– Zu Hilde Domins Gedicht „Linke Kopfhälfte“ aus Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. –
HILDE DOMIN
Linke Kopfhälfte
In dieser kleinen Halbkugel
auf der mein Haar grau wird
wohnen die Wörter
dies Wörternest
Meine Hand
nimmt das Nest in die Hand
Die rechte sagt man
ist leer von Worten
Auslauf für das unbenutzte
Vokabular
der Erinnerung
Von Hilde Domins gesammelten Gedichten ist mir der Text „Linke Kopfhälfte“ besonders lieb geworden, er ist mir, wie man so sagt, besonders unter die Haut gegangen. Warum wohl? Das Gedicht ist – neben so vielen anderen glänzenderen, einladenderen – eher unscheinbar, leise, skeptisch: und sehr persönlich. Vielleicht ist es jüngeren Menschen fremd; älteren und alten dürfte es wohl einleuchten.
Das Gedicht geht von einer einfachen körperlichen Erfahrung aus: Die Hand tastet über die „kleine Halbkugel“, auf der „das Haar grau wird“, und erfährt dabei den eigenen Kopf wie ein neues, noch nie erfahrenes Ding, als „Nest“. Und schon beginnt das Hirn sich selbst zu denken; man hat ihm gesagt: In der linken Hälfte „wohnen die Wörter“, während die rechte „leer von Worten“ sei. So denkt sich das Hirn als Zweigeteiltes: als sprachmächtig und sprachlos, redend und stumm, als dichtend und jeden Diktums bar. Das lyrische Ich erfährt das als Rätsel. Wie ist es möglich, daß ein Ort in ihm ist, der nichts von Sprache weiß, nichts von dem, worin es sich selbst begreift und immer begriffen hat?!
Da aber kommt ihm ein Bild zu Hilfe: das Bild des Nestes. Das ist etwas Dichtes, Warmes, Fruchtbares, die fast lebenslange Selbstinnewerdung in Sprache und Werk. Doch dieses Bild evoziert ein anderes: „Auslauf“. Was kann das heißen? Wer selbst einmal Geflügel gezogen hat, weiß, daß es Auslauf braucht. Wenn es vom Nest kommt, vom Gelege, braucht es einen Freiraum zum Ausschwärmen und Scharren, zum Picken und Flügelschlagen.
„Auslauf für das unbenutzte / Vokabular / der Erinnerung“ – So wird die rechte, die sprachlose Hälfte unseres Ich als Freiraum erkannt. Hier tummeln sich die Erinnerungen, die niemals Wort wurden; hier schwärmen sie aus, verlieren sich im Irgendwo, eine Masse gelebten Lebens, die sprachlos und ungestaltet bleibt.
Hilde Domin stellt in ihrem Gedicht die Frage nach der Gespaltenheit unserer Existenz, die Frage nach dem, dessen wir habhaft werden können, und nach dem, was sich von uns für immer „unbenutzt“ verliert. Daß sie dabei die Bilder von Nest und Auslauf ins Spiel bringt, verleiht dem Text poetische Prägung. Doch der Ausgangspunkt bleibt das menschlich ergreifende Bild der Alternden, die sich in nachtastender Selbstbegegnung in die Vorbedingungen der eigenen Existenz versenkt.
Gertrud Fussenegger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989
Schreibe einen Kommentar