellationen“ (1956), die als „farbengedicht“ 1965 im berliner verlag magdalinski veröffentlicht wurden.
einige mir wichtig erscheinende „typocollagen“, die sich in museen und privatsammlungen befinden, waren zum zeitpunkt der zusammenstellung des materials leider nicht greifbar. von ihnen sind die meisten in dem (vergriffenen) band gesammelte gedichte und visuelle texte (rowohlt verlag, reinbek bei hamburg 1970) enthalten. eine substantielle ergänzung zur rubrik „schriftzeichnungen“ findet sich in dem umfangreichen bildband zeichnungen (residenz verlag, salzburg und wien 1987); er ist inzwischen ebenfalls vergriffen, trotzdem habe ich angesichts dieser weiterverbreiteten publikation auf wiederabdrucke verzichtet. verweisen möchte ich an dieser stelle noch pauschal auf mehrseitige oder buchfüllende „lesetexte“, die man im weiteren sinn der ,visuellen poesie‘ zuordnen kann (veröffentlicht in verschiedenen verlagen wie rainer, rowohlt, luchterhand und material-verlag), und schliesslich auf die „kinematografischen texte“ (schriftfilme), deren partitur im freibord verlag, wien 1996, erschienen ist.

anfang der sechziger jahre schrieb ich unter dem titel „lesetexte – hörtexte“ einige grundsätzliche zeilen, die ich im folgenden zitiere:

in dem masse, in dem neben dem semantischen bereich auch der zeichen-(materiale)bereich der sprache bedeutung gewinnt, verwischt sich die unterscheidung zwischen lyrik und prosa (daher nun der übergeordnete begriff ,text‘) zugunsten einer unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener sprache. sprache äussert sich mittels akustischer zeichen (laute) oder mittels optischer zeichen (schrift). sie bedient sich also zweier voneinander völlig verschiedener medien. diese zeichen müssen nicht bloss mittel zum zweck (einer bestimmten mitteilung) sein, sondern können selbst als ausdrucksmittel gesetzt werden. zeichen haben unabhängig von ihrer mitteilungsfunktion eine eigene realität: man sieht sie oder hört sie. löst man sie von den begriffen los, folgt man ausschliesslich ihren eigenen materialen gesetzmässigkeiten, entstehen ,schriftbilder‘ oder ,lautkompositionen‘. auch wenn der semantische bereich erhalten bleibt, drängt sich so eine grundsätzliche unterscheidung zwischen ,lesetexten‘ und ,hörtexten‘ auf. der informationsgehalt des textes kann durch verschiedene schrifttypen und -grössen, anordnung auf dem blatt usw. oder durch betonung, klangfarbe, schallrichtung, lautstärke usw. bereichert und differenziert werden. die schriftliche oder phonetische fixierung eines textes hat nicht mehr eine nur konservierende, sondern vielmehr eine konkrete informative funktion. form und inhalt werden damit identisch – der ,konkrete text‘ beschreibt nicht, er zeigt.

wer sich über die eigentümlichkeiten der schreibmaschine schon gedanken gemacht und der entwicklung der ,visuellen poesie‘ einige aufmerksamkeit geschenkt hat, dem wird sicher, neben dem gesetzten und handschriftlichen textbild, das schreibmaschinengedicht oder -ideogramm als eine spezifische variante visueller poesie nicht unbekannt sein. das ,funktionelle‘ schreibmaschinengedicht erwächst aus den besonderen gegebenheiten und möglichkeiten der schreibmaschine. das sind vor allem gleichmässiger typenabstand (auffallend bei „i“ und „m“). der exaktes untereinandersetzen der zeilen in blockhafter form erlaubt, sozusagen geometrisch berechenbar ist, ferner übereinandertippen, beliebige wiederholung einzelner zeichen, verschiebungen durch lockerung des zeilenrasters, verschiedene manipulationen mit durchschlagpapier und tipp-ex, faltungen des blattes vor dem betippen und anschliessendes glattstreichen, um textzerrungen und -streuungen zu erzielen. die bewusste berücksichtigung solcher möglichkeiten wirkt zwangsläufig auf die konzeption eines textes zurück, provoziert neue formerfindungen. so kann man durchaus von einer „poetik der schreibmaschine“ sprechen.
bei einigen frühen „schreibmaschinenideogrammen“ habe ich fotoausschnitte mit aufs blatt gebracht, die neben dem getippten stehen oder auch direkt übertippt wurden. foto (abbild) und text (bezeichnung) habe ich später immer wieder auf vielfältige weise zueinander in beziehung gesetzt.
das „ideogramm“ unterscheidet sich vom „kalligramm“ oder „figurengedicht“ grundsätzlich dadurch, dass die visualisierung des verbal schon gesagten weder illustration (ein ,apfel‘-text in form eines apfels) noch allegorie (ein gedicht über die gerechtigkeit in form einer waage), also nicht tautologisch ist, dass sie vielmehr dem text eine zusätzliche information verleiht, die nur visuell erfahrbar ist.

