BARSOI
Dein war das Dunkel, die Höhle des Mutterleibes.
Dein war der Grund, Erde, die Tiere trägt.
Blind krochst du, suchend und saugend, unter den
aaaaaZitzen der Hündin umher
Und nährtest dich, wuchsest und wurdest sehend
Und spieltest zwischen Geschwistern…
Weiß du noch?
Nein, du weißt nichts mehr.
Kaum kennst du dies Fell, das dir wallt, weißflockig
aaaaaschäumende See um isabellfarbne Inseln.
Liebliche du, Anmutige, mit dem schmalen, gestreckten
aaaaaHaupt, den sanften, braunen, glänzenden Mandelaugen,
Du träumst
Nördliche blasse Birken im Moor, dem schwärzlich brandiges
aaaaaUngeheuer, der schaufelhörnige Elch, entloht;
Dein Blut
Hetzt noch den grauen Wolf durch Tannenfinsternis
aaaaarussischer Wälder,
Spürt noch weidende Renntierherden über Moos und Flechte
aaaaader Tundra,
Hört noch angstvolles Jammern, des Eishasen Klageschrei
Vor dem Jäger…
Tags
Ruhest du still auf der Decke und hebst mir dein Frauenantlitz
aaaaamit jener Milde der Hindin, des Einhorns entgegen,
Oder du läufst gesenkten Kopfes, schnupperst und scharrst
aaaaaan Komposthaufen, Büschen und Beeten, wie Hunde tun.
In Herbstnächten,
Da starke, kältere Sterne flimmern,
Hin und wieder vom Baume fallender Tropfen tönt,
Da gilbendes Gras Frische und Feuchte atmet,
Zieh ich den Mantel um meine Schultern, öffne die eiserne Tür
Des Gartens;
Du jagst in riesigen Sätzen.
Du fliegst, du stiebst
Schneesturmgleich über den Teppich welker, triefender Blätter;
Silbern wehende Flamme, lodert dein mähniger Schweif
aaaaadir nach.
Und ich gehe und rufe dich mit dumpferer Stimme, und du harrst, hoch
aaaaaund leicht, hauchfahl, ein Schemen an Wegeswende.
Du stehst und starrst. Was erblickst du?
Glosten am Faulbaum, in Geißblattsträuchern gelbe Augen
aaaaaauf, Katzenaugen, die du hassest?
Tritt ein Gespenst, die Flatterhände voll blutiger Gekröse,
aaaaadich an – und deine lange Nase wittert die Beute?
Bist du nur Wohnung fremder, unfaßlicher Seele, die
aaaaazuzeiten das Tierhaus läßt als wesenlose durchsichtige
aaaaaHülle?
Sie irrt
Über Rasen, zwischen den bronzenen Chrysanthemen, und
aaaaadu wartest auf Wiederkehr.
Naht sie?
Meine Finger berühren die Kühle und Glätte der
aaaaaEchsenstirn… ein Halsband klimpert.
Folgsam trabt neben mir die bleiche und stumme Gefährtin heim.
Der Welten-Zyklus entstand 1937. Wie ausnehmend wichtig er für Gertrud Kolmar war, bezeugen ihre wiederholten Bitten, die in den Briefen an ihre Schwester Hilde in der Schweiz gerichtet, daß diese die Manuskripte ja aufbewahre:
Es geht mir mit meinen kleinen Werken wie einer Mutter mit ihrem neugeborenen Kind; natürlich freut sie sich über die Begeisterung des Vaters, der Großeltern, die Glückwünsche der Verwandten, jedoch die Hauptsache bleibt, die größte Freude ist ihr, daß sie es zur Welt gebracht hat. (sämtliche Briefzitate gemäß: Gertrud Kolmar, Briefe an die Schwester Hilde, 1938–1943. Kösel-Verlag, München 1970).
„Das Typoskript der Welten liegt vor als Durchschlag des Originals; die Gedichte sind handschriftlich nummeriert.“ (Marbacher Magazin. Nr. 63, 1993, S. 182), gab Gertrud Kolmar das Titelblatt mit ihrem Namen Gertrud Chodziesner und der Zeitspanne 17.8–20.12.1937 an. Die Erstausgabe der Welten erfolgte 1947 im Suhrkamp Verlag. „Die leicht veränderte Anordnung dieser Gedichte von der Erstausgabe 1947 an und der Titel Zueignung anstelle von Kunst, stammen von Hermann Kasack“ (ebenda). Mich an die von Gertrud Kolmar auf diesem Titelblatt angegebene Reihenfolge haltend, begann ich die Gedichte zu übersetzen.
Im Sommer 1939 schreibt Gertrud Kolmar ihren Lebenslauf:
Ich, Gertrud Sara Chodziesner, bin am 10. Dezember 1894 zu Berlin als Tochter des Rechtsanwalts – späteren Justizrats – Ludwig Chodziesner geboren. Ich besuchte eine zehnklassige höhere Mädchenschule (Lyzeum) und kam nach Schulabgang i.J. 1911 auf die Land- u. Hauswirtschaftliche Frauenschule, Arvedshof bei Leipzig. Noch vor dem Weltkriege lernte ich Russisch (…) ich spreche und lese diese Sprache recht gut. Nach 1914 war ich zunächst im Öffentlichen Kindergarten tätig. Dann besuchte ich ein Sprachseminar u. bestand im Mai 16 die statl. Sprachlehrerinnenprüfung für Französisch, im Oktober 16 die gleiche Prüfung für Englisch. Vom Nov. 17 bis Nov. 18 war ich nach bestandenem Militärdolmetscherexamen als franz. u. engl. Postprüferin im Kriegsgefangenenlager Döberitz beschäftigt. Nach Kriegsende war ich als Sprachlehrerin u. Erzieherin in Privathäusern tätig, u.a. auch längere Zeit bei zwei taubstummen Kindern; auch gab ich Ausländern deutschen Unterricht.
Im Juni 1927 bestand ich eine Übersetzerprüfung des Deutschen Auswärtigen Amtes. Im Spätsommer 27 nahm ich an einem Ferienkurs für Ausländer der Universität Dijon teil, wo ich bei der Schlußprüfung das Unterrichtsdiplom der Universität erhielt, zugleich mit dem besten Zeugnis, das i.J. 1927 einem ausländischen Studenten gegeben worden war.
In den folgenden Jahren zwang mich eine schwere Krankheit meiner Mutter, mich ganz ihrer Pflege u. dem Haushalt zu widmen u. seit ihrem Tode (1930) führe ich meinem Vater die Wirtschaft.
Gertrud Käthe Chodziesner, die den Künstlernamen Gertrud Kolmar, vom deutschen Namen der Stadt Chodziez, aus der die Familie ihres Vaters stammte, angenommen hatte, wohnte zur Zeit als sie die Etappen ihres Lebens aufschrieb, bereits mit ihrem Vater und anderen Zwangsmietern, in der Speyererstraße 10, im zweiten Stock, unter Gestapoaufsicht, – dies in Verbindung mit der geplanten Konzentration jüdischer Familien in sog. Jüdischen Haus-Gettos (Verordnung vom 30.9.1939). Hatten die Dichterin und ihr Vater ihr Zuhause in Finkenkrug verlassen müssen; ihr „verlorenes Paradies“ (wie Gertrud Kolmar Finkenkrug später bezeichnen wird). Das Haus in Finkenkrug wurde am 23 November 1938 kraft der Verordnung des Wirtschaftsministeriums des Dritten Reiches über den Zwangsverkauf jüdischen Eigentumes verkauft. Den im Lebenslauf hinzugeschriebenen Vornamen Sara, mußte seit dem 1.1.1939 jede deutsche Jüdin pflichtgemäß einfügen. Seit der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938, dem Verbot aller jüdischen Organisationen und der Verhaftung ihrer Mitarbeiter, dem Verbot jeglicher jüdischer Publikationen, hat Gertrud Kolmar, wie alle Juden, kein Recht mehr auf einen Sportplatz, in eine Schwimmhalle, zum Strande, ins Kino, Theater, die Oper, zum Konzert, in den Wald oder Park zu gehen, darf auch nicht öffentlich auftreten. In Ihrem Lebenslauf schreibt Gertrud Kolmar dann weiterhin Sie beherrschte folgende Sprachen: Tschechisch, Spanisch, Flämisch, Hebräisch und als Beweis der Kenntnis der letztgenannten Sprache die Übersetzung eines Gedichtes von Chaim Nachmann Bialik ins Deutsche hinzu.
