(…)
Erster Februar. Erst. Zuerst.
Dieser Zweite zweiter Feber.
Dritter Februar Ulysses. Isses Ulysses. Isses Ulysses.
aaaaaIsses Ulysses.
Dritter Februar. Dritter Februar Vokabular notiert
aaaaatrilliert plissiert notiert. Notiert Notat. Isses.
Vierter Februar. Laß dich ein, oh laß dich ein.
Fünfter Februar. Dies und das, das und dies und etwas. Nochetwas.
Sechster Februar, ein Mist und vermischt.
Siebter Februar und so weiter.
Siebter Februar und so weiter.
Siebenter Februar und so weiter und Februar und Siebenter.
Achter Februar oh wie geht es ihnen.
Neunter Februar gefaßt, so gefaßt, eingefaßt.
Zehnter Februar läßt leicht essen, oder leicht ist. Wie’s der zehnte Februar leicht macht oder ißt.
Elfter Februar. Speisen ist aus. Speisen heißen Emanuel oder Rosita.
Zwölfter Februar betrachte es überhaupt.
Dreizehnter Februar, mehr Unterschied.
Vierzehnter Februar, dies soll dir mein Erinnrung sein und wirst du sowieso.
Fünfzehnter Februar. Hast du nun genug hast du nun genug hast du nun genug nun du hast genug nun du hast genug hast du nun genug hast du nun genug nun du hast genug nun hast du genug.
Sechzehnter Februar. Soviel So.
Siebzehnter Februar als eine verheiratete Dame. Verheiratet. Dame.
Achtzehnter Februar hat’s.
Zwanzigster Februar. Verzeihung.
Neunzehnter Februar. Ich pflichte bei du pflichtest bei du pflichtest bei ich pflichte bei ich pflichte bei du pflichtest bei Lilie pflicht Lilie bei oder drei.
Einundzwanzigster Februar, aus sprich wie zuerst sprich aus und wie zuerst oder zuerst, sprich es erst.
Zweiundzwanzigster Februar wurde erwähnt.
Dreiundzwanzigster Februar. Ein Hühnchen liegt in oder gewinn oder wo liegt es drin.
Vierundzwanzigster Februar, für die Vier, vier blättern für vier, vier Blatt vierblättrig für vier Blatt oder vier blattern nach einem Blatt. Vier Blatt. Für vier Blatt.
Fünfundzwanzigster Februar. Zwanzig Tage als Tage.
Sechsundzwanzigster Februar. Zwanzig Tage auch zwanzig Tage.
Siebenundzwanzigster Februar als ein Platz in der Geschichte. Geschichte und so nah.
Zum achtundzwanzigsten Februar rin und gewinn so schön wie nie.
Vergehen mag ein jeder Tag.
Genauso ein unbekanntes Land auch.
Mancher Tag sagt den Betrag.
(…)
– Gertrude Stein und die Sehnsucht nach dem Konkreten. –
Ich kam das erste Mal mit Gertrude Stein in Berührung, als ich im Zuge meiner Hemingway-Lektüre einige Szenen aus Paris – ein Fest fürs Leben in die Finger bekam, und nach Aufschlagen des Buches zuallererst auf einen Abschnitt mit dem Titel stieß: „Miss Stein doziert“, den ich natürlich sogleich las. Hemingway stilisiert in diesen frühen Paris-Aufzeichnungen prägende Momente seiner Schriftstellerausbildung. Seine literarischen Lehrstunden absolviert er beinah täglich in der Wohnung Rue de Fleurus 27, die Miss Stein sich zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Alice B. Toklas hält.
Die beiden Frauen führen in den 10er, 20er und 30er Jahren eine Art künstlerischen Salon, ein offenes Atelier, das als dialogisches Zentrum künstlerischer Avantgarde zählt. Für den jungen Ernest Hemingway sind vor allem die Gemälde aus Steins Sammlung interessant – sie besitzt, neben vielen anderen, einige Arbeiten von Auguste Renoir, Paul Gaugin, Cézanne und dem noch unbekannten Pablo Picasso – aber in erster Linie sind es ihre Vorträge zur Literatur, die Hemingways Schreib-Reflexe evozieren und nachhaltig beeinflussen. Das geht auch aus seinen Briefen aus dieser Zeit hervor, Briefe an seine Eltern und an Sherwood Anderson, der Hemingway, gerade 19 Jahre alt, mit einem flüchtigen Empfehlungsschreiben an Miss Stein, La Rive Gauche, Paris, überwiesen hat.1
Ich legte mein Augenmerk beim Lesen der Paris-Entwürfe vor allem auf die kleinfügige Dialog- und Szenenführung Hemingways, und seine plastischen 3D-Beschreibungen. Gertrude Stein nahm ich zunächst als pure Nebenrolle wahr. Und Hemingways Darstellungen aus jenem Kapitel folgend, fand ich diese Dame, die ich mir in weiten Kattun-Kleidern und eaude-vie trinkend in einem abgewetzten, tiefen, ockertonfarbenen Armsessel vorstellte, allenfalls rätselhaft.
Ich erinnere mich noch an den Ausdruck inaccrochable, mit dem sie Hemingways Kurzgeschichte „Oben in Michigan“ – in der eine junge Frau vergewaltigt wird –, für unpublizierbar erklärt, und daraufhin, nach einem Erklärungsmuster suchend, auf die Malerei zu sprechen kommt: inaccrochable Bilder seien Bilder, die ein Maler weder ausstellen noch verkaufen kann, da sich niemand finden ließe, der ihm eines dieser Werke abnimmt, „…weil man es bei sich zu Hause auch nicht aufhängen kann.“2 Die Rigidität und Absolutheit, die ich in dieser Aussage zu erkennen glaubte, in Hemingways Modulation davon, stießen mich zunächst ein wenig ab – es handelte sich also, so dachte ich damals –, um eine sich bewusst kryptisch äußernde, höchst unterhaltsame Rede-Darstellerin, eine Literatin, dachte ich, eine Trickserin.