ab 1955 entstanden zahlreiche textbilder, die das ausdrucksrepertoire der schreibmaschinenideogramme insofern erweitern und differenzieren, als sie unterschiedliche schrifttypen und -grössen ins spiel bringen. im geist der ,konkreten poesie‘, aber ursprünglich auch inspiriert von der knappen form des japanischen haiku, ist das elementare sprachmaterial (einzelne wörter und buchstaben) auf sparsamste weise eingesetzt. um das konstruktive moment dieser arbeiten zu apostrophieren, nannte ich sie anfangs (in anlehnung an mondrians neuen gestaltungsbegriff) „wortgestaltung/lautgestaltung“. das war auch der titel der ersten ausstellung meiner textbilder im mai 1958 in der wiener galerie würthle, die damals der bildhauer fritz wotruba leitete. meines wissens war dies das erste mal überhaupt, dass visuelle poesie als eigenständige mischform von dichtung und bildnerei öffentlich präsentiert wurde. die „wortgestaltung“ jetzt figurierte, reproduziert im originalformat, gewissermassen programmatisch auf dem einladungskarton.
später zog ich die bezeichung „typocollage“ vor, da ja das schriftmaterial zeitschriften entnommen und aufgeklebt worden war (letraset-buchstaben standen mir damals noch nicht zur verfügung). auf diese weise vom schreibmaschinenblattformat unabhängig, konnte ich nun auch grossformatig arbeiten. die wörter befinden sich auf der fläche semantisch wie optisch in einem schwebezustand, jedes wort kann, uneingeschränkt durch einen satzverbund, seine bedeutungsaura voll entfalten. wörter oder auch nur buchstaben bilden elementare ,konstellationen‘.
dazu schrieb ich 1959:

buchstabenkonstellationen sind gegenüber wortkonstellationen noch punktueller. das wort legt die konventionelle leserichtung von links nach rechts schon durch seine letternfolge nahe. aus der entfernung betrachtet, wirken buchstabenkonstellationen primär bildhaft, nähert man sich ihnen, gewinnen sie eine weitere dimension: man erkennt die buchstaben, die lautwerte bezeichnen – in der vorstellung wird damit auch ein akustischer eindruck suggeriert. es bleibt dem betrachter überlassen, aus dem gesamtbild (indem er bestimmten richtungen folgt) verschiedene zusammenhänge herzustellen. buchstabenkonstellationen sind auch meditierbilder. von begrifflichen bindungen gelöst, schweben sie frei in einem raum, der keine sprachgrenzen mehr kennt.

einen zentralen bereich meiner ,visuellen poesie‘ bilden die „schriftzeichnungen“. handschrift und zeichnung basieren ja beide auf dem strich, der linie, wobei die übergänge nach beiden seiten fliessend sein können. geradezu prototypisch zeigen dies meine „automatischen zeichnungen“, die in diesem buch allerdings unberücksichtigt blieben, da sie andernorts (u.a. in dem band zeichnungen) bereits eingehend dokumentiert wurden.
mit den schriftzeichnungen habe ich 1956 die handschrift als künstlerisches medium entdeckt, das in seinen spezifischen qualitäten und ausdrucksformen auf bildnerischem gebiet ebenso wie auf poetischem neue perspektiven eröffnete. es handelt sich also um einen ästhetischen mischbereich, in dem schauen und lesen, grafische und sprachliche elemente untrennbar miteinander verbunden sind. die schriftzeichnungen stellen den textbildern mit vorgeprägten normierten lettern solche mit den grafischen charakteristika spontaner individueller handschrift gegenüber – manchmal sogar auf demselben blatt. grundsätzlich lässt sich unterscheiden zwischen zeichnungen in linearer zugschrift (der eigentlichen handschrift) und solchen mit unverbundenen blockbuchstaben, die bei mir meist in einer art motorischer strichelschrift ausgeführt sind.
eigene gruppen bilden die ab 1965 entstandenen „textfrottagen“, die auf drucklettern grafisch reagieren, und die in demselben jahr begonnenen „briefbilder“, die aus partikeln fremder handschriften collagiert sind. die gelegentliche einbeziehung einzelner fotos verstärkt noch die imaginative wirkung der „briefbilder“ und gibt zugleich den schriftsegmenten ein gegenständliches assoziationsfeld.