Erhalten geblieben sind nur einige wenige Spuren der Welten-Dichterin: Einige Lichtbilder aus der Kindheit – ist sie ein kleines Mädchen mit hochernstem, in Gedanken versunkenem Gesicht – eine Portraitfotografie von 1928, ein Foto mit ihrer Freundin Ella Geiss, eine Familienaufnahme, noch in Finkenkrug aus dem Jahre 1937, Eintragungen ins Tagebuch, eine Visitenkarte, das pädagogische Talent der Dichterin bezeugende Refferenzen aus Häusern, in denen sie mit Kindern arbeitete, wie auch zwei Gedichte aus ihren Mädchenjahren und ihre, zumeist erst nach ihrem Tode veröffentlichten Werke, u.a. Susanna (Erzählung), Eine jüdische Mutter (Roman), Gedicht-Zyklen „Mutter und Kind“, „Mann und Weib“, „Weibliches Bildnis“, „Tierträume“, „Kind“, „Napoleon und Marie“, „Robespierre“.
Es faszinierten sie die großen Menschen des Zeitalters – die Einsamen. Als kleines Mädchen umgibt sie sich in ihrem Zimmer mit Bildnissen Napoleons und widmet ihm später einen Gedichtzyklus. Sie bewundert und huldigt Robespierre und Tiberius, ihr Vater, Ludwig Chodziesner, dem sie sich – unverstanden von der Mutter – in ihrer Phantasie nähert, erwächst zu einer Heldengestalt.
Es blieben auch: Alte Stadtwappen, Das Wort der Stummen, und die Briefe der Dichterin an die um zehn Jahre jüngere Schwester Hilde Wenzel, der es mit ihrer Tochter Sabine im März 1938 in die Schweiz zu flüchten gelang. Den ersten dieser Briefe schreibt Gertrud Kolmar am 13.9.1938, den letzten am 21.2.1943. Die zwei Dramen, Nacht und Cécile Renault fanden bislang keinen Verleger. Nun, die Mainzener Akademie der Wissenschaften war nicht willens in ihrer Reihe Verschollene und Vergessene Gertrud Kolmars Werk vorzustellen, indem man äußerte, die Dichterin wäre „noch nie ein festumrissener Begriff“ gewesen. (Die Zeit, Nr. 20/1993)
Ihren Lebenslauf schrieb Gertrud Kolmar den Gedanken an eine Arbeit im Ausland hegend. Nebulöse (durch die herrschende Zensur bedingte) Anklänge dieser Pläne einer Ausreise ins Ausland finden wir in den Briefen an die Schwester; zu dieser Reise ist es jedoch nicht gekommen. Gertrud Kolmar beschloß bei ihrem pflegebedürftigen Vater zu verharren (der dann 1942 nach Theresienstadt deportiert worden ist) und – im Sommer 1941 zur Zwangsarbeit in Berliner Fabriken in Lichtenberg und Charlottenburg verpflichtet – bei ihrem Schicksal, ahnte, bangte sie: „Aber die Zukunft ist dunkel“ (aus den Briefen). „So will ich auch unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm, mag es schwarz und lastend wie eine Wolke sein“, schreibt Gertrud Kolmar an ihre Schwester.
Am 27. Februar 1943 in der Fabrik verhaftet, wird Gertrud Kolmar vermutlich am 2. März 1943 nach Auschwitz abtransportiert.
Ihr Todestag ist unbekannt.
Die Sprache der Welten ist ernst und erhaben. Sie erinnert zuweilen an die Bibelsprache; als hebe eine Hand eine Feder, die in ihrer Seele die Tinte bewahrt hat, und zeichnete nun bedächtig Buchtsaben für Buchstaben, voller Achtung für jeden.
Am Anfang war der Klang.
Die Stimme steigt als wie aus Tiefen hervor, aus der Unterwelt, dem Meer, und nimmt den Klang dieser Tiefen an: „Dein war das Dunkel“, „Mutter, die du mir warst“, „Nichts anderes war“, durchwandert der Klang mit dem stehengebliebenen Atem die dunklen Farben, breitet sich aus im Raum, zu Bildern erstarrend und im Ausatmen endend. Die Bilder sind durch Stille (Pause) getrennt, wird diese zuweilen abrupt von dem gleichen Tiefenton durchschnitten, der im Anfang hörbar gewesen. Hebt die Stimme späterhin erneut zu wandern an. Die Welten sind eine große Sinfonie, bestehen diese Poeme zumeist aus vier Teilen, in denen die Stille (die Pause) eine bedeutsame Rolle spielt. Gertrud Kolmar schätzt die Stille sehr, die eigene und die der anderen, wiederholt sie in den Briefen an Hilde oft, daß die Stille ihrem Herzen das Nächste sei. Das Ende jeder Sinfonie wird durch den Widerhall erschallender Stille akzentuiert, ist jede in der Tonart düsterer Romantik gehalten.
Wie der Klang aus der Tiefen erhebt sich eine Welt unfassbarer Natur – Die Mergui-Inseln. Ihre verborgene Kraft gebärt die Sehnsucht weiterer Welten.
Die Leere ist in Gertrud Kolmars Schöpfungswerk von höchster Bedeutsamkeit, ihre Welten atmen die Leere. Leere bedeutet hier Anfang und Ende, es beginnt die Welt in der Leere und endet in dieser.
Die für diese Welten so charakteristische Symbiose zweier Welten, der der Menschen und der der Natur, des Königreiches der Tiere und der Pflanzen, ist eine Flucht, die bis in die Kindheit gereicht, eine Folge der Isolation, der Vereinsamung, des Unverstandenseins. Das Identifikationsbedürfnis, ihr unentwegtes Suchen im Worte, wird zur Rettung des eigenen Ich. Gertrud Kolmar spricht sich einzig und allein für das Dichterische aus, wird die Dichtung ihr Schicksal. Ständig betont sie das Wort, das habe sie gefunden, tritt finden bei ihr nicht zufällig auf: das Wort ist als Fund betrachtet, als Ausgrabung. Suchen bedeutet zu den Spuren der Vergangenheit zurückzukehren, und zu dieser Vergangenheit schreibt sie an ihre Schwester:
ich habe nur das, wer ich bin (…), wo hineingewachsen ist das Vergangene in mein Wesen, daß ich es nicht ohne einer schweren Wunde entreißen kann.
Zu Dostojewskis Idioten schrieb Walter Benjamin, Gertrud Kolmars Cousin:
wenn die Natur und die Kindheit fehlen würden, könne man die Menschlichkeit durch eine katastrofale Selbstvernichtung erreichen (zitiere ich sinngemäß).
Daher so oft in ihrer, der Dichterin Welten, die Opferbereitschaft, erfolgt das Abspalten des Vergangenen durch das Töten. Und wieder ist eine Symbiose zweier Welten zu beobachten, zweier Personen, zweier Stimmen: dessen, was gestorben doch geistig – als Seele – als wesenlose Hülle (häufig bei Gertrud Kolmar wiederholte Begriffe) wiederkehrt und dessen, was als wirkliches Ich lebt; der Stimme, welche aus den jenseitigen Welten spricht und der realen Stimme. Die Vergangenheit tritt hier als Spur auf; die Dichtung Gertrud Kolmars ist Spurensuche. Doch diese Spur entspringt nicht nur ihrer Kindheit. Es ist die Suche nach den Spuren der Vorgeschichte und der Geschichte der Menschheit. Ein Streben zum Glück, das nur ein Wunsch, eine Sehnsucht des Menschen ist.
Schlangen, ein weiteres häufiges Motiv bei Gertrud Kolmar, werden zum Symbol der Geburt und des Lebens in der Kraftlosigkeit, dem Unvermögen an sich, des Seins in einer ewigen Sehnsucht; doch wonach? Ist der Tod die Ewigkeit?, bist du geboren, also schuldig?