Monate vergingen, bis ich abermals Kontakt zu Gertrude Stein aufnahm, diesmal vermittels ihrer eigenen Schriften, wobei es sich um die als Vorlesungen konzipierten Texte Poetry and Grammar & Portraits and Repetition handelte. Es verblüffte mich, was ich da las. Stein schreibt und schreibt in gewaltig in sich ausufernden Sätzen, mit einem intrinsischen Drang zur Wiederholung von bereits Erkanntem und Gesagtem – die Worte, gestaffelt, ständig im syntaktischen Geflecht wieder aufholend, stoßen immer weiter vor im Text, wie in einer sich selbst antreibenden engine. Alles scheint in permanenter Bewegung. Augenblicklich klingelten mir Sätze von Jörg Fauser im Ohr, die frühen Stücke Fausers, unter Einfluss – oder Einbau – von Burroughs und Cut-Up geschrieben. Aqualunge. Tophane. Der innere Kontinent des Harry Gelb – Fausers aufpoliertem, düsteren Helden-Ich, Alter Ego zahlreicher Geschichten und Erzählungen. Auch ein Leben als Literatur, ähnlich radikalisierend in ihrem Formvorhaben: Gertrude Steins Prosa.
Inhaltlich eine Enttäuschung, ihre Ansichten über Verben und Substantive, Stilmittel und Satzzeichen (vielleicht fehlte die Membran, und sie drang deshalb noch nicht schreibend zu mir durch), hinterließen einen kruden Eindruck. Geheimnisse wurden nicht artistisch in der Schwebe gehalten, sondern, ganz in Hemingway’scher Manier, enthüllt durch die Beschreibung sogenannter Lebenswirklichkeit:
Es ist dem springen eines Frosches sehr ähnlich er kann nicht immer gleichweit springen oder bei jedem Sprung auf die gleiche Weise springen. Das Singen eines Vogels kommt vielleicht Wiederholung am nächsten aber wenn man zuhört, ändern auch sie die Betonung. Das ist die menschliche Ausdrucksweise die gleiche Sache sagend und im betonen und wir alle betonen die Emphase verändernd.3
Die Sehnsucht nach Konkretem. Diese Dinge, der Natur abgerungene Ereignisse etwa, lassen sich nur schwer beschreiben, ich glaube, weil sie einerseits kaum denkbar, und dann nur bruchstückhaft und zitierend, in Manipulationen darzustellen sind, illusorisch. Wiederholung. Waren es nicht solche kontemplativen Beobachtungen, die zugleich gleichbleibende und sich verändernde Strömung der Wellen im Meer, mit dem Vorrücken der Sonne, die Dynamiken des englischen Premier-League Fußballs und eilig gesehene Pferderennen in San Siro, Mailand, die ich einmal versprachlichen wollte, als Hintergrundrauschen in einem Text installieren wollte? Emphase? Sind diese rührseligen Anschauungen überhaupt in das Medium Schrift einzuspannen? Das Problem Stimme Stimme (Wolfgang Hilbig). Und die Töne. Bin ich eine alte Seele?
Die sprachgewaltige engine läuft ununterbrochen weiter, ich folge ihr in einigem Abstand, dieser kryptomanischen und sich zugleich verschalenden Stimme, muss natürlich immer wieder nachfassen, werde müde. Und fühle mich beim Lesen, als stünde ich einer sechsarmigen Tennisspielerin gegenüber, immer nach den sechs sich im Spiel befindenden Bällen ausschauhaltend, während ich hin und her wanke auf dem ziegelroten Sand des Tennisfelds, zwischen schnurgeraden weißen Linien.
Ich vermute andere Dinge mögen für andere wenn sie in der Schule sind, aufregender sein aber für mich war in der Schule zweifellos das wirklich vollkommen aufregende Ding Diagramme aufzustellen und das ist für mich seither immer dasjenige gewesen das vollständig aufregend und vollständig vervollständigend war. Ich habe das Gefühl gern das immerwährende Gefühl von Sätzen wie sie selbst Diagramme aufstellen.4
Eine geometrische Figur der Sätze also, Mathematik, Vektoren, Raum- und Oberflächenbildung. Verbirgt sich hierin der geplante, literarische Zugriff von Gertrude Stein?
In einer Herausgabe von Georg Schiller zur symbolischen Erfahrung im Werk Gertrude Steins heißt es:
Eine Sprache vorstellen heißt, sich einen Lebensraum vorstellen.5
Das ist so eindimensional wie wahr. Erhellend. Gertrude Steins berühmter Zirkelschluss Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose (ist eine Rose), ist in diesem Sinne keine feinsinnige, originelle Umdeutung traditioneller Symbole mehr (Liebe, die Königin der Blumen usw.), sondern eine Aufhebung literarischer Symbolik. Eine Rose ist wieder eine Rose – ohne symbolischen Gehalt. Demzufolge gibt es eine Vielzahl denkbar neuer Spielräume, die auf ein offenes, sich ständig im Wandel befindendes Universum hindeuten. Die Frage nach Bedeutung weitet sich so aus zur Frage nach den unterschiedlichen Formen des Existierens. Das Leben als ein ununterbrochenes Experiment, ein ununterbrechbarfortschreitendes: für Individuen gestaltet sich Bedeutungsgewinn erst durch die Brüche und Umbrüche, durch einen anhaltenden Prozess von Lernen und Verwerfen, Zerschlagen, Aufsammeln, Zusammenfügen. Dies entspricht einem Verständnis von Welt als Vorstellung. Das eigene Leben als literarisch Formbares, auch auf der Ebene (kontemplativer) Wahrnehmung. Es ist, so scheint mir, in der Tat das vielzitierte Fenster zur Welt, in dessen Rahmen, durch dessen Bewusstseinsdruck Gertrude Stein sich den Realitäten angenähert, sie literarisiert haben musste, auch wenn ich es an dieser Stelle weder beweisen, noch sinnumfassend delegieren kann. Wirken ihre Sätze doch wie der erzwungene Ausdruck von Bewusstsein, von Schreiben und Zuhören und vice versa, dem permanenten Druck des Sich-selbst-Vergewisserns in der Sprache.
