– Zu Jörg Kowalskis Gedicht „Neckarpartie mit Hölderlinturm“ aus Jörg Kowalski: Inschrift auf weißem Papier. –
JÖRG KOWALSKI
Neckarpartie mit Hölderlinturm
das zimmer im turm
leer, so sind wir
haltlos, ausgeliefert
den schatten
der fensterkreuze
auf den dielen
fragloser augenblick
voller einverständnis.
an der ufermauer
ein graffito:
wir lieben ihn
und begreifen nichts.
Wann Jörg Kowalski, Jahrgang 1952, zum erstenmal den Hölderlin-Turm in Tübingen gesehen hat, ist mir nicht bekannt. Sehr lange aber kann es nicht her sein, denn zum Reisekader wurde er in der vergangenen DDR nicht erhoben. In Halle, wo er zu Hause ist, gehörte er zu einem kleinen Kreis experimentierender Poeten, deren Versuche mit visueller Dichtung und mit den Tiefen oder Untiefen der Wörter fernab von aller offiziell gewünschten und geförderten Literatur lagen. Erst allmählich treten nun die Zeugnisse ihres Tuns ans Licht.
Daß Dichter zuweilen ihre Berufskollegen von einst und jetzt zum Gegenstand der eigenen Verse machen, ist seit antiken Zeiten geläufig. Solcher Bezug auf die anderen ist entweder Beschwörung von Autoritäten, Bewunderung, Spott oder aber die Reflexion auf eigene Konflikte, eigenes Leiden, Gelingen oder Mißlingen. Für letzteres bieten sich am ehesten die Mißachteten der Vergangenheit, die ihrer Zeit fremd Gebliebenen an, auf die sich die eigene Unerfülltheit und die eigenen Sorgen mit der Gegenwart übertragen lassen. Wie kaum ein anderer läßt sich der von seinen Zeitgenossen verkannte Hölderlin, der nach tiefster Erkenntnis und zartestem Ausdruck oft qualvoll Suchende, der einsam Gewordene, sich verfolgt Fühlende und schließlich Umnachtete zum Gefäß machen für all das, was in einem Poetenkopf an Schöpfernot und Zeitklage enthalten ist.
Von solcher Art nun freilich ist Kowalskis kleines Gedicht nicht. Viel eher ist es eine Reflexion auf derartige Reflexionen, die ja immer die Gefahr des Modischen, der Entstellung oder gar der gewaltsamen Anbiederung in sich tragen, wenn man etwa die Verblichenen, die sich nicht mehr wehren können, zu den Bürgen eigener Wunschbilder macht. Hölderlins Beitrag zum „nationalen Kulturerbebestand, wie es ein DDR-Lexikon behauptet, in der „vorwärtsweisenden ideologischen Substanz“ seines Werkes; Peter Weiss ließ in seinem Hölderlin-Drama den jungen Marx einen symbolischen Besuch bei dem im Turm Dahindämmernden abstatten; und mit belegter Stimme vorwurfsvoll vom pauvre Holterling zu reden ist in verschiedenen geistigen Lagern fast zum Sprachzwang geworden.
Kowalski erspart sich das. Er zeichnet kein Hölderlin-Bild, eignet ihn sich nicht an, versucht nicht Interpretation und Deutung. Das leere Zimmer im Turm, Schatten und Licht darin, die „fensterkreuze / auf den dielen“ sprechen anschaulich, sinnlich von einem im Grunde recht nüchternen Verhältnis zu Vergangenem, von einer Kluft, die nie überbrückt werden kann und die doch in der Begegnung mit einem Kunstwerk immer wieder zu verschwinden scheint.
Solcher Widerspruch zwischen bleibender Fremdheit des Einstigen und der immer wieder empfundenen Unmittelbarkeit aller großen Kunst kommt eindringlich und klar in Kowalskis zweiter Strophe zum Ausdruck. Gewiß gibt es diesen Augenblick des Einverständnisses mit dem Kunstwerk, fraglos im enthusiastischen, hingegebenen Empfangen. Aber das ist dann nur ein erster, wenn auch bei jedem Lesen wiederholbarer Schritt. Das Begreifen, das Verstehen hingegen fordert mehr, fordert kritische Erkenntnis von Distanz zum Erkannten wie zum Erkennenden. Niemand kann sich über seine Zeit erheben, wohl aber die Grenzen des eigenen Horizonts sehen. Ohne einen derartigen Erkenntnisprozeß blieben Enthusiasmus und Liebe flüchtig und leer.
Kowalskis Verse sind eine Huldigung an Hölderlin, aber sie sind auch ein Gedicht über den Umgang mit Dichtung. Sie mahnen zur Bescheidenheit gegenüber dem Vergangenen und zur Vorsicht hinsichtlich unserer Selbstsicherheit und Selbstgefälligkeit bei allen Besitzansprüchen.
Gerhard Schulz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994
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