Durch Kraft und Sinnlichkeit lähmt aus Gertrud Kolmars Werk auch die Vision des Kindes; nicht nur im Welten-Zyklus. Es ist ein autobiographisches Motiv. 21-jährig erlebte sie ihre erste Liebe zu einem deutschen Offizier. Von ihm verstoßen, von den Eltern gezwungen, treibt sie ab. Werden ihre Sehnsüchte, Wünsche, nicht erfüllt, kehrt der Gedanke an die Mutterschaft derart zudringend zurück, daß Gertrud Kolmar die dichterische Schöpfung mit der Geburt eines Kindes vergleicht. Im Brief an Hilde schreibt sie:
Wenn ich mit jemand zusammen eine Dichtung hervorbringen sollte, so wäre das etwa so, wie wenn zwei Frauen sich miteinander in die Geburt eines Kindes teilen wollten. Das geht einfach nicht. Jede dichterische Erschaffung ist für mich eine Geburt (die Wehen sind manchmal scheußlich!).
Und über die Gedichte, die sie in hebräischer Sprache zu schreiben beginnt:
da trage ich zur Zeit ein Elefantenkind (…) und ich hoffe es wird keine Fehlgeburt sein, trotz aller wahrscheinlichen Mängel…
Auch die Stadt ist ein Teil des Lebenslaufes der Dichterin, ist Geschichte, eine Lebensurkunde, ein Dokument der Zeit, in welcher es ihr zu leben kam. 1934 beginnt die Freundschaft Gertrud Kolmars, und ihre Korrespondenz, mit dem Dichter Karl Joseph Keller, währt diese bis 1939; fahren Gertrud und Joseph 1934 nach Hamburg, Lübeck und Travemünde. Die Erinnerungen aus Hamburg (1927 arbeitete Gertrud Kolmar hier als Erzieherin), erscheinen ebenfalls in den Briefen an die Schwester. Das Grauen der beschriebenen Stadt ist eine Voransage der Katastrofe, der Dunkelheit.
Aus der Dunkelheit wird das Leben geboren – die Frau und verschwindet wieder in der Dunkelheit. Gertrud Kolmar, eine der größten deutschen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, vom Schleier der Sehnsucht, der Vereinsamung verhüllt, stieg aus dem Dunkel, um erneut in die Dunkelheit einzugehen.
Ich bin ein Kontinent, der eines Tages stumm im Meere versinkt.
Iwona Mickiewicz, Vorwort, übersetzt von Britta Wuttke
– Der folgende Text über Gertrud Kolmar ist seiner Form nach weder ein Aufsatz noch ein Essay, sondern eine Rede, gehalten zur Eröffnung der Gertrud-Kolmar-Ausstellung im Literaturhaus Berlin am 13. Juni 1993. Der Verfasser, der an dieser Stelle auch „ich“ sagen könnte, dies aber hier im Vorspruch vermeidet, ist kein Kolmar-Spezialist. Er hat Texte und Zeugnisse gelesen und versucht, von außen, sechs Thesen zur mangelnden Rezeption der Dichtung von Gertrud Kolmar anzumahnen. Seine Argumentation ist literarhistorisch und politisch, kaum psychologisch. Sie entspricht nicht in allen Punkten der verbreiteten Meinung der Kolmar-Forschung, ist aber ein Plädoyer für eine Dichterin, die zu erkennen uns aufgegeben ist, in Berlin ganz besonders. –
„Auslandsumzüge, Gepäck – Herbert Israel Liebenthal, Spedition, Berlin SW 68“,
„Shanghai – Gepäcktransporte per Bahn und Schiff durch Silberstein & Co. – Berlin SO 36“ –
Anzeigen wie diese erscheinen im Frühjahr 1940 im Jüdischen Nachrichtenblatt. Gertrud Kolmar wird sie gesehen haben, aber sie blieb, denn sie „will und kann Vati bei seinem Alter und in seiner Lage jetzt nicht allein lassen. Nicht wahr, Du verstehst das und bist mir nicht böse?“ So schrieb sie im November 1938, damals noch aus der Finkenkruger Idylle, an ihre Schwester Hilde. Sie blieb auch nach der Zwangsumsiedlung vom 21. Januar 1939 ins sogenannte Judenhaus in der Speyerer Straße 10. Gertrud Kolmars Arbeit an der Erzählung „Susanna“ wird zur „nächtlichen Ausschweifung“. Sie schläft bis 1 oder 2 Uhr morgens, dann schreibt sie bis 5. Sie ist erschöpft durch die Ruhelosigkeit in der überbelegten Wohnung und von den langen Fußmärschen. Nur wenn der Weg zur Zwangsarbeit mehr als sieben Kilometer weit ist, dürfen Juden ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen. Gertrud Kolmar spricht das nicht aus; sie klagt nicht. Sicherlich weiß sie, die im ersten Weltkrieg als gelernte Dolmetscherin für Russisch, Französisch und Englisch die Post von Gefangenen zensierte, daß ihre Briefe geöffnet werden. So täuscht sie mit familiär codierten Sätzen die Zensur und schont zugleich ihre Schwester in der Schweiz. Ihr berichtet sie stolz, daß sie in der Fabrik wie die Männer arbeiten kann. Nur das Geschwätz der „psychopathischen“ Kolleginnen stört sie. Auch in der Fabrik ist sie Dichterin, „die bedeutendste jüdische Lyrikerin seit der Lasker-Schüler“. Noch 1938 hatte sie solches Lob beiseite geschoben; jetzt legitimiert sie mit dem Dichten den Hoch-Mut des Opfers.
„Wenn ich ein Mann wäre, hätte ich vielleicht Irrenarzt werden mögen.“ Ihre Helden heißen Napoleon und Robespierre. Das Leitbild des Vaters verblaßt. Sie konstatiert, daß sich seine Adern verengen, während seine Neigung zu jüdischen Erinnerungen wächst. Gertrud Kolmar nennt das Klatsch und Tratsch und lernt selbst Hebräisch.
Aber war sie bei aller Identifikation mit dem Männlichen nicht immer schon Opfer gewesen? Ihre Sozialisation als Frau war ihr – jedenfalls im Sinne ihrer Gesellschaftsordnung – gründlich mißlungen. Die Mutter hatte schon früh Gertruds Mangel an Charme und ihre Abneigung gegenüber hübscher, modischer Kleidung beklagt. Die große Liebe ihres Lebens zerrann, ein Kind durfte aus gesellschaftlichen Gründen nicht ausgetragen werden. Einen zweiten Mann vermochte Gertrud nicht an sich zu binden. Der heiratete eine andere und wagte nicht, es ihr mitzuteilen. Selbstverständlich aber pflegte sie die ungeliebte Mutter in deren Krankheit zum Tode, selbstverständlich führte sie den Haushalt und unterstützte zugleich den Vater als Sekretärin. Drei Brüder hatten studiert, aber Gertrud Kolmar absolvierte einen Notariatskurs, um ihrem Vater helfen zu können, und nutzte ihre stupende Sprachenbegabung nicht für ein philologisches Studium, sondern erwarb mit Auszeichnung simple Diplome, die sie zu Hilfsdiensten befähigten – und zur Erziehung taubstummer Kinder. Andere probten zu der Zeit in Berlin die Glitzerrolle des kunstseidenen Mädchens. Neigungen zu weiblichem Dienen sind unverkennbar, doch sie war keine Naive. Sie konnte leidenschaftlich lieben, aber die Verstrickung der Leidenschaft zum schützenden Kokon aus Hingabe, Eroberung und Forderung scheint ihr fremd gewesen zu sein. Auch politisch ist sie Opfer geblieben.
Über das Schicksal ihres im April 1933 verhafteten, 1942 in Mauthausen ermordeten Vetters Georg Benjamin war Gertrud Kolmar offensichtlich genau unterrichtet. Die auf diese Kenntnis gegründeten Gedichte aus dem im Herbst 1933 entstandenen Zyklus „Das Wort der Stummen“ sprechen hart, unverbrämt und anklagend von Kerker und Mißhandlungen.