In ihren Vorlesungen spricht Gertrude Stein oftmals, bald phlegmatisch und kühl, bald sonderbar erregt, davon, Wörter zu machen. Nicht vom Schreiben ist hier die Rede. Eine Abwendung vom Deskriptiven, die in der Sprache vollzogen werden soll. Ohne dass eine definitorische Absicht erkennbar wäre, geht es Stein um die Aufgabe eingespielter Denkmuster, noch ohne Schrift, sozusagen als tägliche, meditative Pflichtübung. Joseph Beuys kommt mir in den Sinn, die Kurzgeschichte „Teddy“, aus J.D. Salingers Nine Stories. Sie handelt von einem zehnjährigen Jungen, der durch ein wie ein offenes Gefäß funktionierendes, Umwelt als göttliche Einheit begreifendes Gehirn ganze Zirkel internationaler Wissenschaftler um den Verstand bringt. Bei Joseph Beuys heißt es, sofern mich meine Erinnerung nicht täuscht, mittels Gedankenkraft eine neue Wirklichkeit zu bauen, was das Sichtbarmachen bisher ungeahnter Mechanismen des Denkens mit einschließt. Gertrude Steins Formwille äußert sich wiederum in einer Vernachlässigung von Semantik, zugunsten von Syntax und Klangfolge, die den Wörtern eine neue Qualität zuspricht. Idealerweise lassen sich die Wörter dann als syntaktische und phonetische Gebilde lesen, als Sprache im Raum.
23 3we.6
Die Wörter, die einmal gemacht und gebraucht worden sind, durch die engine wiederholt platziert wurden, bleiben sich nun selbst überlassen. Es ist eine der schönsten autopoetischen Beschreibungen, die ich kenne, eine der wunderbarsten Formulierungen Gertrude Steins. Für mich ist es auch ein Zeichen professionellen Schreibens – Ausdruck der erforderlichen, von Scham gelösten, sich zwischen Autor und Text ergebenden Distanz.
Dabei schien es mir, dass mein eigenes Lesen, die Aufmerksamkeit, die ich beim Lesen anderer Texte aufbringen konnte, sich nun endlich um eine Einstellung erweitert hatte, nämlich, viel bewusster als zuvor, auf die klanglichen Spitzen eines Absatzes zu achten. Auf Verbände von Substantiven, ihre Wiederholungen, Varianzen durch Verben und Adjektive, das zahlenmäßige Aufeinanderfolgen wichtiger Begriffe innerhalb des Textkörpers. Ich las dann auch Steins kürzere Arbeiten, Tender Buttons, ihre Meditationen über Alltagsgegenstände. Portraits and Plays; Gedichte, die als pieces beinahe neutralisiert werden in der Titelgebung: keine mit Stempel versehene Lyrik, und doch Poesie. Die Autorin selbst hat diese Schaffensphase einmal ihre frühe spanische Periode genannt, die ihren Texten eine außergewöhnliche Wortmelodie und eine Melodie von Erregung aufgeprägt hat.
Immer wieder neu ansetzend, sollte ich nun nicht mehr jedem der sechs Bälle hinterherlaufen, achtete stattdessen mal auf Klang und Nachklang einzelner Wörter beim Lesen der pieces, mal auf die Silbenfolge von Vers zu Vers, um ins Spiel zu kommen. Eines ihrer Gedichte hat sich dabei besonders in mein Gedächtnis immaniert:
THEN STEAL
Can you buy a door.
Can you buy a bedding.
Can you buy oats
Can you buy measles.
Can you buy complaints.
Need you care about draughts.
Not then.
Can you learn lessons.
Can you learn medicine.
Can you learn Paul.
Can you learn bicycles.
Not to believe.
Can you witness distraction.
Can you be not better.
Can you wrestle.
Do you know your verses.
Do you know pleasure in rapture.
Believe me she is a teacher.
Is she paid to do charity.
Red white and blue.7
Zunächst einmal fällt die Reduktion des Sprachraums auf durch die sich wiederholenden Fragestellungen, die wiederum Platz schaffen für die Substantive door, bedding, oats usw. Das Gedicht macht den Anschein eines Gesprächs oder einer direkten Ansprache, deutet vielleicht sogar auf die Dringlichkeit eines Verhörs hin. Die Möglichkeit einer Gesprächsform wird durch die Zeile „Believe me she is a teacher“ zumindest offengehalten, da hier eine Person genannt wird, vonseiten eines aus dem Off klingenden Kommentars. Andererseits könnte es sich um eine Selbsterwähnung in der Dritten Person handeln. Die ersten drei Frageblöcke inklusive hintenangestellter Antworten enden mit der letzten Can-you-Frage, sechs Zeilen vor Schluss. Sie bilden drei Glieder des insgesamt viergliedrigen Gedichts, jeder Frageblock schließt eine Frage weniger ein, bis der Einzeiler „Is she paid to do charity“ die Ermittlungen beendet. Mit „Do you know your verses“ verändert sich der Gestus hin zu einem drastischeren Fragen, einem imaginierten Lehrer-Schüler-Verhältnis, zwei geschlossene Fragen, die möglicherweise abzielen auf etwas bereits Erlerntes, vielleicht noch zu Erlernendes. Der Schluss wird durch eine Aussage, die darauffolgende Suggestion und eine Auflösung in drei Farben, „Red white and blue“, gebildet.
