Gertrud Fussenegger: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Utopia“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Utopia“ aus Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Utopia

Der Tag steigt auf mit großer Kraft
schlägt durch die Wolken seine Klauen.
Der Milchmann trommelt auf seinen Kannen
Sonaten: himmelan steigen die Bräutigame
auf Rolltreppen: wild mit großer Kraft
werden schwarze und weiße Hüte geschwenkt.
Die Bienen streiken. Durch die Wolken
radschlagen die Prokuristen,
aus den Dachluken zwitschern Päpste.
Ergriffenheit herrscht und Spott
und Jubel. Segelschiffe
werden aus Bilanzen gefaltet.
Der Kanzler schussert mit einem Strolch
um den Geheimfonds. Die Liebe
wird polizeilich gestattet,
ausgerufen wird eine Amnestie
für die Sager der Wahrheit.
Die Bäcker schenken Semmeln
den Musikanten. Die Schmiede
beschlagen mit Eisernen Kreuzen
die Esel. Wie eine Meuterei
bricht das Glück, wie ein Löwe aus.
Die Wucherer, mit Apfelblüten
und mit Radieschen beworfen,
versteinern. Zu Kies geschlagen
zieren sie Wasserspiele und Gärten.
Überall steigen Ballone auf,
die Lustflotte steht unter Dampf:
Steigt ein, ihr Milchmänner,
Bräutigame und Strolche!
Macht los! mit großer Kraft
steigt auf
aaaaader Tag.

 

Träumerei zwischen Himmel und Erde

Enzensbergers Gedicht setzt im Choralton ein, als gelte es, ein österliches Halleluja anzustimmen. Auch die zweite Zeile bewegt sich noch in himmlischen Räumen: wenn Klauen zwischen Wolken erscheinen, so sind es vermutlich Löwenklauen, und Löwen signalisieren zumeist Feierliches. Erst in der dritten Zeile seilt sich der Text in vertrautere, in irdische Bereiche ab: zum Milchmann, dem braven, der uns allmorgendlich die weiße Labung bringt. Heute freilich scheppert er nicht wie sonst mit seinen Kannen, er trommelt Sonaten auf ihnen. Und gleich geht’s wieder himmelan, auf Rolltreppen sind Bräutigame unterwegs, mühelos; Hüte werden geschwenkt, sogar wild geschwenkt in überschäumender und offenbar einhelliger Freude. Das wird ein toller Tag. Wird eine Hochzeit gefeiert? Spätestens die siebente Zeile läßt die politische Katze aus dem Sack. Die Bienen streiken: sogar die dümmsten Leistungsfanatiker haben begriffen, was die Stunde schlägt: Utopia, das Paradies.
Und gleich steht alles kopf. Die Päpste, die oft archaisch drohenden, sind in tschilpende Spatzen verwandelt. Hochwichtige Papiere, Bilanzen, werden zu Spielzeug, der Kanzler zu einem Gassenjungen, der mit Strolchen
schussert. Das System pervertiert zu seiner eigenen Negation. Fast versteht es sich von selbst, daß die Bäcker ihre Semmeln verschenken – und daß die Eisernen Kreuze unter die Hufe der Esel genagelt werden. Allenthalben herrscht Jubel, Trubel, Heiterkeit. Doch nun heißt es weiter: Wie eine Meuterei / bricht das Glück… aus. Ein starkes Bild. Ein nahezu ungeheuerlicher Vergleich. Unsere Vorstellungen von Meuterei sind bis jetzt andere gewesen. Unter Meuterei stellen wir uns Wutausbrüche, Morde, ja Blutbäder vor, Blutbäder auf beiden Seiten, zuerst unter den gestürzten Herren, dann unter den revoltierenden Knechten. Und nun soll Glück dieses Gesicht haben?!
Was schwebte dabei dem Autor vor? Dachte er bei dieser Wendung an den Panzerkreuzer Potemkin oder an die Meutereien der Matrosen 1917 vor Sankt Petersburg, 1918 vor Kiel? Wollte er andeuten, daß mit diesen Ereignissen das große Glück angebrochen sei? Nein, ganz so genau will er die Parallele nicht gezogen haben, denn noch in derselben Zeile reißt er das Steuer wieder herum, zum Löwen, das heißt in den symbolischen Raum. Der Löwe ist, wie bekannt, das Sinnbild der Kraft, der (etablierten) Macht, auch der Gerechtigkeit.
Und weil auch der Gerechtigkeit, schreitet der Text folgerichtig sofort weiter zu einer, wenn auch milden Justifizierung. Die Wucherer, die abscheulichen, müssen daran glauben, sie erstarren – wie einst Lots Weib zu einer Salzsäule – zu Brunnenfiguren aus Kieselstein. Nun neigt sich die Vision ihrem Ende zu. Schnell wird noch ein Volksfest in Gang gesetzt mit Luftballons und Vergnügungsschiffen. Die drohende Banalität wird in der letzten Zeile noch einmal abgewehrt; wieder klingt Choralton auf, aber in anderer Wortfolge, zögerlicher, gleichsam gebrochen. Der versprochene glückliche
Tag scheint früh ermattet zu Boden zu sinken.
Das Gedicht erschien zuerst in Enzensbergers berühmt gewordenem Gedichtband v
erteidigung der wölfe 1957; damals ein Fanal. Inzwischen ein Stück Geschichte.

Gertrud Fusseneggeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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