in den „leseliedern“ artikuliert sich meine gesamtkünstlerische arbeit auf besonders schlüssige weise: zeichung, poesie und musik (wenn hier auch nur als musikalische notation) durchdringen einander aufs engste und bilden eine ,höhere‘ einheit die „leselieder“ als eigenständige ausprägung meiner ,visuellen musik‘ sollen – analog zur ,visuellen poesie‘ – ausschliesslich mit den augen wahrgenommen werden und nur im ,inneren ohr‘. synoptisch, vage akustische vorstellungen wecken. die vorgegebenen notenlinien suggerieren dabei, dem zeichen prozess konform, einen zeitlichen verlauf, eine „Iese“-richtung (was nicht ausschliessen soll, das blatt auch als ganzes auf sich wirken zu lassen) und lenken die assoziationen beim betrachten der zeichnung von vornherein in musikalische bereiche. die „leselieder“ sind ganz vom emotionalen impuls diktierte zeichnungen, die in ihrer wirkung auf eine nachvollziehbare ausdrucksqualität des gestischen vertrauen, wie sie im strich (punkt) und im duktus in erscheinung tritt.
ursprünglich hatte ich die worte allein so notiert, dass sie im auf und ab der grapheme, in der expressivität der niederschritt auf den notenlinien musikalische vorstellungen (mit-)provozieren („lieder ohne töne“ nannte ich die ersten blätter). bald darauf traten jedoch, sozusagen begleitend, zeichen- und strichformen der ,reinen‘ visuellen musik wieder hinzu; schliesslich durchdrangen sich duktuell handschrift und musikalische notation im gemeinsamen medium zeichnung. hatte ich anfangs vereinzelt auf ältere eigene verszeilen zurückgegriffen, so entstanden wenig später die texte ausnahmslos spontan während des zeichnens – mit allen überraschungen und gelegentlichen schwächen, wie sie der vergleichbaren musikalischen improvisation eignen

die letzte werkgruppe, ab 1987, ist durch die verwendung von pinsel und tusche gekennzeichnet. neue mittel führen zu neuen ausdrucksformen. die tuschmalerei ist, wie das aquarell, ein medium der entgrenzung: farbaufträge fliessen auf dem feuchten papier auseinander, breiten sich aus, verschmelzen mit anderen farbflecken. gerade das macht den reiz dieser technik aus und erweitert die möglichkeit bildnerischer aussage. titel wie „entichung“, „ichauflösung“, „die hochzeit von ja und nein“, „hart“ (das hingeschriebene wort verfliesst auf dem nassen untergrund weich!) deuten an, worum es mir bei den „schrifttuschen“ geht. das fertige blatt ist stets ergebnis eines prozesses, der noch über den malakt hinausreicht und von zufälligkeiten, von äusseren bedingungen abhängt (wie sättigungsgrad des pinsels, tempo des farbauftrags, beschaffenheit und feuchtigkeit des papiers). man muss „ES“, die ,äusseren‘ einflüsse akzeptieren – darin liegt, im allgemeinsten sinn, ein gleichsam religiöses moment dieser arbeiten. nicht von ungefähr habe ich als einführung zu einem katalog meiner tuschmalereien (frankfurter kunstverein 1989) ein längeres zitat aus dem buch Zen-Buddhismus / Tradition und lebendige Gegenwart von alan watts gewählt 1988 entstanden die ersten blätter, bei denen ich in tuschmalereien fotos oder druckschriften collagierte. die schriftelemente erscheinen hier von der malerischen vorgabe deutlich abgesetzt, ,objektiviert‘, gleichwohl jedoch in das bild integriert. einerseits ist die wahl der wörter von der bildhaften anmutung der tuschmalerei inspiriert, andererseits wird die malerische formgebung von den gewählten begriffen bestimmt. so wirken in den „tuschtypocollagen“ gemaltes bild und geschriebene sprache im zusammenklang, bilden eine synthese auf höherer ebene.

Gerhard Rühm, Nachwort, 1996

 

Gott schütze Österreich. Lesungen, Performances, Montagen: H.C. Artmann, Diana Brus, Aloisius Schnedel, Jodik Blabik, Alexander, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Günter Brus, Wolfgang Bauer, Gerhard Rühm, Hermann Nitsch. Aufnahmen für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages um 1974.

Jörg Drews: Laudatio auf Gerhard Rühm zum Alice-Salomon-Poetik-Preis 2007

 

Thomas Eder und Paul Pechmann sprechen über die Sprachkunst von Gerhard Rühm. Dieser liest und Annalena Stabauer moderiert am 5.10.2023 in der Alten Schmiede Wien.

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Michael Lentz: Spiel ist Ernst, und Ernst ist Spiel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.2010

Paul Jandl: Dem Dichter Gerhard Rühm zum 80. Geburtstag
Die Welt, 12.2.2010

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Apa: „Die Mutter der Wiener Gruppe
Salzburger Nachrichten, 12.2.2015

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Peter Grubmüller: Der musizierende Literatur-Maler
OÖNachrichten, 12.2.2020

Daniela Strigl: Opernmörder
Süddeutsche Zeitung, 11.2.2020

Ronald Pohl: Gerhard Rühm zum Neunziger
derStandart, 12.2.2020

Doris Glaser und Peter Klein: „Der Herr der Laute“
radio.friendsofalan.de, 9.2.2020

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Gerhard Rühm liest seine seufzer prozession am 10.11.2009 in der Alten Schmiede zu Wien.

 

Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld lesen unter anderem Sprechduette beim Literaturfestival Sprachsalz im Parkhotel bei Hall in Tirol (10.–12.9.2010)

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