Der erste Teil des Gedichts vollzieht eine durch die Substantive getragene Bewegung nach innen, wobei die einzelnen Begriffe bereits mehrdeutig aufgefasst werden können. Von der konkreten Räumlichkeit der door und des bedding (Bettwäsche oder Lagerung bzw. Grab), geht es über Hafer und Masern (measles/Mrs.) hin zu bürgerlich-gesellschaftlichen oder rein gedanklichen complaints (Beschwerden/Klagen). Das in der Frage auftauchende Verb buy irritiert in Bezug auf Masern und Klagen. Es bindet aber auch, was in der Realität nicht einfach gekauft werden kann, measles und complaints, zu im assoziativen Sinne käuflichen Gebrauchsgegenständen. Beschwerden kaufen als eine Folge psychischer Zustände wäre eine mögliche Interpretation. Was toll gedreht ist, da es sich durchaus wie eine Fehlinvestition anfühlen kann, der Euphorien und Frustrationen, wenn Beschwerden symptomatisch werden.
Klangliche Irritation erreicht dieser Part erst durch die Suggestivfrage „Need you care about draughts“, und die gleich hinterhergeschobene Antwort, den Widerruf: „Not then“. Dann nicht, oder noch nicht? Genügt es etwa nicht, sich über draughts (Schlücke, eine physische Kontraktion des Rachens), oder das Damespiel den Kopf zu zerbrechen? Das assoziative Feld spannt sich hier zwischen körperlicher Bedrängnis und dem Spielgedanken auf, der einerseits eine wichtige Rolle einnimmt in der gekonnten, ernstgemeinten Selbstbespiegelung, andererseits zum spielerischen Umgang mit alternativen, noch hinzufügbaren Kaufoptionen animiert.
Im zweiten Teil des Gedichts wird gefragt nach möglichen Feldern des Lernens. Lessons, medicine, Paul (Gaugin?), bicycles. Die Wörter Lessons, medicine und bicycles weisen klangliche Gemeinsamkeiten auf. Paul sticht heraus. Es ist, wie nun auffällt, eine zweite Person in den Text eingeschrieben. Beim Recherchieren werde ich in Poetry & Grammar noch einmal fündig:
Nennen Sie irgend jemand Paul und er wird ein Paul werden, nennen Sie irgend jemand Alice und sie wird eine Alice werden vielleicht ja vielleicht nein, daran ist etwas, aber allgemein gesprochen, wenn Dinge erst einmal benannt sind, tut der Name nicht mehr länger etwas für sie (…)8
Das Substantiv Paul findet hier Erwähnung zwischen der zu erlernenden Heilkunde und dem Fahrradfahren, was, analog zum Schwimmunterricht, zum Bereich früher Kindheitserfahrung gezählt werden kann. Paul wird als Name groß geschrieben. Er begegnet den durchweg großbuchstabierten Zeilenanfängen im Schriftbild auf Augenhöhe.
Den Abschluss bildet erneut eine Verneinung, kein Widerruf diesmal, aber ein Zweifel: „Not to believe“. Diese Zeile macht noch etwas anderes: Sie balanciert die zuvor aufgebaute rhythmische Spannung, vom Anfang des Gedichts, durch insgesamt neunmaliges Fragen aus. Es wird zugleich ab- und wieder angespannt – „Not to believe“ als eine Variation von Verneinung, ungewissen Glaubens, lässt einen Rest übrig. Dieser Rest, im Grunde nicht mehr als eine implizite Ahnung, eine ironische Mitgift der Fragestellerin, wird zum einen spürbar durch die Dopplung b-b, bicycles und believe, zum anderen durch das durchexerzierte buy aus dem ersten Teil, das immer noch nachklingt.
Inhaltlich wird diese Ungewissheit mit der folgenden Zeile aufgegriffen: „Can you witness distraction“ (Kannst du Wahnsinn/Verwirrtheit beobachten oder bezeugen). „Can you be no better“. „Can you wrestle“. Erneut eine Akkumulation von Fragen, das Bewusstsein und den Willen betreffend. Wahrscheinlich wird hier auf das obige Bestreben angespielt, auf die Felder des Lernens, um die es zu ringen gilt. Der befragte, anonyme Adressat findet sich beim Lesen in die Ecke gedrängt wieder, konfrontiert. Was ihm bleibt sind die zwei Antwortmöglichkeiten Kämpfen oder Fliehen, das behavioristische Szenario des „fight or flight“. Hieraus ergibt sich das eigentlich ergreifendste Moment des Gedichts: Der Rückgriff auf die Möglichkeit der Wahl eröffnet einen Augenblick der Hoffnung, einerlei, ob man sich als kampferprobt oder fluchtgewandt beschreiben würde.
Danach wird die Stimme eindringlicher:
Do you know your verses. Do you know pleasure in rapture.
Und obwohl sie mit infiltrierendem Charme spricht – ich hatte vorhin das Lehrer-Schüler-Verhältnis erwähnt –, lässt die veränderte Frageformel, erst „Can you“, dann „Do you“, eine klangliche Dissonanz entstehen, die die Spannung vorantreibt und sehr wohl kultiviert, und dann mit „pleasure in rapture“ (Lust in Rausch oder Taumel) auf engstem Raum klanglich zusammenballt, fast überdreht.
„Teacher“ in der folgenden Zeile behält zumindest in der letzten Silbe eine Assonanz zu „pleasure in rapture“. Der Vers selbst, „Believe me she is a teacher“, zeigt sich als stärkster Bruch in der bisherigen Programmatik des Gedichts. Inhaltlich handelt es sich um den ersten reinen Aussagesatz, der weder Frage noch Dementi anstimmt. Da rapture kein grammatikalisches Geschlecht im Englischen hat, liegt die Vermutung einer Person nahe, die entweder durch eine zweite Stimme als Lehrerin bezeichnet wird, oder das Lyrische Ich behauptet sich selbst noch in der nächsten Zeile, mit leicht ironischem Unterton:
Believe me she is a teacher – Is she paid to da charity.
Wird sie für wohltätige Zwecke bezahlt? Indes wirken die beiden Zeilen sogar wie eine bejahende Antwort auf die Fragen zuvor, im Sinne einer Selbstansprache, die erst alles verneint, später dem Zweifel anheimfällt, im dritten Teil aber mit „can you wrestle“ eine Entscheidung provoziert, eine emotionale Hebung des Ganzen im Zeichen der Wahl.