Sie recken mir die Arme gewaltsam, nennen’s Sport.
Ich breche in die Knie… und endlich gehn sie fort.
Zwei Zeilen aus dem Gedicht „Der Mißhandelte“ – das ist nicht Sklavensprache, da verflüchtigt sich nichts zwischen den Zeilen; es gibt aus jenen Jahren nicht viele in Deutschland geschriebene Gedichte, die damit vergleichbar sind. Hilde Benjamin hat diese Texte bewahrt, aber es bleibt schwer zu verstehen, warum das Gedicht „Der Mißhandelte“ erst 1972 in Sinn und Form erschienen ist. Es ist noch schwerer zu verstehen, warum die von Friedhelm Kemp herausgegebene Ausgabe des „Lyrischen Werks“ der Gertrud Kolmar, die 1960 im Kösel Verlag erschien, noch heute in der Originalausgabe erhältlich ist – trauriger – und glücklicherweise zugleich. Vielleicht sollte ich daran erinnern, daß Paul Celan sich um 1960 von alten und neuen Antisemiten umstellt sah und diese sogar in seinem eigenen Verlag vermutete. Doch Celan hatte trotzdem Erfolg.
Man könnte die Frage einfacher stellen: Warum wurde das 1947 im Aufbau Verlag erschienene Gedichtbändchen In den Wohnungen des Todes der damals nahezu unbekannten Nelly Sachs trotz des eklatanten Mangels an Lesern ein Meilenstein auf dem Wege zum Nobelpreis, und warum blieb der im gleichen Jahr bei Suhrkamp mit einem Nachwort von Hermann Kasack erschienene Gedichtband Welten von Gertrud Kolmar so folgenarm? Der einst sehr bekannte Kritiker Erich Pfeiffer-Belli, später mein Hausgenosse in München, aber gewiß kein Genosse, besprach am 14.12.1947 „Sechzehn Bände Lyrik“ im Berliner Tagesspiegel auf einen Streich, darunter neben Britting, Hermlin und Friedrich Georg Jünger die von Nelly Sachs und Gertrud Kolmar. Zu ihr fiel ihm ein: „Eine Verheißung – und schon erloschen, verschollen…“. Damit ist fast alles gesagt.
Ich wage dennoch einige, hier sehr verkürzt vorzutragende Thesen, die freilich einen Konsensus voraussetzen: Daß nämlich Gertrud Kolmar weit mehr als eine Handvoll befremdend spröder, gehärteter, großer und groß gearteter Gedichte hinterlassen hat, darunter vor allem einige ungereimte Langgedichte, die man noch heute in den Weltanthologien der Lyrik vermissen kann.
1. Als Gertrud Kolmar zu Beginn des expressionistischen Jahrzehnts ihre frühesten Gedichte schrieb, war sie fast noch ein Kind. Wer so anfing und nicht emigrieren konnte, wer den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus nicht überleben konnte, war nach 1945, nach 1947 und noch nach 1960 ein Zuspätgekommener in deutscher Literaturgeschichte. Man stelle sich vor, Günter Eich wäre der Autor des Kolonne-Kreises geblieben.
2. Gertrud Kolmar hatte es sich, um ihren Cousin Walter Benjamin zu zitieren, in der ungemütlichen Stimmung der zwanziger Jahre nicht gemütlich eingerichtet. Ihre Melancholie war nicht links, ihr Schreiben nicht modisch. Ihre Existenz entsprach nicht dem Rhythmus der Zeit. Weder Alex noch Kudamm waren ihr Terrain. Niemand hatte sie die Rücksichtslosigkeit gelehrt, die dazu gehört hätte, denn doch eine Schriftstellerin zu werden.
3. Nicht der Prinz von Theben, nicht die Keun, die Tergit oder die kleine jüdische Dame Vicki Baum waren ihre Freundinnen. Nicht Brecht oder Benn ihre Freunde. Wie denn auch? Das ließen Politik und gesellschaftliche und literarische Beziehungen nicht zu, weder in der einen noch in der anderen Richtung.
4. Gertrud Kolmar hatte die falschen Freunde, Förderer oder Bewunderer. Weder Elisabeth Langgässer noch Ina Seidel noch Oda Schäfer vermochten Gertrud Kolmar den unbarmherzigen Stoß in die Moderne zu versetzen, den diese Dichterin verdient gehabt hätte. Horst Lange hielt es noch 1965 für wichtig, lobend daran zu erinnern, Gertrud Kolmar sei „weniger hysterisch“ als Else Lasker-Schüler gewesen. Als ob es darauf angekommen wäre. Selbst der große Cousin Walter Benjamin scheint 1928 nicht der richtige Vermittler gewesen zu sein; sein lapidarer Hinweis auf den Zusammenhang mit „deutscher Frauendichtung“’ war mit Verlaub wenig erhellend.
5. Noch Peter Wenzels Verteilerzettel für die Belegstücke von Welten ist 1947 ein zeitbedingtes Zeugnis teils unfreiwilliger, teils aber auch selbstverhängter deutscher Einengung: Stefan Andres, Imma von Bodmershof, Ricarda Huch, Edith Klipstein, Marianne Langewiesche, EIisabeth Langgässer, Ilse Langner, Sophie von Podewils und Luise Rinser, immerhin auch Julius Bab, Hermann und Ninon Hesse, Wilhelm Lehmann, Anna Seghers und Hilde Spiel erhielten damals das Buch. Es sind achtbare Namen darunter, auch große Namen, dennoch wage ich provokativ die Frage, ob es denn wirklich richtig war, die Wiederentdeckung des Werkes einer ermordeten jüdischen Lyrikerin 1947 noch so deutlich in die Herkünfte aus den dreißiger Jahren einzubinden. Es wäre sinnlos und unangemessen, nun den Buchhändler Peter Wenzel zu schelten; die Frage richtet sich viel mehr an den Suhrkamp Verlag vom Herbst 1947, an die damalige Literaturkritik, an die Emigranten und an die neue deutsche Literaturszene im Todesjahr Wolfgang Borcherts. Versäumnisse sind noch heute zu beklagen. Aber wen hätte man ansprechen sollen im Gründungsjahr der Gruppe 47? Hans Werner Richter wohl kaum. Paul Celan und die immerhin schon 46jährige Rose Ausländer waren in Deutschland völlig unbekannt. Auch die zahlreichen Zeitschriftenredaktionen arbeiteten beinahe ohne Kommunikationsnetz. Die gesamtdeutschen Autoren hielten z.B. Johannes R. Becher, Walter von Molo und Ernst Wiechert. Sie waren Schriftsteller; die tote Dichterin Gertrud Kolmar hatte diesen Beruf nie ausüben wollen und können. Das hat ihrem Nachruhm geschadet. Ermordete Lyrikerinnen sind schlechte Kapitalanlagen im Literaturbetrieb.
