Gert Ueding: Zu Rolf Haufs Gedicht „Baum und Himmel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Haufs Gedicht „Baum und Himmel“ aus Rolf Haufs: Größer werdende Entfernung. –

 

 

 

 

ROLF HAUFS

Baum und Himmel

Das Glück stellt sich wohl selten ein
Was man so sieht das reicht so hin
Um nicht verrückt zu werden
Man müßte Baum und Himmel sein

Ich weiß das eine schließt das andre aus
Was Himmel ist wird niemals grün
Und wem genügt das auch
Man möchte endlich aus dem Elend raus

Vielleicht hat man zuviel versprochen
Wer prüft das heute wohl schon nach
Wir fingen an und dachten nichts dabei
Wir hatten ziemlich harte Knochen

Allmählich ging das Glück kaputt
Und mancher ist gleich mitgegangen
Wir andern folgen wohl bald nach
Nicht Baum nicht Himmel nur noch Schutt

 

Im Wirklichen das Mögliche

Mit einer gewissen Genugtuung sagt man, es sei schon dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das Sprichwort richtet sich gegen Selbstüberhebung und Anmaßung, doch der vermeintliche Realismus, der daraus spricht, besteht aus Spießerressentiment, aus der Prätention der Niedrigkeit, die alles zu sich in den Staub ziehen möchte, und aus dem Neid gegen das Leben, wie es sein könnte.
Die Tragik in dieser Alltagserfahrung, vom Sprichwort fatalistisch zugedeckt, macht Rolf Haufs zum eigentlichen Thema seines Gedichts. Die Wünsche schießen weit über die graue Wirklichkeit und deren kleines Glück hinaus, der Traum vom besseren Leben, von Erfüllung und Freude, wird mit jugendlichem Überschwang zum Lebensziel. Doch dann melden sich die unmittelbaren Bedürfnisse, man möchte aus dem Elend raus, fängt tatkräftig an, ohne viel zu überlegen, und dabei kommt nun das Gegenteil des gewünschten Zustandes heraus, das Glück wird immer weniger, die Arbeit frißt die Menschen auf. Zurück bleibt ein ausgebrannter Fall und die Einsicht, daß Baum und Himmel ewig getrennt bleiben, niemals identisch werden.
Das Gedicht bringt eine ganz offenkundige Erfahrung zum Ausdruck, doch auf durchaus vertrackte Weise. Es beginnt mit einer beiläufig-üblichen Alltagsrede („Das Glück stellt sich wohl selten ein…“), die sich resignativ ausbreitet, doch dann jäh unterbrochen wird durch ein verwegenes Wunschbild:

Man müßte Baum und Himmel sein.

Aus dieser Wechselrede von Gleichnis und Alltagserfahrung besteht nun das Gedicht, und sie kehrt auf verschiedenen Ebenen wieder, in der Wendung vom Allgemeinen zum Besonderen, vom unspezifischen Man zum konkreten Ich oder Wir, in der Antithese von Glück und Elend. Der Schlußvers bringt die Gegensätze zusammen, treibt sie im Mißton auf die Spitze.
Das kleine Gedicht faßt eine verzweiflungsvolle Erfahrung, die Erinnerung daran und den schmerzhaften Prozeß der Selbsterkenntnis in eins. Das Erleben des alltäglichen Elends provoziert den inbrünstigen Wunsch nach Veränderung und lenkt den Blick auf die eigene Vergangenheit, das einmal gewesene Glück und wie es verschwand. Die Erinnerung führt auf gefährliche Pfade; noch gelingt es zunächst, alles Angsterregende zu bagatellisieren („Vielleicht hat man…“), doch dann wird die Einsicht unausweichlich, Schuld und Schuldige werden namhaft gemacht: Gedankenlosigkeit, Härte, Gleichgültigkeit haben das Glück zerstört und dem alltäglichen Elend Raum geschaffen.
Rolf Haufs hat ein detektorisches Gedicht geschrieben, und siehe: Nicht die Seltenheit des Glücks an sich, nicht die existentielle, unaufhebbare Trennung der Sphären, auch nicht die prinzipielle Fatalität des menschlichen Lebens, sondern die Individuen, die Klagenden und die Beklagten, sind verantwortlich für ihre Glücklosigkeit. Alles andere sind bequeme Ausreden, die keiner Prüfung standhalten.
Entgegen dem ersten Eindruck bleibt das Gedicht nicht bei dieser heute immer noch anstößigen Erkenntnis stehen. Es benennt nicht nur eine allgemeine Erfahrung und geht ihr bis ans bittere Ende nach, sondern bringt sie in Bild und Gleichnis – aber nicht bloß, wie alle Poesie es ganz natürlich tut, sondern als Aufgabe des Lebens selber. Denn eben im bildlosen Alltag „ging das Glück kaputt“. Die Bäume müssen in den Himmel wachsen, und wenn es uns nicht mehr gelingt, unser Alltagsleben im bedeutsamen Bilde zu sehen, im Gewöhnlichen das andere, im Wirklichen das Mögliche zu erblicken, und wir den „Zauberstab der Analogie“ (Novalis) verloren haben, der das Getrennte vereinigt, dann werden wir glücklos sein und öde unser Leben:

Nicht Baum nicht Himmel nur noch Schutt.

Gert Uedingaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

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