Die beiden Verse haften auch klanglich aneinander: „Believe me“ wird zu „Is she“, was zugleich die Umstellung von „she is“ markiert; „Believe me“ klingt mit „charity“ und „Is she“ klingt mit „charity“ und „Believe me“. Klanglich entsteht also eine enorme Dichte, die schon bei „pleasure in rapture“ angestaut wurde und die nun, als gäbe es ein unsichtbares Ventil, durch die Farben „Red white and blue“ aufgelöst wird.
Allerdings bleibt die Auflösung inhaltlich rätselhaft. Die Trikolore Blau-Weiß-Rot, Farben der Nationalflagge Frankreichs, werden von der Autorin in den farblichen Verlauf des Sonnenuntergangs transferiert, werden, von der Erdkrümmung aus gesehen, zu Rot-Weiß-Blau bzw. „Red white and blue“. Inwiefern die Parole Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und im Gestus des Gedichts: Brüderlichkeit – Gleichheit – Freiheit, mit Bezug zur Französischen Revolution als Projektionsfläche dient, womöglich sogar das dichterische Programm von Gertrude Stein beschreibt, als existenzieller und akustischer Befreiungsschlag, ist für mich von geringem Interesse. Viel beeindruckender scheint nämlich der Vers für sich, anhand der bildlichen Folie des vergehenden Tageslichts, als audio-visuelles Schauspiel genommen – und seine Umstellung zur klanglichen Loslösung aus der Schrift.
Is she paid to da charity. Red white and blue.
Auch in der konkreten Aussprache – blue spricht sich mit einem weichen Zungenschlag – stellt der Schluss des Gedichts einen hörbaren Ausgleich her. Fast einen Rücktritt, eine Beruhigung. Eine Verflüchtigung der Stimme.
Und all das könnte geklaut sein. So der Titel des Gedichts: „Then Steal“. Er lässt sich ein mit beinah jedem Vers, insbesondere aber mit den Verneinungen der ersten beiden Abschnitte.
Need you care about draughts. Not then. Then Steal.
Und wiederum:
Can you learn bicycles. Not to believe. Then Steal.
Die Substantive sind gewissermaßen alle Diebesgut, es handelt sich ja nicht um Neuschöpfungen – gestohlen im Sinne ihrer Materialeigenschaften, welche Lautgestalt und Schriftbild bestimmen. Dies weist zumindest auf ein sich selbst organisierendes Subjekt hin, auf eine Sprecherin, die sehr präsent zu sein scheint, in diesem Gedicht immer wieder durchschimmert, oder viel eher noch, Text organisiert, Worte setzt und knüpft und damit fast omnipräsent wirkt. Gertrude Steins engine diktiert eine Ordnung. Sie wird durch die sich wiederholenden Can-you-Fragen beschirmt und lenkt den Blick bis zum Ende hin auf die einzelnen Abweichungen, die Negationen und Substantive, die möglichen Felder der Imagination. Dieser, zunächst visuelle Stabilität suggerierende Trick, schafft auch die wirkungsvoll zurechtgerückte, den Lesefluss bestimmende Klangeinheit. Das Abweichende der Versenden könnte entsprechend ebenso gut nur gehört werden, gar inhaltlich beliebig sein – und stünde trotzdem im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Mit „Believe me she is a teacher“ gibt sich die Stimme zu erkennen. Sie erhebt einen Anspruch auf Legitimation. Das bisher Gesagte soll nicht in Frage zu stellen sein, ist Machtwerkzeug, Begriff.
Man kann sich ja wie auf einer Anklagebank sitzend fühlen, nachdem man in die Straßenbahn gestiegen ist und taxiert wird von den Blicken der anderen, ebenfalls in einen sich bewegenden Raum, in eine fahrende Kapsel eingeschlossenen Fahrgäste. Oder man schärft sein Bewusstsein und überwindet diese Form der Standardeinstellung, wie David Foster Wallace es proklamiert hat, in seinem Essay „This Is Water“, um dann vielleicht zu neuen Ergebnissen zu kommen.
„Red white and blue“ können die Vorstellungskraft überschreiten. Neben „better“ aus der sechstletzten Zeile lassen sie sich auch als Adjektive lesen, als beschreibend existierende Elemente, jedoch ohne Ding, schwach, ohne Bestimmung.
Mathias Kröninger, Neue Rundschau, Heft 3, 2016
I have nothing to say and I am saying it and that is poetry.9
Wie es sich in dem Abschnitt über die Strategien der Subjekteinschreibung abzeichnete, lassen sich in Gertrude Steins in den zwanziger und dreißiger Jahren entstandenen Texten Merkmale aufzeigen, die sich mit den Attributen „postmodern“ oder „immateriell“ umreißen lassen. Das Oszillieren Steinscher Texte zwischen „modern“ und „postmodern“ war auch schon an der Autobiography of Alice B. Toklas als spezifisches Charakteristikum durch die Selbstreflexivität und die parodistische Unterwanderung kultureller Codes deutlich hervorgetreten. Auf die „postmodernen“ Aspekte des Steinschen Schreibens soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden. Um sie allerdings deutlicher hervorarbeiten zu können, besitzt ein Vergleich des Steinschen Schreibens mit den zeitgenössischen Kunstformen Kubismus, Dadaismus oder auch dem Surrealismus keinen Erkenntniswert, da gerade diese Kunstformen noch in der Moderne verhaftet sind. Statt dessen soll unter Rückgriff auf Steins theoretische Schriften aufgezeigt werden, inwiefern sie die spezifisch amerikanische Ästhetik von Happening- und Multi-Mediakunst antizipiert.
Der Rückgriff auf die theoretischen Schriften Gertrude Steins, die bislang von der Stein-Forschung mit der Begründung, sie seien eine nachträgliche Erläuterung ihres Schreibens, zurückgewiesen worden sind, ist in diesem Fall besonders sinnvoll, da Stein hier ihre ästhetischen Positionen, welche bei den experimentellen Texten nicht immer deutlich in Erscheinung treten, entwickelt und gleichzeitig direkt demonstriert.
