– Zu Peter Huchels Gedicht „Wintersee“ aus dem Band Peter Huchel: Gesammelte Werke Band 1 – Die Gedichte. –
PETER HUCHEL
Wintersee
Ihr Fische, wo seid ihr
mit schimmernden Flossen?
Wer hat den Nebel,
das Eis beschossen?
Ein Regen aus Pfeilen,
ins Eis gesplittert,
so steht das Schilf
und klirrt und zittert.
Das Werk dieses Lyrikers besteht – bislang – aus etwa einhundertunddreißig Gedichten. Einige von ihnen werden so unvergessen bleiben wie einige Gedichte aus dem gleichfalls schmalen Werk des Conrad Ferdinand Meyer oder wie einige des Andreas Gryphius.
Zu den großen Gedichten Huchels gehören das frühe (Straßburg/Paris 1927) „Lenz“ („ist wie für die Nacht gezeugt“), das Büchners Novelle zum Kristall verdichtet, „Verona“ (Schlußzeilen: „Und in der Mitte der Dinge / Die Trauer“), „Soldatenfriedhof“, ein Zeugnis des Zweiten Weltkrieges, fast ohne Vergleich in der deutschen Lyrik.
Doch es soll hier keine Liste, noch gar eine Rangordnung aufgestellt, noch eine allgemeine Würdigung von Huchels Lyrik vorgetragen werden. Sondern: ein Leser möchte anderen Lesern seine Eindrücke mitteilen, und zwar von einem Gedicht. Generelle Urteile sind allemal preiswert oder langweilig. Auf das einzelne Gedicht muß man sich einlassen. „Wintersee“ ist in den dreißiger Jahren entstanden. Es gehört zu den knappsten, zugleich mächtigsten Wortgebilden dieses Autors. Es ist charakteristisch für Huchels Ausdruckstechnik.
Acht Zeilen von durchschnittlich nur vier Worten, je vier Zeilen zu einer Strophe gegliedert. In jeder Strophe nur ein Reim: Zeile 2 auf Zeile 4. Die Zeilenschlüsse 1 und 3 grüßen sich nicht. (Der frühe Huchel hatte durchgereimt, der späte reimt fast nicht mehr: „Wintersee“ markiert eine mittlere, für den Autor vielleicht entscheidende Position. Nicht nur in dieser Hinsicht.) Die Zeilenenden, ob gereimt oder nicht, sind „weiblich“ (Betonung auf vorletzter Silbe), nachhallend, verklingend, angezupft – mit einer Ausnahme: die vorletzte Zeile klingt „männlich“ aus, endbetont, besser: engbetont; sie ist die Engführung dieser Fuge, nur vier Silben kurz – „so steht das Schilf“ –, während alle übrigen Zeilen fünf oder sechs Silben lang sind. Die vier Silben wirken sämtlich betont, fast unterschiedslos, während die sieben anderen Zeilen jeweils nur zwei Hebungen haben, nur zweimal mit Betonung auftrumpfen.
Der „männliche“ Schluß dieser „nichtreimenden“, vorletzten Zeile, Akzent auf dem letzten Vokal, wird in seiner Entschiedenheit freilich relativiert durch den Ausklang, die Aufeinanderfolge gleich zweier sehr weicher Konsonanten (l/f). Ließe sich die sehr metaphernreiche Lyrik Huchels – da die Metapher der Verkleidung, der Travestie verwandt erscheint –, zumindest versuchsweise, mit einem metaphorischen Vergleich kennzeichnen: daß eine scharfe Charakterisierung von Weiblich und Männlich in ihr, dauernd intendiert wie bei Kleist, beharrlich mißlingt?
„Wintersee“ ist kein episches, sondern weit eher ein dramatisches Gedicht. Der laute Anruf des Beginns
Ihr Fische, wo seid ihr
leitet keine Handlung ein, sondern eröffnet eine Szene. Ihr Ort ist mit der Überschrift bezeichnet: Wintersee. Das Wort ist selber fast schon ein Akt, denn die bei den Elemente, aus denen es zusammengesetzt ist, verbinden sich ganz und gar nicht ohne Widerstand. See bedeutet ein offenes Gewässer. Es gibt oberirdische Wasserreservoire auch auf den ständig vereisten Winterseiten, den Polkappen unseres Planeten. Aber das sind keineswegs Seen. Ebensowenig sind es die meisten stehenden Wasser in den heißeren Weltgegenden: salzige „Meere“, unterirdische Reservoire, Riesenpfützen zur Regenzeit, die rasch wieder versickern. Der Wintersee liegt par définition in der gemäßigten Zone: ein normalerweise offenes, nichtfließendes Gewässer, das in der kalten Jahreszeit (nicht immer) zufriert: ein Ort heftiger Veränderungen.
Huchels Wintersee ist ein zugefrorenes Paradies, im Sommer besucht und bewohnt von Knaben, Nixen und dem froschköpfigen Nick, ein Wunschfabelwesen, „tierhaft wilde“ Verkörperung erwachsener Männlichkeit, wie sie in dem frühen Poem „Der Knabenteich“ erscheint, dessen spätere Variation der „Wintersee“ ist.