6. Da sie Auschwitz nicht überlebt hat, hatte Gertrud Kolmar nicht einmal die lebensgefährliche Chance wie Nelly Sachs, wie Rose Ausländer, Alfred Gong oder Paul Celan, die wehe Klage der Opfer auszudrücken. Asche, Sand und Staub, die Metaphern Celans und der Nelly Sachs konnte sie nicht prägen, den Kaddisch nicht sprechen, Gertrud Kolmar ist Asche, Sand und Staub, aber nichts davon ist wegzuwischen. Sogar das Schicksal der weltweit wahrgenommenen Nichteingliederung jener Autoren in die beiden deutschen Staaten und Literaturen vermochte Gertrud Kolmar nicht zu teilen. Meine Damen und Herren, ich habe geduldig versucht zu erklären, warum Gertrud Kolmar nicht die Resonanz hat, die ihr gebührt. Doch eigentlich bin ich ungeduldig. Von meinem Freund Friedrich Pfäfflin, dem Leiter der Ausstellungsabteilung des Marbacher Literaturarchivs, habe ich erfahren, daß die Kolmar-Ausstellung in Marbach nicht gut besucht war. Das heißt aber nicht, daß Johanna Woltmann nicht etwa eine hervorragende Ausstellung gemacht hätte, die ich ohne Zögern neben die ebenfalls aus Marbach übernommenen Ausstellungen über Walter Benjamin und Siegfried Kracauer stelle. Ich erinnere aber auch an das Beziehungsgeflecht, das sich nicht ganz zufällig aus den von Ernest Wichner und mir konzipierten Ausstellungen und jenen des Deutschen Literaturarchivs ergeben hat. Heinar Kipphardt und unsere Ausarbeitung des Themas „Zensur in der DDR“ ergaben einen engen Zusammenhang. „Berlin Provinz“ aus Marbach und unsere Ausstellung über die vorwiegend jüdische Kultur des Neuen Berliner Westens, Walter Serner, Benjamin, Kracauer, die Literaturhaus-Ausstellung „In der Sprache der Mörder“ und jetzt Gertrud Kolmar – daraus ergibt sich eine beachtliche Geschichte jüdischer Literatur des 20. Jahrhunderts, die in den Marbacher Magazinen und in den Ausstellungsbüchern dieses Hauses dokumentiert ist. In diesem Zusammenhang möchte ich Johanna Woltmanns Ausstellung einbinden, und ich erwarte, ja ich fordere öffentliche Aufmerksamkeit für das Werk Gertrud Kolmars. Dies ist auch ein Appell an Presse und Funkanstalten. Hier ist nichts wieder gut zu machen, Schuld kann nicht abgetragen werden. Wir fordern nur Ihre Wahrnehmung heraus, das Schwerste und Größte, die Überwindung moralischer und ästhetischer Bequemlichkeit zugleich.
Herbert Wiesner, LITFASS, Heft 58
Gertrud Kolmar (geb. 10.12.1894 – gest. vermutlich 1943)
Gertrud Kolmar gilt es, neu zu entdecken, namentlich für jüngere Lesende, denn die große Unbekannte unter den Dichterinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben Else Lasker-Schüler und Mascha Kaléko ist bis heute so recht eigentlich eine Lyrikerin unter Kollegen und Kolleginnen sowie für die deutsche Literaturwissenschaft geblieben. Elisabeth Langgässer, Karl Josef Keller und vor allem Ina Seidel wurden früh auf die Dichterin aufmerksam und förderten ihren literarischen Werdegang. Das konnten sie aber nur, weil sie durch Gedichtpublikationen angesprochen wurden, die Kolmars Cousin Walter Benjamin in wichtigen Zeitschriften, der Literarischen Welt, herausgegeben von Willy Haas, der Neuen Schweizer Rundschau von Max Rychner sowie Anton Kippenbergs Insel-Almanach auf das Jahr 1930 durchgesetzt hatte. Benjamin schreibt über seine Cousine in der Einleitung zum Abdruck zweier Kolmar-Gedichte in der Literarischen Welt vom 5. April 1928:
Von der Verfasserin ist bisher nur ein Band „Gedichte“ – Berlin 1917 bei Egon Fleischel – erschienen. Weniger um auf jene ersten frühen Versuche hinzu weisen, als um das Ohr des Lesers Tönen zu gewinnen, wie sie in der Deutschen Frauendichtung seit Annette von Droste nicht mehr vernommen worden sind, veröffentliche ich folgende Verse.
Und Horst Lange, der ebenso wie seine Frau Oda Schäfer in der berühmten Rabenpresse von Victor Otto Stomps veröffentlicht, vergleicht Gertrud Kolmar mit Else Lasker-Schüler, wenngleich er mehr ihre habituelle Ähnlichkeit denn ihren Status in der Literaturgeschichte meint:
[…] ich bin der Kolmar zwei- oder dreimal in der Offizin von V.O. Stomps in Berlin in der Stallschreiberstr. begegnet, um die Zeit etwa, als er ihre „Preussischen Wappen“ druckte. Sie machte einen etwas zerfahrenen, unkonzentrierten, aber besessenen Eindruck, glich von weitem etwa der Lasker-Schüler, war jedoch weniger hysterisch und nicht (wie jene!) zu Zornausbrüchen hingerissen, sondern immer sehr still und leise, als ob sie auf etwas lauschte.
Das Schönste an ihr waren ihre Augen. Ihren Namen „Chodziesner“ sprach sie in einem äußerst musikalischen, fast hingehauchten Tonfall aus.
(Brief an Johanna Zeitler vom 7. März 1965)
Wer war die schöne, stille Dichterin, deren lyrisches Werk, zu Lebzeiten kaum bemerkt, auf so individuelle Weise klassische Frauenthemen wie Liebe, Opferbereitschaft, Natur und Mutterschaft mit schwärenden Farben verhandeln konnte, die in spätexpressionistischer Manier Existenzielles mit mystischem Unterton in zumeist Freie Verse bannte? Am 10. Dezember 1894 wird Gertrud Käthe Chodziesner als erste Tochter des Rechtsanwalts und späteren prominenten Justizrats Ludwig Chodziesner und seiner Frau Elise in Berlin geboren. Als Kind schon hängt das phantasievolle und gescheite Mädchen ihre Gedanken und Vorlieben nicht an typische Mädchenspiele und -ideale, interessiert sich für Geschichte, besonders der französischen Revolution, und Tanz, bewundert ihren Vater abgöttisch und gerät in ödipale Konflikte mit ihrer musisch begabten und gesellschaftlich interessierten Mutter. 1897 wird Gertruds Schwester Margot geboren, 1900 ihr einziger Bruder Georg – da wohnt die Familie schon in einer schönen Villa im Westend in Nachbarschaft des gehobenen Bildungsbürgertums, zwischen Beamten, Künstlern und Großbürgern – und 1905 schließlich wird ihre geliebte kleine Schwester Hilde geboren, die später Buchhändlerin und ein paar Jahre mit Peter Wenzel verheiratet sein wird. Hildes und vor allem Peter Wenzels Engagement verdanken wir die einschlägigen postumen Veröffentlichungen und den literarischen Nachruhm der Kolmar.
Gertrud Chodziesners Kindheit ist stark von ihrer engsten Familie geprägt, von Schulfreundinnen ist nichts überliefert, für ihre Geschwister bleibt sie die „große Schwester“, die sich mit Büchern in stille Zimmer zurückzieht, und die sie nicht verstehen. Gertrud liest Rilke und Mallarmé, besieht sich die schönen Jugendstilillustrationen von Ephraim Moses Lilien in der Bibel in Auswahl für Schule und Heim, in ihrem Zimmer hängt ein Portrait Napoleons, den sie so verehrt, weil sie ihn mit ihrem Vater identifiziert. Auf den wenigen erhaltenen Familienfotos steht die kleine Gertrud stets abseits, schaut stoisch aus ihren tiefen schwarzen Augen und lächelt nie. Die Fotos zeigen eine typische Großbürgerfamilie des assimilierten Judentums, denn die Chodziesners leben ihren jüdischen Glauben nicht aus. Ihre Schwester Hilde Wenzel wird später – in ihrem Nachwort zur 1960 im Kösel-Verlag, München erschienenen erweiterten Neuausgabe von Das lyrische Werk schreiben:
Als einzige aus der Familie war sie schon als junges Mädchen dem zionistischen Gedanken zugänglich und lehnte die Einflüsse der wilhelminischen Epoche bewusst ab, obwohl ihr Vater diesem Geist, trotz seiner Zugehörigkeit zum Judentum, durch seine Tätigkeit stark verhaftet war.
Bis auf diese Aussage allerdings sind keine weiteren Zeugnisse überliefert, die eine solche frühe Auseinandersetzung mit jüdischen Themen für die junge Dichterin belegen. Die Schule schließt Gertrud Chodziesner erfolgreich ab, im Mai 1916 erwirbt sie das Sprachlehrerinnendiplom für Französisch, im Oktober des selben Jahres dazu noch das für Englisch. Sie arbeitet in einem Kinderhort und wird verschiedene Stellen als Kindererzieherin in privilegierten Haushalten annehmen, allerdings immer nur für kurze Zeit. Bis auf diese Arbeitsaufenthalte – den längsten davon bei einer Familie in Hamburg – und einem Studienaufenthalt an der Universität in Djion, bei dem sie als Jahrgangsbeste abschneidet und an den sie eine Reise in verschiedenen Städte Frankreichs anschließt, wird Gertrud Kolmar in den elterlichen Wohnungen leben, sie wird sich gelegentlich verlieben, doch niemals heiraten oder eine eigene Familie gründen. Eine kurze, dramatische wie unglückliche Liebe der gerade einundzwanzigjährigen, unerfahrenen Kolmar endet 1915 oder 1916 mit einer Abtreibung, die sie traumatisiert, deren Nacherleben und Verarbeitung vielfache Reflexion im Werk der Autorin hinterlassen wird.