Bezüglich der fälligen Abgrenzung von Moderne und Postmoderne wäre festzustellen, daß diese an anderer Stelle weitaus profunder geführt wurde.10 Hinzu kommt, daß die Abgrenzung zwischen beiden doch teilweise recht künstliche und wohl auch willkürliche Züge annimmt. Der hier verwendete Begriff der Postmoderne versteht sich als eine Weiterführung der Moderne, wofür auch Wolfgang Welsch unter Rückgriff auf Lyotard plädiert, wobei Welsch hauptsächlich die Entwicklung zu Pluralität und die Absage an Metastrukuren als Eigenschaften der Postmoderne hervorhebt:
Der Unterschied zur Moderne liegt nur darin, daß die Postmoderne zum einen dem Modernismus – der paradoxen Verbindung von Ausschließlichkeit und Überholung – abgesagt hat. Und daß sie zum anderen all das, was in der Moderne nur in Sondersphären errungen wurde, jetzt bis in den Alltag hinein verwirklicht. (…) Der einschneidende Pluralismus, den die Postmoderne erkennt und vertritt, war als Möglichkeit sogar schon vor der Moderne entdeckt, kam aber nicht zum Tragen. Es ist bezeichnend, daß auf einen Kant, der inmitten der Neuzeit die Differenzierung von Rationalitätstypen schon sehr weit getrieben hatte, die Einheitsprogramme des Idealismus folgten. Die Moderne des 20. Jahrhunderts hat dann Finitismus, Heterogenität und Pluralität zunehmend erkannt, aber doch nur sporadisch zu realisieren vermocht. Erst die Postmoderne macht sich an die breite Verwirklichung des neuen Sinnkonzepts.11
Bei Lyotard liegt die Erscheinungsform der Postmoderne noch etwas akzentverschoben in deren Betonung der immateriellen, nicht zu versprachlichenden und nicht darzustellenden Aspekte eines Kunstwerkes, in der künstlerischen Absicht, „durch sichtbare Darstellungen auf ein Nicht-Darstellbares anzuspielen.12 Diese Divergenz zwischen der Reduktion des Materials bei gleichzeitiger Häufung der Konnotationen oder besser der rezeptionsgebundenen Assoziationen wird gerade in Verbindung mit Gertrude Steins ästhetischer Theorie und deren textueller Umsetzung deutlich werden.
Veröffentlichungen Gertrude Steins
Da hier, wie in den meisten Abhandlungen von Gertrude Steins Schreiben, ihre Texte und ihre ästhetischen Phasen nicht in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden können, soll im folgenden ein Überblick über die Publikationssituation und über die wichtigsten Veröffentlichungen zum Schreiben Steins gegeben werden: Da Gertrude Stein innerhalb ihres Schreibens ganz bewußt die von den Genres gesetzten Grenzen überschritt, ist eine Einteilung ihrer Texte nach Genres nicht möglich. Ebensowenig informiert eine chronologische Darstellung ihres Schreibens, da viele Texte zwar noch zu ihren Lebzeiten entstanden, aber erst erheblich später oder sogar erst posthum veröffentlicht wurden, so daß fast niemals Entstehungs- und Veröffentlichungsdatum auch nur annähernd übereinstimmen. Die folgende Darstellung geht erst chronologisch auf die zu Lebzeiten veröffentlichten Texte ein und danach auf die posthum veröffentlichten.
Gertrude Steins erste Veröffentlichung ist die, gemessen am übrigen Schreiben, noch relativ traditionelle, zwischen 1903–1906 entstandene Erzählung Three Lives, die 1909 in einer Auflage von 1.000 Stück erschien. Three Lives, nach Gertrude Steins eigenem Dafürhalten unter dem Einfluß Flauberts und Cézannes entstanden,13 enthält drei Erzählungen, „The Good Anna“, über eine deutsche Immigrantin, „The Gentle Lena“ und die interessanteste, „Melanctha“, deren Protagonistin eine schwarze Amerikanerin ist. In dieser Erzählung gelingt es Stein, die Sprache schwarzer Amerikaner mit einem hohen Grad an Perfektion zu imitieren.
Die nächste Veröffentlichung stellt schon eines ihrer wichtigsten Werke dar, das textuelle Stilleben Tender Buttons, 1910–1912 entstanden, 1914 in einer Auflage von 1.000 Stück veröffentlicht und 1928 von transition nochmals abgedruckt. Tender Buttons imitiert das Genre des Stillebens: Der Text enthält lediglich Beschreibungen szenischer Anordnungen von Haushaltsgegenständen und Nahrungsmitteln; er enthält drei Abschnitte, die jeweils mit „Objects“, „Food“ und „Rooms“ betitelt sind. Da Tender Buttons einen ihrer sehr hermetischen Texte darstellt, war er vielfältigen Interpretationsversuchen ausgeliefert: Jayne Walker liest Tender Buttons im Hinblick auf die avantgardistischen Verfremdungen der Stilleben Cézannes und Picassos als Manifestation sprachlicher Verfremdungen und moderner, für das 20. Jahrhundert paradigmatischer Entfremdungsprozesse.14 Andere Ansätze verstehen den Text als intimen Bericht über das häusliche Zusammenleben von Alice Toklas und Gertrude Stein15 oder sogar als streng vercodete Wiedergabe ihrer lesbischen Erotik.16 Marianne DeKoven ist in Ihrer herausragenden Untersuchung des Steinschen Schreibens mit solchen Urteilen allerdings etwas vorsichtiger und beschreibt Tender Buttons als avantgardistisches Textbeispiel weiblicher Jouissance.17
Die darauffolgend 1922 ebenfalls in limitierter Auflage und mit Zuschüssen aus eigenem Vermögen veröffentlichte Textsammlung Geography and Plays enthält kürzere Textstücke, die zwischen 1908–1920 entstanden waren. Obwohl Geography and Plays 1967 und 1968 jeweils erneut aufgelegt wurde, ist dieser Text im Buchhandel nicht mehr erhältlich. 1925 folgt ein weiteres ihrer Hauptwerke, der „Roman“, in diesem Fall trifft der Gattungsbegriff noch ganz entfernt zu, The Making of Americans, der zwischen 1903–1911 entstanden war. 1924 erschien dieser Text in Auszügen in transition, bevor er 1925 in der Contact Edition von Robert McAlmon veröffentlicht wurde. The Making of Americans übernimmt den Gestus der ausufernden Familienchronik, sprengt diesen dann aber im Verlauf der Narration auf: Der Text ist durchsetzt mit seitenlangen Wiederholungen, Wortspielen und dem schon dargelegten Versuch, alle menschlichen Eigenschaften durch strikte Kategorisierung darzustellen.