„Ihr Fische, wo seid ihr“, ihr Gespielen meiner Jugend, meiner Natürlichkeit, meiner Übereinstimmung mit dem Kosmos, ihr „mit den schimmernden Flossen“? Die schimmernden Flossen: weichste, „lyrischste“, leiseste Stelle des Gedichts, auch im Rhythmus, die Zeile ist insgesamt fast ohne Betonungen zu lesen.
Aber dann, mit der dritten Zeile wird der plausibel-realistische Ausgangsort verlassen:
Wer hat den Nebel,
das Eis beschossen?
Das klingt zwar gleichfalls sehr poetisch, darf aber keinesfalls als bloßer Lyrismus hingenommen werden. Huchels Gedicht wäre anderenfalls als bloße Wortklingelei mißdeutet. Schon mit dem Klageruf „Wo seid ihr (…)“, Spielgefährten meiner Knabenzeit, war der Ausbruch eingeleitet und intendiert. Nach dem Bild von den verwunschen schimmernden Flossen, das einen Zustand rein apperzeptiver, unreflektiert-sinnlicher, naiv-kindlicher Wahrnehmung sprachlich fixiert, geht Huchel auf zunächst unverständliche Weise, sich gewaltsam losreißend, aus der Nahsicht einen Schritt zurück, in räumlich-sachliche Distanz: nicht mehr das blinkende Unterwasservolk, sondern die geographische Szene ihres Verschwindens wird nun beschworen. „Nebel“ (Zeile 3) und „Eis“ (Zeile 4) sind die beherrschenden Vokabeln des zweiten Teils der ersten Strophe. (Eis ist das einzige Hauptwort, das in dem ganze dreißig Worte enthaltenden Gedicht zweimal vorkommt.) Nebel und Eis gehören zur Umwelt des Wintersees, aber die Selbstverständlichkeit, der Friede des Bildes wird vom abschließenden Verb „beschossen“ zerstört, laut detonierend gesprengt.
Starke Verben, freilich oft als Partizipium entaktiviert, „entmännlicht“, gehören zur Charakteristik von Huchels Texten.
Beschossen wurden Nebel und Eis? Man liest die Wendung zweimal, ehe man sie glaubt. Genügen Nebel und Eis nicht, das Verschwinden der Fische zu erklären? Müssen Nebel und Eis, der schützende, das Leben in der Tiefe bewahrende Wintermantel des Sees, durchbohrt und verletzt werden, damit der Schrecken ganz bis unten dringt, in das Versteck der schönen Mitgeschöpfe, die nur durch das Schimmern ihrer Haut zu uns reden können? (Oder durch den Geschmack: wenn sie uns, wohlzubereitet, über die Zunge gehen.)
Wirkte das Exposé der ersten Strophe aufs äußerste zusammengedrängt, reduziert, Telegrammstil in extenso, so entfaltet sich die Ausführung in der zweiten Strophe, in Beantwortung des Schlußworts der ersten Strophe, explosiv, breit, ausladend:
Ein „Regen aus Pfeilen“ ist durch die Luft gekommen, ein Regen, der die Sonne verdunkelt – woher kennen wir dieses Bild? Es ist ein Zitat, Huchel weiß es so gut wie sein Leser: aus einer berühmten antiken Schilderung der Alexanderschlacht. Der Regen aus Pfeilen, der den Himmel am hellichten Tage schwarz färbt, tödliche Bedrohung, fast unabwendbare Waffe, als Kriegsbericht ein lähmender Schrecken für alle Schwachen. Wie die Nachricht vom Fall Konstantinopels, vom Untergang Lissabons.
Der Pfeilregen, gezielt auf den See und seine Bewohner, auf das Paradies der Knaben und Nicks, ist
ins Eis gesplittert.
Eine Zeile ohne jede rhythmische oder verbale Anstrengung – aber von was für einer Gewalt. Man sieht, man hört – im ideophonischen gesplittert – die Pfeile einschlagen.
Und nun kommt, streng parallel zum Bau der ersten Strophe, zwischen der zweiten und der dritten Zeile, zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Strophe, die abrupte Wendung des Bildes, die Distanzierung, die Umkehrung der Optik:
so steht das Schilf
Die kürzeste und stärkste Zeile transportiert die Nachricht: das ganze Poem ist eine Vision, es ließe sich auch sagen: eine Verfremdung. Der Dichter sieht das Schilf auf seinem zugefrorenen See, es klirrt vor Frost, beinah metallen, wie Waffen (Doppelklang von Winter und Krieg, von feindseliger Natur und Menschenfeindschaft schon in dieser einen Vokabel), und es zittert – wie Pfeile, die eben ins Ziel eingeschlagen sind.