Und wenn du Mädchen zwingen willst,
aaaSo weck nur dein Gelüsten,
Und ruh heut nacht, daß du es stillst,
aaaAn meinen weißen Brüsten.
Und was der Leute Mund drob redt.
aaaDen Spott will ich ertragen;
Wenn dir der Feind nicht widersteht,
aaaWie sollt’s dein Lieb wohl wagen?
Ein heißes Herz ist noch kein Fehl,
aaaEin tapfrer Seel kein Schaden,
Und wenn sich fanden Herz und Seel,
aaaWird uns der Himmel gnaden.
Denn so ist dein und mein Geschick:
aaaDir schuf der Schmied die Waffen;
Den ros’gen Mund, den dunklen Blick,
aaaDie hat mir Gott geschaffen.
Der Schuster hat die Schuh gemacht,
aaaDie deinen Weg betraten,
Vom Schneider hab ich meine Tracht,
aaaMein Kindlein vom Soldaten.1
Hier wird in verdoppelter Volksliedstrophe eine junge Liebe besungen, vor Gott und der Natur als unschuldig legitimiert, in der die Geschlechterrollen so zwingend eingeteilt sind, sich so bedingen, wie Handwerk und dessen spezifische Produkte. Das spezifische Produkt heteronormativer Beziehung ist demnach ein Kind. Und weil – wie der Wechsel der Jahreszeiten – das „Stirb und Werde“ der Natur ewiges Gesetz ist, gilt auch:
Weil der Sommer Rosen bringt,
aaaBringt der Winter Schnee;
Weil ich meine Freude trag.
aaaTrag ich auch mein Weh.
[…]
Und wenn nie solch wilder Bursch
aaaZu mir kommen war,
Fiele deinem Mädchen heut
aaaAuch kein Scheiden schwer.
Huscht ein Tränchen mir vom Aug,
aaaIst’s, weil eins mich reut:
Daß wir nicht genug geküsst.
aaaDas schmerzt mich noch heut.2
„Abschied“ und „Soldatenmädchen“ entstammen Kolmars erstem Gedichtband, dessen Publikation Ludwig Chodziesner 1917 seinem Freund Fritz Cohn, seinerzeit Inhaber des Egon Fleischel Verlags, ans Herz legt. Hier erscheint zum ersten Mal das Pseudonym Gertrud Kolmar auf dem Titelschild: Die Autorin wählt es in Anlehnung an den kleinen Ort Chodziesen in der ehemals preußischen Provinz Posen (bis 1918), aus dem die Vorfahren Ludwig Chodziesners stammen, und die 1878 in Kolmar eingedeutscht wurde. „Mutter und Kind“, „Mann und Weib“, und „Zeit und Ewigkeit“ titeln die drei Zyklen, in die die meist volksliedhaften Verse des schmalen Bändchens gegliedert sind – und deren qualitative Einschätzung Walter Benjamins oben zitiert wurde. Freilich sind hier schon sämtliche Motivkreise der Kolmar angelegt, und die zuweilen tiefe Melancholie der Verse scheint das spätere Schicksal der Lyrikerin vorauszuahnen:
[…]
Not steht an dem Wege, den ich schreiten will,
Tod steht an dem Wege, den ich schreiten will,
aaaKummer und Klage, graue Plage:
aaaIch weiß es – und schreit ihn doch!3
Nach dieser Veröffentlichung bleibt es, was die Publikationen betrifft, lange ruhig um Gertrud Kolmar. Noch zehn Jahre dauert es, bis im Winter 1927/28 der Zyklus „Das Preußische Wappenbuch“ entstehen wird, daraus Victor Otto Stomps 1934 auf Empfehlung Ina Seidels 18 Gedichte unter dem Titel Preußische Wappen veröffentlicht. Nachdem Gertrud Kolmar von November 1918 bis November 1919 im Kriegsgefangenenlager Döberitz bei Potsdam eine Stelle als Briefzensorin ausübte, arbeitet sie verschiedentlich bis 1928 als Erzieherin, dann gibt sie diesen Beruf auf, versteht sich endlich ganz als Dichterin, nicht als Autorin, obwohl sie immer wieder auch Erzählungen schreibt, sich sogar an dramatische Versuche wagt, die heute zum Teil als verschollen gelten müssen. Sie zieht endgültig zu ihren Eltern, die seit Juni 1923 eine repräsentative Villa im Spandauer Nobelvorort Falkensee bezogen hatten. Hier, in der Villenkolonie Finkenkrug wird sie sich um die Eltern kümmern und „macht dem Vater die Wirtschaft“, wie sie sich in einem Brief an ihre Schwester Hilde ausdrückt, besonders, nachdem 1930 überraschend ihre Mutter stirbt. Die fünfzehn Jahre in Finkenkrug werden zu den literarisch produktivsten der Kolmar, hier entstehen die Rosengedichte, die Zyklen „Tierträume“, „Mein Kind“ und „Weibliches Bildnis“. Und die Erzählung „Eine jüdische Mutter“, die Gertrud kurz nach dem Tod ihrer Mutter beginnt und beendet und die erst 1965 in einer limitierten Auflage von 1.000 Exemplaren postum und unter dem verkürzenden Titel Eine Mutter erscheinen wird. Die Titelverkürzung erscheint im Nachkriegsdeutschland symptomatisch für eine noch nicht begonnene literarische Aufarbeitung der eigenen nationalistischen jungen Vergangenheit, allerdings legt die Erzählung inhaltlich wie motivisch auch nicht fest, warum es sich bei der Protagonistin um eine jüdische Frau handeln muss, sieht man über die gelegentlichen autobiografischen Bezüge hinweg. Die Protagonistin Martha Wolgt findet ihr vermisstes Kind in einem Schrebergarten wieder, es wurde vergewaltigt und übel verletzt, sodass körperliche, seelische und geistige Schäden bleiben werden. Martha vergiftet ihr Kind noch im Krankenhaus und macht sich auf die Suche nach dem Täter der Misshandlungen. Ihre Suche, ein verzweifeltes Herumirren, webt sich zu dem einzigen Lebenssinn der Mutter, die eine kurze Affäre mit einem Rechtsanwalt eingeht, von dem sie sich Unterstützung ersehnt. Aber sie zerbricht an der Kälte der Beziehung. Martha überwindet die Verbrechen nicht und wird sich am Ende ertränken. Opferung, Leiden und Tod sind die Rolle, der Lebenssinn, der Ausweg für Kolmars Protagonistinnen. Und der Tod ist immer gewaltsam.