Im darauffolgenden Jahr, 1926, erschien die kurze, ebenfalls sehr experimentelle, 1923 entstandene Erzählung A Book Concluding with a Wife Has a Cow. A Love Story. Diese 34-seitige Erzählung wurde von dem mit Stein befreundeten Maler Juan Gris illustriert, und sie erschien als Pamphlet in einer Auflage von 100 Exemplaren und einer Luxusedition von 10 Exemplaren, als deren Herausgeber der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler eintrat.
Weitere von Stein mitfinanzierte Editionen ihrer Texte sind das 1928 erschienene Useful Knowledge, das wie Geography and Plays wieder zwischen 1915–1926 entstandene kürzere Texte enthält und ebenso das Zusammenbrechen der Genregrenzen demonstriert. Das gleiche gilt auch für das 1934 veröffentlichte Portraits and Prayers, das größtenteils Porträts enthält, die zwischen 1909–1931 entstanden waren. In den dreißiger Jahren erschienen von den experimentelleren Texten noch 1933 die Textsammlung Matisse, Picasso and Gertrude Stein with Two Shorter Stories, die zwischen 1909–1912 entstandene Texte enthält und die Sammlung der Theaterstücke Operas and Plays, 1932. Hier ist das von dem amerikanischen Komponisten Virgil Thomson vertonte Theaterstück Four Saints in Three Acts enthalten, das Gertrude Stein 1934 in den USA bekannt machte.
Weniger komplizierte, zu Steins Lebzeiten veröffentlichte Texte stellen die in ihrem „bread-winning-style“ verfaßte Autobiography of Alice B. Toklas von 1933, darauffolgend Everybody’s Autobigraphy von 1937, das längere Picassoporträt Picasso von 1938 und die Beschreibung Frankreichs Paris France von 1940 dar. Im Gegensatz zu den experimentellen Texten divergieren bei diesen Veröffentlichungen Entstehungs- und Erscheinungsjahr höchstens um ein Jahr.
Die wichtigste, nach Gertrude Steins Tod erschiene Textsammlung ist die von Donald Gallup herausgegebene achtbändige Yale Edition of Unpublished Writings. Der erste Band der Ausgabe Two: Gertrude Stein and Her Brother and Other Early Portraits (1908–1912) von 1951 ist deshalb von besonderer Bedeutung. weil er die Phase zwischen der Entstehung von The Making of Americans und den Tender Buttons überbrückt, die gleichzeitig auch einen wichtigen biographischen Umschwung in Gertrudes Leben enthält: Im Zusammenleben wird der Bruder Leo durch die Lebensgefährtin Alice B. Toklas ersetzt. Die anderen Bände der Yale Edition sind Mrs. Reynolds and Five Earlier Novelettes (1931–1942), Bee Time Vine and Other Pieces (1913–1927), As Fine as Melanctha (1914–1930), Painted Lace and Other Pieces (1914–1937), Stanzas in Meditation and Other Poems (1929–1933). Die Stanzas können Ulla Dydo zufolge durchaus als die andere, streng verschlüsselte, aber im Gegensatz zur Autobiography of Alice B. Toklas „wahre“ Autobiographie Gertrude Steins verstanden werden. In diesem Zusammenhang erscheint es auch einleuchtend, daß Gertrude Stein, die zeitlebens bemüht war, die erotische Natur ihres Zusammenlebens mit Alice Toklas zu verschleiern, diesen Text nicht veröffentlichte.18 1957 folgt der Band Alphabets and Birthdays und 1958 ist die Herausgabe mit dem Titel A Novel of Thank: You abgeschlossen.
Ein weiteres wichtiges Ereignis ist 1971 die bei Liveright erfolgte Herausgabe der frühen Romane Fernhurst, Q.E.D., and Other Early Writings. Die 1903–1905 entstandenen Texte sind die frühesten Werke Gertrude Steins. Hier tritt vor allem der Roman Q.E.D. hervor, der die Liebesbeziehung zwischen drei Frauen andeutet und der das einzige von Gertrude Stein hinterlassene Dokument eines lesbisch ausgerichteten erotischen Interesses darstellt.
Die von Gertrude Steins Freund Carl Van Vechten publizierte Textsammlung Selected Writings of Gertrude Stein von 1946 ist die erste Anthologie ihres Schreibens, die einige ihrer wichtigsten Texte wie u.a. Tender Buttons und Three Lives enthält. Die von Patricia Meyrowitz 1967 veröffentlichte Textsammlung Gertrude Stein: Writings and Lectures 1911–1945 enthält die theoretischen Texte Gertrude Steins und wiederum das fast hermetische Tender Buttons. Schließlich bietet noch die von Richard Kostelanetz herausgegebene Textsammlung The Yale Gertrude Stein eine Textauswahl aus der achtbändigen Yale Edition of Gertrude Stein.19
Überblick über die Stein-Kritik
Aufgrund der fast hermetischen Abgeschlossenheit des experimentellen Steinschen Schreibens verwundert es nicht weiter, daß ein weites Feld divergierender Ansätze zur Beschreibung der Texte existiert. Grob unterteilt heben sich vier verschiedene Hauptstränge der Stein-Kritik ab: Lesarten der Steinschen Texte vor dem Hintergrund von William James’ Perzeptionstheorien, Ansätze, die ihr Schreiben als eine Veranschaulichung der von den Surrealisten vertretenen Strategie des „automatic writing“ ansehen, feministische Textanalysen, die hier ein Gegenmodell zum patriarchalischen Schreiben zu finden hoffen und solche, die in Steins Texten unter Rückbezug auf zeitgenössische Entwicklungen in der Malerei eine Analogie zum Kubismus sehen wollen.
