Gerhard Schulz: Zu Karl Krolows Gedicht „Für alle Zeit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karl Krolows Gedicht „Für alle Zeit“ aus Karl Krolow: Als es soweit war. –

 

 

 

 

KARL KROLOW

Für alle Zeit

Hat man genug getan?
Weiß man Bescheid?
Es krähte nach mir kein Hahn. –
Für lange Zeit

trieb mich ein Leben um,
das wie Papier
raschelte, ging Gesumm
von Namen mir

nicht aus dem Kopf, bis ich
in meinem Kopf genug hatte
und über mich
zog als ein dunkles Tuch,

namenlos und befreit:
Tun oder nicht getan.
Man gab für alle Zeit
niemals genug Bescheid.
Kräht nach mir erst der Hahn,
ist es soweit.

 

Umsonst Verschwiegen

„Alles ist ganz eitel“, sagt der Prediger Salomo, denn „was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne?“ Was bringt es, das Tun? Was nutzt es, das Wissen? Weiß man wirklich mehr seit den Tagen, da nach einem kein Hahn krähte und da man anfing nachzudenken und aufzuschreiben? Hat man am Ende wirklich genug getan? Und was heißt überhaupt genug? Die Fragen sind alt und ungelöst.
Kein Prediger freilich spricht im Gedicht, sondern ein Poet, ein Wortkünstler. Nur hat auch er erkannt, wie sehr sein Leben im Dienst der Eitelkeit stand, ist sie doch eine Erbsünde jener Dichterei, die das Privateste öffentlich ausstellt und intimste Dinge sagt um der Aufmerksamkeit und des Beifalls der Welt willen. So ist Dichterleben ein Leben auf dem Papier und für das Papier. Auf Papier stehen die eigenen Worte, und auf ihm stehen die fremden Worte über die eigenen, die man geschmeichelt für reine Wahrheit nimmt, wenn sie Freundliches sagen, oder für blassen Neid und böse Feindschaft hält, wenn sie Mißfallen äußern.
Wie lange treibt man ernsthaft das Spiel solcher Dichterei? Nicht jedem ist gegeben, von sich und seinem Tun zurückzutreten und um diesen Preis wissender zu werden im Laufe der Jahre. Die Fähigkeit, sich nicht zu wiederholen, sich zu wandeln, ohne sich aufzugeben, ist selten. In jedem Fall schließt sie das Bewußtsein des Altwerdens ein.
Lebensüberschau entsteht, Weisheit, auch Skepsis, wie sie das Jahrhundert gebietet. Die Philologie spricht dann gewöhnlich von Altersstil. Bei Goethe, dem Meister des Sich-Wandelns, bedeutet er über alles Sprachliche hinaus zunehmendes Nachdenken über das Dichten im Gedicht.
Gleiches geschieht in Karl Krolows Versen. Ohne Schnörkel stehen sie da, einfach in den Worten, Bildern, im Metrum und in den Reimen, ohne Affektation, klar, vernünftig und doch im einzelnen „ein bißchen unvernünftig“, wie Goethe es von allem Lyrischen erwartete. Denn dies erst ist es, was sich festhakt in den Köpfen der Lesenden und dort weiterwirkt.
„Für lange Zeit“ also war man bemüht, etwas „für alle Zeit“ zu tun. Umtriebig blieb dieses Tun und ohne Resultat, weshalb denn der Weg zur Freiheit des Stillseins führte im Reime von „genug“ und „Tuch“, einem Reim, der entweder norddeutsches Relikt oder hessische Konzession des in Darmstadt lebenden Hannoveraners ist. Man möchte Ironie herauslesen, denn für so arglos wie Gretchen, die ihr „Ach neige / Du Schmerzensreiche“ betet, will man den wissenden Autor nicht halten.
Ein bißchen „unvernünftig“ ist zudem das metaphorische Spiel mit den Hähnen, die als zwei sehr verschiedene Hähne krähen. Der Herr des Hühnerhof es ist Richter über das Bedeutende und Unbedeutende. Derjenige zählt nicht, nach dem er nicht kräht. Aber auch Zeitmesser ist er in der Morgenfrühe, Verkünder des nahen Sonnenaufgangs. Ein neuer Tag demnach, wenn es am Ende soweit ist? Heißt das womöglich gar, daß jenseits aller Skepsis der Schimmer der Erwartung aufleuchtet? Ist also tatsächlich alles so eitel, wie es scheint? Ist da kein Gewinn, keine Erkenntnis aus allem Lernen und Tun? Fragen über Fragen, die ein Gedicht stellt, ohne sie zu beantworten, es sei denn durch sein reines Dasein.
Denn schließlich steht es eben auf Papier im Widerspruch zur Erkenntnis, die es verkündet. Aporie nennen die Philosophen die Unmöglichkeit, ein Problem aufzulösen, weil in der Sache und den Begriffen selbst Widersprüche liegen. „Dichter ist umsonst verschwiegen. / Dichten selbst ist schon Verrat“, läßt statt dessen Goethe seinen Hatem sagen. Solche Aporie im Gedicht auszudrücken verlangt nach Kunst und Altersweisheit in einem. Karl Krolow ist die Verbindung auf eine Weise gelungen, die des Bezugs zu dem Weimarer Kollegen von einst würdig ist.

Gerhard Schulzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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