17 Jahre nach ihrem ersten Gedichtband folgt 1934 mit Preussische Wappen in der Rabenpresse ihre zweite Buchveröffentlichung, die letzte zu Kolmars Lebzeiten erscheint 1938 im jüdischen Buchverlag Erwin Loewe Berlin, titelt Die Frau und die Tiere und wird, keine zwei Monate nach Erscheinen, unmittelbar nach den Novemberpogromen aus dem Handel und den Lagern des Verlages genommen und eingestampft. Der kaum auffindbare Band nennt als Autorin wieder Gertrud Chodziesner, denn seit den Rassegesetzen 1935 ist es jüdischen Autoren nicht mehr erlaubt, unter Pseudonym zu veröffentlichen. In ihren letzten Jahren interessiert sich die Dichterin verstärkt für ihre Religion, die Geschichte des jüdischen Volkes und dessen Sprache. Sie eignet sich das Hebräische autodidaktisch an, versucht sich in Übersetzungen und eigenen lyrischen Textproduktionen, ab April 1940 nimmt sie dann an Konversationskursen teil. Von den wenigen Gedichtversuchen, von denen Gertrud ihrer Schwester Hilde schreibt, ist heute nichts mehr erhalten. Aber sie ist nicht mehr allein, findet einen Weg zur Kommunikation außerhalb ihres engen Haushaltes, der Sekretärinnenendienste für ihren fast achtzigjährigen Vater und dem Zwangsverkauf der Villa in Finkenkrug, der die beiden zu einem Umzug in ein sogenanntes „Judenhaus“ in die laute und beängstigende Stadt Berlin nötigt: Seit 1936 fühlt sich Gertrud mit steigender Identifikation im Jüdischen Kulturbund aufgehoben, jener Dachorganisation, in die sämtliche jüdische Kultureinrichtungen gezwungen wurden. Hier freundet sie sich unter anderem mit Nelly Sachs an, die wie sie ebenfalls 1930 ein Elternteil verlor und durch die repressiven, menschenfeindlichen und rassistischen Verhältnisse der nationalsozialistischen Gesellschaft gezwungen wurde, sich mit ihrer jüdischen Identität zu beschäftigen. Die, wie auch Gertrud, Kraft zieht aus den Texten Martin Bubers und Chaïm Nachman Bialiks. Hier werden die Texte beider Frauen und die anderer jüdischer Autoren und Autorinnen in Leseabenden vorgestellt, hier erscheint eine Zeitung, das Jüdische Nachrichtenblatt, in der die Lesungen ihrer Lyrik positiv besprochen werden. Von der letzten Veranstaltung des Kulturbundes lesen wir in der Ausgabe vom 24.5.1940 von Hugo Lachmanski unter dem Titel „Jüdisches Wort und jüdischer Ton“:
Jüdischen Dichtem und Komponisten der Gegenwart galt eine gut besuchte Veranstaltung des Kulturbundes, deren gesamten rezitatorischen Teil Erna Sara Leonhard übernahm. Die bekannte Vortragskünstlerin ist, wie man weiß, seit Jahren bemüht, ungehörten Stimmen, insbesondere jüdische Lyriker unserer Zeit, Gehör zu schaffen – das Echo, das sie bisher gefunden hat, war, dem esoterischen Charakter der Lyrik gemäß, zwar nicht weittragend, aber immerhin stark genug, um aus dem Chor der vielen, mehr oder minder Berufenen die auserwählte Einzelstimme von Gertrud Sara Chodziesner vernehmen zu lassen. Dies eigenwillige, aparte Talent, das einsam seine Straße zieht, setzte sich auch diesmal wieder durch – mit fünf Gedichten, die alles Lyrisch-Konventionelle weit hinter sich lassen und aus dem eingängigen Bereich der Bekenntnislyrik kühn hinausstreben in eine nicht leicht sich erschließende, dunkel malende Phantasiewelt voll üppig schwellender Farben und ornamental-symbolischen Zierrats. Daß durch diese geheimnisvolle Welt unwirklicher Visionen aber auch ein lebendiger Gefühlsstrom hindurchgeht, bewies am besten die großartige, sprachgewaltige Phantasmagorie „Die Tiere von Ninive“, eine ins Mitleid mit aller menschlichen Kreatur gesteigerte Paraphrase des Schlußwortes aus dem Buch Jona.
Die Nacht
Neigte goldblasse Schale, und Mondmilch troff
In das kupferne Becken
Auf dem Dache des weißen Hauses,
Und eine blaugraue Katze mit Agatsteinaugen
Schlich und hockte und trank.
In einer Nische bröckelnden Tempelgemäuers
Saß Racham der Geier regungslos mit gesunkenen Flügeln
Und schlief.
Fern
Hinter den Weingärten lag an wüstem Ort ein gestürzter, verendeter Esel.
In seinem gebrochenen Blick fraßen Würmer,
Und sein Geruch ward stinkend und befleckte die reine Luft und verhöhnte den leisen Ton, der ihn netzte.
Und er harrte spitzer, fallender Fittiche, des gelben, häßlich nackten Vogelgesichts, bohrender Krallen und des zerreißenden
tilgenden Schnabels,
Auf daß bestattet werde, was Ende und Wind verpestet…
Der Geier träumte.
Nah dem Tore der Stadt
Ruhte am Hügel, den gebogenen Stab zur Seite, ein junger Hirt.
Sein Knabenantlitz, erhoben, wie leerer empfangender Becher, füllte sich schimmernd mit dem rieselnden Licht der Gestirne,
Quoll über.
Und ihr schwebend sirrendes, singendes Kreisen in unendlichen Räumen rührte sein Ohr.
Rings zerging das weiche Vlies seiner Lämmer in dunstig dünnes Gewölk.
Ein Kind,
Kleiner, abgezehrter, schmutziger Leib,
Bedeckt mit Fetzen, bedeckt mit Schwären,
Über die Schwelle der Grabkammern hingeworfen.
Streckte sich, schlief.
Es kannte nicht Vater noch Mutter, und nur ein Hund,
Einer der Ausgestoßenen, Verachtetsten,
Gleich arm, gleich krank, geplagt und zerschrunden.
Kratzte sich, duckte den Kopf und leckte liebreich die Wange
unter den strähnig schwarzen verfilzten Haaren. –
Und das Kind ballte die Faust und schlug ihn im Traum.
Und ein Sturm flog auf mit mächtigem Braus,
Ein großer Sturm fuhr von Osten auf und kam und fegte die Weide, entsetzte die Herden
und wirbelte totes Geäst
Und griff wie mit Nägeln in des Propheten Bart, zerrte und zauste.
Doch Jona ging,
Und die Last über Ninive, die er geschaut, hing über seinem Scheitel.
Er aber wandelte in schwerem Sinnen. –
Von der starken Zinne des Königschlosses schmetterte ein bemalter Stein,
Und es heulte im Sturm und es schrie im Sturme und eine Stimme rief:
„Um dieser willen!
Um dieser Tiere, reiner und unreiner, willen!“
Und der Gesandte des Herrn schrak und sah; aber nur Finsternis war, und er hörte
nichts als ein unablässiges Wehen und Sausen,
Das seinen Mantel faßte und zog und schüttelte wie eines Bittenden Hand das Kleid
des unbarmherzig Enteilenden.
Er aber kehrte sich nicht; er schritt
Und raffte und hielt den Mantel.[footnote]„Die Tiere von Ninive“, Jona, Schlußwort in: Gertrud Kolmar: Weibliches Bildnis. Gedichte. Sämtliche Gedichte. Taschenbuchausgabe der von Johanna Woltmann-Zeitler herausgegebenen Bände zu GKs lyrischem Werk. dtv, München 1987, S. 523
Die schon vor 1930 entstandenen Gedichte „Die Fahrende“, „Die Sinnende“, „Das Räubermädchen“ und „Die Ottern“ erscheinen noch 1933 in der Lyrikerinnenanthologie Herz zum Hafen, die Elisabeth Langgässer im Leipziger R. Voigtländers Verlag herausgibt. Der Zyklus „Welten“ entsteht – düstere, prophetische Poeme – und wird erst 1947 von Hermann Kasack veröffentlicht werden. Und schon 1933, also unmittelbar als Reaktion auf die Etablierung der Nazidiktatur, auf „Schutzinhaftierungen“, Polizeigewalt, Gleichschaltungen und Pogromstimmungen, entsteht der Zyklus „Das Wort der Stummen“, der den Opfern all dieser Gewalt Gesicht und Stimme verleiht. Die knapp zwei Dutzend Gedichte schreibt Gertrud Kolmar zwischen August und Oktober 1933, sie titeln „Trauriges Lied“, „Lied der Schlange“, „Ewiger Jude“, „Im Lager“ oder „Die Gefangenen“, „Der Mißhandelte“, „Wir Juden“ und „Heimweh“. Das Manuskript des Zyklus erlebt eine kleine Odyssee, gelangt schließlich in den Besitz von Hilde Benjamin, Justizministerin der DDR und Vorsitzende Richterin verschiedener politischer Schauprozesse, die es zwischen alten Papieren ihres 1940 getöteten Schwagers Walter entdeckt, und wird erst 1978 im Ostberliner Verlag Der Morgen veröffentlicht werden.
