– Zu Reiner Kunzes Gedicht „Literaturarchiv in M.“ aus Reiner Kunze: eines jeden einziges leben. –
REINER KUNZE
Literaturarchiv in M.
Unterkellert bis zum Styx
An die wand gelehnt
ein ruder: Charon
liest
Ob er, ehe er den toten übersetzt,
einsicht nähme in das manuskript…
Nicht noch die nicht gedruckten irrtümer, sagt er
Die lieder liest er
des Orpheus
Er trage sie bei sich seit damals
Wie die liebe, so das lied, sagt er. Das aber sei’s weshalb den Tod
keines mehr wendet
Eurydike würde nicht folgen, sagt er
Sagt’s
beim ruder an der wand
Und warum lese er des Orpheus lieder hier?
Ein ort der schatten sei’s
mit dem licht der oberwelt.
„Literaturarchiv in M.“ kann selbstverständlich nichts anderes heißen als Literaturarchiv in Marbach, Marbach am Neckar, eine eindeutige Adresse, und das Gedicht setzt auch gleich mit handfest topografischem Tatbestand ein: „Unterkellert…“ Richtig! Unterkellert ist das Archivgebäude, mehrere Stockwerke tief, so vermied man einen störenden Hochbau und konnte die Hanglage nutzen. So geht es abwärts von Magazin zu Magazin, alle vollgestopft mit archiviertem Material, Büchern, Briefen, Manuskripten, vielleicht auch Mikrofilmen: eine unabsehbare Masse literarischer Hervorbringungen, die alle irgendwann einmal von irgend jemandem durchleuchtet, bearbeitet und dem Schicksal des Vergessenwerdens entrissen werden sollen. Den Dichter, der in diese Unterwelt hinabsteigt, weht ein Schaudern an; er glaubt zu fühlen, daß diese Masse nicht mehr auflichtbar, dem Heute und Morgen nicht mehr aktualisierbar ist. Er fühlt sich selbst schon beinah als Toter, für ihn fließt hier der „Styx“.
Mit diesem Bild stößt der Text in einer jähen Wendung ins Mythische vor, und in diesem Bild ist auch schon fast das ganze Gedicht enthalten. Denn zum Fluß, der nach dem Glauben der Alten das Reich der Lebenden vom Hades schied, gehört Charon, der Fährmann, der die Abgeschiedenen überzusetzen und ihnen Lethe, den Trunk des Vergessens zu reichen hatte. Für gewöhnlich stellen wir uns Charon in Tätigkeit vor, seinen Nachen führend, sein Ruder schwingend. Hier aber ist Charon müßig. Er hat sein Ruder an die Wand gelehnt, steht dabei – und liest. Ein schönes Bild, in dem sich die Stille geistiger Versenkung darstellt. Was aber mag dieser Charon lesen?
Er liest immer dasselbe. „Die lieder liest er / des Orpheus“; das Manuskript, das ihm der tote Dichter schüchtern hinhält, weist er mürrisch zurück. In unlängst Geschriebenem vermutet er nichts als schwächliche Irrtümer. Charon verachtet die Gegenwart, ihre Weise zu lieben, ihre Weise zu singen. Hier ist Reiner Kunzes Gedicht eine (fast schon zu geläufig, wenn auch sublim formulierte) Klage über die fehlende Lebensmacht unserer Zeit.
Dann aber, in den letzten drei Zeilen, öffnet sich eine neue Dimension. Auf die Frage, warum Charon gerade hier des Orpheus Lieder lese, antwortet der Unterirdische mit unnachahmlicher Kürze und Tiefgründigkeit: „Ein ort der schatten“ ist’s „mit dem licht der oberwelt“. So kennzeichnet Kunze Ort und Art geistiger Begegnung, geistiger Arbeit, ja, von Dichtung überhaupt. Dichtung ist für Kunze der Bereich, der dem grellen Tagesschein entrückt ist und damit dessen Unruhe, dessen Betriebsamkeit, doch wohl auch dessen Vergänglichkeit.
Immerhin bedarf auch diese Zone des „lichts der oberwelt“. Hier ist das Ahnungsvermögen des Lesers aufgerufen; ihm bleibt es überlassen, sich diese „oberwelt“ zu deuten und damit zu entgrenzen, möglicherweise bis ins Numinose.
Gertrud Fussenegger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988
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