Gerhard Schulz: Zu Robert Gernhardts Gedicht „Ach“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Robert Gernhardts Gedicht „Ach“ aus Robert Gernhardt: Lichte Gedichte. –

 

 

 

 

ROBERT GERNHARDT

Ach

Ach, noch in der letzten Stunde
werde ich verbindlich sein.
Klopft der Tod an meine Türe,
rufe ich geschwind: Herein!

Woran soll es gehn? Ans Sterben?
Hab’ ich zwar noch nie gemacht,
doch wir werd’n das Kind schon schaukeln –
na, das wäre ja gelacht!

Interessant so eine Sanduhr!
Ja, die halt ich gern mal fest.
Ach – und das ist Ihre Sense?
Und die gibt mir dann den Rest?

Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links? Von Ihnen aus gesehn?
Ach, von mir aus! Bis zur Grube?
Und wie soll es weitergehn?.

Ja, die Uhr ist abgelaufen.
Wollen Sie die jetzt zurück?
Gibt’s die irgendwo zu kaufen?
Ein so ausgefall’nes Stück

Findet man nicht alle Tage,
womit ich nur sagen will
– ach! Ich soll hier nichts mehr sagen?
Geht in Ordnung! Bin schon

 

Ein Held unserer Zeit

Wen dieses Gedicht nicht beim ersten Lesen anrührt oder wohl gar überwältigt, dem wird man es durch keine noch so feinsinnige und kluge Interpretation öffnen und erklären können. Offen ist es ja von vornherein, denn Geheimnisse, die durch überlegenes Wissen erst zu erschließen wären, besitzt es nicht. Was es zu sagen hat, sagt es unverblümt und direkt. Nur daß die alltäglichen Dinge, von denen es scheinbar so alltäglich redet, zugleich jene letzten Dinge sind, die ihr Geheimnis ewig behalten werden, weil gegen den, der hier seinen Besuch abstattet, kein Kraut gewachsen ist. Der aber kann sich deshalb auch leisten zu schweigen.
Dafür redet die Besuchte um so mehr, redet lässig, überlegen, beinahe schon flapsig und macht, so scheint es, die Verse zu einem einzigen Monolog der Geschwätzigkeit. Denn alles ist vom wundervoll Abgegriffensten: „das Kind schaukeln, das wäre ja gelacht“, den Rest geben, geht in Ordnung und so fort. Bilder sind hineingeflochten in diese unpoetisch-poetische Rede, und zwar die uralten, einfachen Requisiten der dürren, unerbittlichen Gestalt mit Sense und Sanduhr. Unserem Helden, bewundernswert in seiner lockeren Kühnheit, scheinen sie freilich nichts anhaben zu können. Forsch versucht er, solch vorletzte Dinge als Antiquitätensammler in den Griff zu bekommen.

Gibt’s die irgendwo zu kaufen?

Meisterhaft komponiert also fließt diese Geschwätzigkeit mit ihren Fragen und implizierten Antworten dahin. Galgenhumor?
Aber das ist kein Morgensternsches Gedicht, zusammengefügt aus Demut, Ironie und Weltweisheit. Dieses hier ist mit Buntstift auf einen sehr schwarzen Grund geschrieben, denn da versucht doch einer nichts Geringeres als über den Weg zu demjenigen Ort zu reden, der jenseits aller Begriffe liegt. Nur sind ihm dafür die tröstenden und beschwichtigenden Worte abhanden gekommen, die sich die Menschheit mit ihren Weltdeutungssystemen immer wieder selbst zur Verfügung gestellt hat. Alle diese Straßenkarten für den letzten Weg sind ihm ungültig geworden.

Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links? Von Ihnen aus gesehn?

Aber an diesem Punkt tut schließlich die Richtung nichts mehr zur Sache. Ach, von mir aus! Gedichte haben zuweilen die schöne Kraft, ihre Worte doppeldeutig sein zu lassen.
Es ist mehr als zweihundert Jahre her, daß sich Schillers Karl Moor über das tintenklecksende Säkulum empörte. Unter den Segnungen der Technik und ihrer Institutionen ist daraus inzwischen ein alles beschwätzendes Säkulum von globalen Dimensionen geworden, zu dessen Götzen das seichte Interesse an allem und jedem gehört:

Interessant so eine Sanduhr.

Aber man täte dem ganz sicher unrecht, der sich so launig und keß seine letzte Stunde ausmalt, wollte man ihn mit solcher Seichtheit identifizieren. Ist er nicht ganz einfach „cool“, also von einer Art existentiellen Mutes bestimmt? Das fremde Wort paßt in den Jargon. „Cool“ nimmt er die letzten Dinge an, wenn sie denn schon nicht zu kaufen sind, „cool“ siezt er den sensenbewaffneten Gast, und „cool“ quittiert er die letzte Mahnung mit einem strammen „Geht in Ordnung!“. Ein Held unserer Zeit, der die Worthülsen des modernen Geschwätzigkeitsidioms zum Mittel macht, Transzendenz zu bewältigen und der Angst vor den letzten Schritten Herr zu werden, wenn die Uhr abgelaufen ist.
Für mich allerdings bleibt am stärksten im Ohr die Gewalt des letzten, unausgesprochenen Wortes. Sie erinnert mich an Heines Lazarus-Verse, an jene Bitte des Leidenden um Antwort von allerhöchster Instanz auf die „verdammten Fragen“ nach Sinn und Gerechtigkeit dieser Welt.

Also fragen wir beständig,
Bis man uns mit einer Handvoll
Erde endlich stopft die Mäuler –
Aber ist das eine Antwort?

Statt einer Antwort zerbricht bei Heine am Ende der Reim. Ähnliches, glaube ich, ereignet sich hier: Es geht aus diesem Gedicht jene Stille hervor, gegen die sich nicht anreden und die sich nicht aussprechen läßt, es sei denn durch das Ach als Ausdruck letzter Hilflosigkeit vor etwas übermächtigem. Die Stille ist das letzte Ding, auf das alles hinausläuft – eine wahrhaft metaphysische Dimension dieses kleinen Monologs. Heine hätte ihn sicherlich gern gelesen.

Gerhard Schulzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1998

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