Gertrud Kolmar wird ihren Cousin auch nur um drei Jahre überleben. Sie arbeitet im Todesjahr Walter Benjamins gerade an ihrer Erzählung „Susanna“, in der sie, teils aus ihrer eigenen Erfahrung als Erzieherin schöpfend, einen vielschichtigen Text um die Beziehung eines verstörten Mädchens und ihrer Erzieherin entwickelt. Kolmar siedelt die Geschichte der Susanna, die wieder tragisch endet, im jüdischen Milieu an, lässt neben Regionalkolorit auch Zeitkritik in den Text einfließen, der wiederum nur postum den Weg zum Leser, zur Leserin finden wird: Erst 1993 bringt der Suhrkampverlag in Frankfurt den letzten Prosatext der Kolmar als selbstständige Publikation heraus. Zuvor, nämlich 1959 und 1964 ist „Susanne“ in einer von Karl Otten herausgegebenen Anthologie mit Prosatexten jüdischer Autoren erschienen. Seit Juli 1941 muss die Dichterin („Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich; aber eine Schriftstellerin möchte ich niemals sein “, aus einem Brief vom 23.7.1941) Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie leisten, muss in einer Kartonagenfabrik Munitionsverpackungen herstellen. Im September 1942 wird ihr Vater, schon über achtzig Jahre alt und gebrechlich, nach Theresienstadt deportiert, wo er am 13. Februar 1943 den Tod findet. In ihrem letzten erhaltenen Brief an die Schwester Hilde schreibt eine gelassen wirkende Kolmar:
Ich bin eigentlich in der richtigen Stimmung, niedergeschlagen, bedrückt, daß ich als Dichterin im Augenblick gar nichts kann. Denn (vielleicht erwähnt’ ich es Dir gegenüber schon einmal) ich schaffe ja nie aus einem Hoch- oder Kraftgefühl heraus, sondern immer aus einem Gefühl der Ohnmacht. […] Wenn ich […] aus einem Ohnmachts- einem Verzweiflungszustande heraus das neue Werk beginne, so bin ich wie einer, der von unten, aus der Tiefe heraus, zur Gipfelwanderung sich anschickt; zunächst ist das Ziel noch sehr fern, der Blick versperrt, doch mit dem Fortschreiten wird die Aussicht immer weiter und schöner.
(Brief vom 20. und 21. Februar 1943)
Sechs Tage später wird Gertrud Kolmar im Verlauf der sogenannten „Fabrikaktion“ zusammen mit allen anderen jüdischen Zwangsarbeitern Berlins direkt am Arbeitsplatz festgenommen und am 2. März 1943 mit dem 32. „Osttransport“ nach Auschwitz deportiert. Weitere gesicherte Lebenszeugnisse der Kolmar sind nicht bekannt, freilich lässt sich einem erhaltenen Telegramm vom 8. März eines zuständigen Obersturmbannführers über die Ankunft der „Judentransporte“ am 5. und 7. März entnehmen, dass sie wohl zu der Gruppe Häftlinge gehörte, die, nicht für die „Vernichtung durch Arbeit“ geeignet, sogleich ins Gas geschickt wurde.
Gertrud Kolmar schöpfte ihren dichterischen Reichtum aus Alltag und Ohnmacht, wie sie an anderer Stelle einmal schrieb, stellte zeitlebens die Ausgegrenzten, die Anderen in den Mittelpunkt ihrer Dichtkunst – und immer sind es ausgegrenzte, andere Frauen. „Die Irre“, „Die Jüdin“ oder „Die Einsame“ sind wunderschöne wie sprechende Gedichte aus dem Weiblichen Bildnis, die immer auch Selbstreflexion sind. Ihre Sehnsucht nach Mann und Kind erfüllte sich nicht. Von sich sagte sie „Ich war immer die Andere, nie die Eine“. Opferung sah sie als Aufgabe der Frau, geopfert werden auch der tiefere Sinn der Judenverfolgung, denn Gertrud Kolmar sah die Bestimmung des jüdischen Volkes im Unterdrücktwerden, durch das dann aber die Wiedererstehung des Volkes, der eigentliche Sieg hervorleuchtet:
Nur Nacht hört zu. Ich liebe dich, ich liebe dich, mein Volk,
Und will dich ganz mit Armen umschlingen heiß und fest,
So wie ein Weib den Gatten, der am Pranger steht, am Kolk,
Die Mutter den geschmähten Sohn nicht einsam sinken läßt.
Und wenn ein Knebel dir im Mund den blutenden Schrei verhält,
Wenn deine zitternden Arme nun grausam eingeschnürt,
So laß mich Ruf, der in den Schacht der Ewigkeiten fällt,
Die Hand mich sein, die aufgereckt an Gottes hohen Himmel rührt.
Denn der Grieche schlug aus Berggestein seine weißen Götter hervor,
Und Rom warf über die Erde einen ehernen Schild,
Mongolische Horden wirbelten aus Asiens Tiefen empor.
Und die Kaiser in Aachen schauten ein südwärts gaukelndes Bild.
Und Deutschland trägt und Frankreich trägt ein Buch und ein blitzendes Schwert,
Und England wandelt auf Meeresschiffen bläulich silbernen Pfad,
Und Rußland ward riesiger Schatten mit der Flamme auf seinem Herd,
Und wir, wir sind geworden durch den Galgen und durch das Rad!
Dies Herzzerspringen, der Todesschweiß, ein tränenloser Blick
Und der ewige Seufzer am Marterpfahl, den glühender Wind verschlang.
Und die dürre Kralle, die elende Faust, die aus Scheiterhaufen und Strick,
Ihre Adern grün wie Vipernbrut, dem Würger entgegensprang.
Der greise Bart, in Höllen versengt, von Teufelsgriff zerfetzt.
Verstümmelt Ohr, zerrissene Brau und dunkelnder Augen Fliehn:
Ihr! Wenn die bittere Stunde reift, so will ich aufstehn hier und jetzt.
So will ich wie ihr Triumpftor sein, durch das die Qualen ziehn!
Ich will den Arm nicht küssen, den ein strotzendes Zepter schwellt,
Nicht das erzene Knie, den tönernen Fuß des Abgotts harter Zeit;
O könnt ich wie lodernde Fackel in die finstere Wüste der Welt
Meine Stimme heben: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!
Knöchel. Ich schleppt’ doch Ketten, und gefangen klirrt mein Gehn.
Lippen. Ihr seid versiegelt, in glühendes Wachs gesperrt.
Seele. In Käfiggittern einer Schwalbe flatterndes Flehn.
Und ich fühle die Faust, die das weinende Haupt auf den Aschenhügel mir zerrt.
Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, mein Volk im Plunderkleid:
Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zur Mutter glitt.
So wirf dich du dem Niederen hin, sei schwach, umarme das Leid,
Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken der Starken tritt.4
Olaf neopan Schwanke, aus Bernhard Nolz, Wolfgang Popp (Hrsg.): Leben im Zeichen von Verfolgung und Hoffnung, LIT Verlag, 2013
Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966
DAS DUNKLE SPRICHT VOM LICHT
für Gertrud Kolmar
Gebannt in einem Haus
das Haus heißt „Judenhaus“
niemand geht lebend heraus
gelber Stern über dem Trauerhaus.
Es blüht kein schöner Land
in diesem Zimmerschluchtenland
kein Hügel aus Stuck in Schöneberg
die Zimmer voller Angst und Tand.
Hier wartet eine, was geschieht
was dann geschieht, geschieht ihr wie –
sie weiß schon: Worte mangeln nicht
es fehlt die grenzenlose Phantasie.
Sie schaut dem Kommen zu
sie geht nicht fort, was auch geschieht
kommt, wie es kommen muß
nach Sand kommt Asche, kommt der Ruß.
Wer sich nicht fürchtet, spricht
im dunklen Schöneberg: ich fürcht mich
nicht so sehr, daß mir das Wort zerbricht
daß Schatten mein Gesicht.
Ursula Krechel
Elfriede Huber-Abrahamowicz: Zum 80. Geburtstag von Gertrud Kolmar
Die Tat, 7.12.1974
Schreibe einen Kommentar