Die Vision ist heftig, so gewaltsam und kurz wie ein Blitz, der für den Bruchteil einer Sekunde eine ganze Landschaft aus der Nacht herausstanzt. Dem entspricht das Tempo, der Zeitrafferstil des Gedichts: alles geschieht rasend schnell, wie im Traum. Dennoch ist nichts verschwommen, vielmehr jedes Detail gestochen scharf. Der Zeitrafferstil erscheint im Rhythmus, dem regelmäßig-schnellen Pochen, kulminierend in der Atemlosigkeit der siebenten Zeile; er erscheint im Vokabular, so glatt und „reibungslos“ wie Kieselsteine: von dreißig Wörtern sind einundzwanzig einsilbig, nur sechs zweisilbig, ganze drei (die nachhallendsten: „schimmernden“, „beschossen“, „gesplittert“) dreisilbig.
Mit einfachsten Mitteln, ohne den mindesten Umweg, dennoch ohne den Verlust irgendeiner Nuance, ist es Peter Huchel gelungen, seine Vision in Sprache umzugießen. Zur Beschreibung dessen, was er getan hat, fällt mir wieder Kleist ein, ein Satz aus dessen „Brief eines Dichters an einen anderen“:
Wenn ich beim Dichten in meinen Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen und mit Händen, ohne weitere Zutat, in den Deinigen legen könnte; so wäre, die Wahrheit zu gestehen, die ganze innere Forderung meiner Seele erfüllt.
Kleist selber ist die Erfüllung der „inneren Forderung seiner Seele“ in seiner (zu Recht vergessenen) Lyrik niemals, aber vollendet in seiner Prosa gelungen; Huchel ist sie „nur“ in der Lyrik gelungen: in einigen, in den unvergeßbaren seiner Gedichte.
Huchel stammt wie Kleist aus der östlichen Mark Brandenburg, und es ist nicht nur die geographische Nähe der Herkunft, die beide Dichter in vielem verbindet. Es ist die noch immer in vieler Hinsicht, nur dem Grade nach unterschiedlich, von Binnenkolonialismus bestimmte politische „Landschaft“, in der ein Dichter schon dann ein Rebell ist, wenn er, durch Herrschaft über die Sprache, von seiner Umwelt zu ertrotzen versucht, daß sie die „innere Forderung seiner Seele“, seine Individualität erkennt und respektiert.
So scheint es mir unerlaubt, Huchels Dichtung, in der immer Landschaft vorkommt, speziell diesen „Wintersee“, dessen Vokabeln alle – mit Ausnahme zweier, die zur Kriegssphäre gehören – Termini der Natur sind, als „Naturlyrik“ zu bezeichnen. Es ist nicht einmal ein unpolitisches Gedicht.
Unbeantwortet bleibt, wenn wir uns die Vision vom Wintersee nochmals vors Auge rufen, die laut ausgesprochene Frage: wer schießt die Kriegspfeile, wer zerstört das Paradies? Nur die feindliche Natur, ein nicht mehr durchaus als „harmonisch“ erlebter Kosmos? Übrigens wäre schon diese Absage an den pubertären Romantikertraum von „heiler“ Welt und „heiliger Natur“ für einen deutschen Dichter ein politischer Fortschritt. Aber wozu dann Waffen und Beschuß in dem Gedicht? Bedroht auch die Gesellschaft das Paradies? Daß Huchel die Frage nicht ausdrücklich beantwortet, heißt nicht, daß er sie offen läßt. Er antwortet indirekt, aber klar, so klar wie damals nur möglich – der „Wintersee“ liegt zeitlich im Dritten Reich –: auch die Gesellschaft, diese jetzige, d.h. die damalige Gesellschaft, zerstört, vereist, vergiftet mein Kindheitsparadies.
Waren nicht die ersten Pfeile, die sich der märkische Knabe zum Kriegsspiel schnitzte, aus Schilf? Ist es nicht sein eigenes Kriegsspielgerät, das da, in den Ernst gewendet, auf ihn, auf seine Welt zurückfällt? Wird nicht gerade eben, während Huchel den „Wintersee“ schreibt, die Romantik seiner Knabenteich-Welt offiziell umfunktioniert in militante Aggressivität? Hält das Gedicht nicht diesen geschichtlichen Moment aufs genaueste fest? Widerspricht hier nicht der Autor selber dem Satz eines seiner späten, großen Gedichte: „Ich will nicht Zeuge sein?“ Schließlich müssen wir, um das Gedicht zu verstehen, prüfen, was Schilf hier bedeutet. Kaum ein anderes Bild erscheint so kontinuierlich in Huchels Œuvre, von den frühen bis zu den späten Gedichten, und nicht zufällig in den besonders starken wie „Mittag“ und „Winterpsalm“. Pascal scheint nicht weit entfernt, der le roseau als Bild für die eigene Existenz, als Metapher für den Menschen verwendet: „Ein Schilfrohr, das denkt.“ Das Rohr ist eingepflanzt, allem Unwetter ausgesetzt, man kann es ausreißen, aber kaum brechen, es reagiert sensibel, nachgiebig und standhaft zugleich:
So steht das Schilf
und klirrt und zittert.
Gert Kalow, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.8.1968
Schreibe einen Kommentar