– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Reisezehrung“ aus Sarah Kirsch: Landwege. –
SARAH KIRSCH
Reisezehrung
Ich mußte eine Menge Zaubersprüche lernen
Mit großer Kühnheit im preußischen Wald
Pentagramme kritzeln das kleine Land
Bei Nacht und Nebel verlassen die Könige auch
Und wieder frei sein.
Die grauen Feldjäger die fleißigen Flurhüter
Hatten das Nachsehn. So halten sie mir
Heute und morgen den Schlagbaum geschlossen.
Ich gedenke nicht am Heimweh zu sterben.
Unauslöschlich hab ich die Bilder im Kopf
Die hellen die dunklen. Ich kann in Palermo sitzen
Und doch durch Mecklenburgs Felder gehn
Auf gelben Stoppeln schwenkt mir der Bauer den Hut.
Die Schwalben stürzen und steigen vorm Fenster
Vertraute Schatten, sie finden mich
Wo ich auch bin und ohne Verzweiflung.
Gedanken über die Dauer des Exils? Inzwischen sind es andere Zeiten als die des Emigranten Brecht, da man öfter die Länder als die Schuhe wechselte und an der Grenze auf den Tag der Rückkehr wartete. Jetzt sind mitten durch das Land und die eine Stadt Mauern gezogen, deren Existenz nicht vom Stehen oder Fallen eines einzelnen Regimes abhängt. Ein Schauplatz für das Machtspiel der Weltgeschichte ist aus dem Lande geworden, so daß mit den alten Kategorien von Heimat und Fremde, Exil und Heimkehr wenig anzufangen ist.
Sarah Kirschs Verse bilden das letzte von acht Gedichten des kleinen Zyklus „Reisezehrung“ aus dem Jahre 1982. Jemand fährt über die Transitstraße nach oder von Berlin von West nach West, wie es in der kuriosen politischen Geographie unserer Tage heißen muß, aber es ist eine Fahrt durch märkische Landschaft, in der man einstmals zu Hause war. Literaturlandschaft ist es mit dem Landsitz des Herrn Ribbeck zu Ribbeck von Fontanes Gnaden oder dem Wiepersdorf der Bettine. Märchenlandschaft auch, denn „wir sollen den Weg nicht verlassen, keine Blumen abpflücken, den müden Wanderer im Wagen nicht aufnehmen, sonst schnappt uns der Wolf“. So steht es im ersten der acht Gedichte. Nur wird der Jäger nicht kommen als Befreier, um dem Wolf den Bauch aufzuschneiden: die grauen Feldjäger sind fleißige Flurhüter im preußischen Walde.
Da ist also ein Mensch – eine Frau, ein Mann, Sarah Kirsch, irgendwer – davongegangen aus diesem Land bei Nacht und Nebel, um frei zu sein, unter anderem von der Not, Zaubersprüche zu lernen und zu schreiben, geheime Zeichen, um Wahres zu sagen. Zaubersprüche hieß ein Gedichtband Sarah Kirschs von 1973, als sie noch im kleinen Lande lebte. Daß ihre Verse auch später Zaubersprüche geblieben sind, Verse, die verzaubern durch die Kraft ihrer Bilder und entzaubern durch die Klarheit ihrer Gedanken, ist eine andere Sache. Der Weg hinaus jedenfalls ist ein Weg ohne Rückkehr geworden. Aber keine Rührseligkeit kommt auf über Heimat und Heimweh. Rom sei nicht mehr in Rom, sondern nur dort, wo er selbst sich befinde, sagt der Feldherr Sertorius in einer Tragödie von Corneille. Es ist eine Erfahrung, die ihm in diesem Jahrhundert Tausende bestätigen werden wie denn auch dieses Gedicht.
In der äußersten Kondensation von zwei Zeilen hat sich das Ich in ein starkes Bild der Erinnerung hineingemalt, sich in Beziehung setzend zu dieser fernen, verlorenen Wirklichkeit durch den Gruß des Bauern und durch die Schwalben, die Zeit und Raum durchbrechen, wie das Fenster zwei Sphären verbindet. Ein faksimiliertes Manuskriptblatt Sarah Kirschs verrät etwas von dem Mutationsprozeß zwischen diesem Ich und den Schwalben auf dem Wege zu den vertrauten Schatten: „antreffen, erfahren, finden, stoßen auf, entdecken, begegnen, ausfindig machen, ermitteln, auffinden, nicht entgehen“ sind da notiert vor der endgültigen Fassung. So mühelos und selbstverständlich erscheint sie, als hätte sie nie anders lauten können, geht es doch darum, die Vögel zu nehmen als Bürgen für die Unverlierbarkeit des Erinnerten, ohne sie erstarren zu lassen im Gleichnis.
„Vertraute Schatten“ einer vergangenen Welt, denn es gehört ebenfalls zu den Kuriositäten unserer Zeit, daß sich bei ihren politischen Konstellationen der Raum in die Zeit verwandelt, daß geographische Gegenwart zugleich persönliche Vergangenheit zu sein hat. „Vertraute Schatten“: das Gedicht bewahrt das Vergangene, es artikuliert Erinnerung, macht sie mitteilbar und damit teilbar.
Aber freilich ist alle Entfernung ein Schritt in der Zeit. Es ist freies Selbstbewußtsein in diesem Gedicht statt der Klage. „Zwischen Weimar und Palermo hab ich manche Veränderung gehabt“, schreibt Goethe in seiner Italienischen Reise. Auch wir sind andere geworden und sitzen in unserem Palermo ohne Verzweiflung, Schmerz und Ungeduld.
Gerhard Schulz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986
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