Als Beispiel für eine Textkritik, die ihr Schreiben als „automatisches“ begreift, steht B.F. Skinner, „Has Gertrude Stein a Secret“, der als Beleg ihre Experimente heranzieht, die sie in Harvard im automatischen Schreiben unternommen hatte.20 Dieser Argumentation widersetzt sich Ronald B. Levinson, der das Steinsche Schreiben in die Nähe der von William James entwickelten Perzeptionstheorien bringt.21 Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes verfolgen Donald Sutherland und Frederick J. Hoffman.22 Allegra Stewart weitet den Vergleich mit zeitgenössischen philosophischen Konzepten aus und liest Gertrude Steins Tender Buttons und das Theaterstück Doctor Faustus Lights the Light ebenfalls vor dem Hintergrund der theoretischen Ansätze von William James und Henri Bergson.23 Norman Weinstein modernisiert diesen Ansatz, indem er Stein mit zeitgenössischer Phänomenologie und Linguistik in Verbindung bringt.24
Im Gegensatz zu obigen Ansätzen, die Steins Schreiben mit wissenschaftlichen Konzepten korrelieren, suchen die feministischen Lesarten, das „antipatriarchalische“ Potential ihrer Texte hervorzuheben. Bei der feministischen Reklamation des Steinschen Schreibens integrieren viele der Ansätze biographische Details in die Untersuchung, was sie oft in die Gefahr des Biographismus bringt. Eine Ausnahme bilden hier die Untersuchungen Ulla Dydos, die zwar immer auf die Biographie Steins rekurrieren, niemals aber der Versuchung erliegen, alles und jedes auf die Biographie, womöglich noch auf die lesbische Sexualität der Autorin zu beziehen.25 Das mag darin begründet liegen, daß Ulla Dydo ihre Interpretationen durch eine intensive Lektüre von Gertrude Steins „notebooks“ stützt, sie zwischen Biographie und experimentellem Text einen weiteren Textkorpus schaltet, der einerseits dem experimentellen Text zuzuzählen ist, andererseits aber auch durch die privaten Mitteilungen der Lebensgefährtinnen als biographisches Material auszuwerten ist.
Ein interessantes methodisches Vorgehen beweist auch Catherine Stimpson, die die Texte auf der Grundlage von Steins lesbischer Identität liest und ihre Experimente von der – angenommen – andersgearteten Körperlichkeit herleitet.26 Weitere feministische Ansätze vermelden die biographische Rückkoppelung und stellen statt dessen den Zusammenhang mit neueren französischen Theorien der „écriture féminine“ her oder mit Roland Barthes Konzept der „Lust am Text“.27 Als von besonders herausragender Qualität erscheint hier Marianne DeKovens A Different Language, die genreübergreifend zu einer neuen Phaseneinteilung der Texte gelangt und damit adäquat auf Steins Negation von Genregrenzen reagiert.28
Von Anfang an wurden Steins Texte mit der kubistischen Malerei verglichen.29 Der Vergleich bezieht sich meistens auf die Fragmentarisierung des Dargestellten und auf die Abkehr von der Repräsentation. Allerdings kommen die meisten der Vergleiche nicht über den Allgemeinplatz hinaus, daß die kubistische Malerei durch die Betonung der Fläche eine Abkehr von der in der Renaissance entwickelten Zentralperspektive darstelle und daß die Steinschen Texte Ähnliches für die Literatur versuchen.30 Ausnahmen bilden hier nur einige neuere Publikationen. die sich vor einem exakteren theoretischeren Hintergrund um die Analogie bemühen, wie Jayne L. Walker, die anhand der unveröffentlichten „notebooks“ die Entwicklungen Gertrude Steins und Picassos parallelisiert. Um eine semiotische Eingrenzung des Problems bemüht sich Wendy Steiner in ihrem Kapitel „Literary Cubism“ in Exact Resemblance to Exact Resemblance,31 in dem sie die unterschiedlichen referentiellen Eigenschaften von visuellen und sprachlichen Zeichen einander gegenüberstellt. Ebenfalls zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang noch Randa Dubnick und Marjorie Perloff, die sich detailliert und strukturalistisch sensibel um die Kubismusanalogie bemühen32 und diese sowohl in der Fragmentarisierung von Sprache als auch in analog verlaufenden, metaphorischen und metonymischen Prozessen vermuten.
Die Vergleiche zur kubistischen Malerei allerdings bleiben, wie es Marianne DeKoven bemerkt, bei einer diffusen Analogie stehen. DeKoven zufolge haben die Abkehr von der Zentralperspektive und die damit einhergehenden Abstraktionstendenzen in der Malerei nicht den gleichen Stellenwert wie die experimentelle Abkehr von der sprachlichen Referentialität. Denn während das Steinsche Experiment jegliche Möglichkeit von logischer und linearer Reflexion negiert, können in der malerischen Abstraktion sowohl logische als auch lineare Reflexionen durchaus weiter bestehen bleiben.33 Der Vergleich des experimentellen Stellenwerts innerhalb der jeweiligen Kunstform zeigt deutlich, daß das Steinsche Experiment die Gültigkeit von Tradition und von textueller Signifikation weitaus stärker in Frage stellt als der Kubismus die Konventionen der Malerei. Hierbei sollte man sich nochmals vor Augen führen, daß Gertrude Stein in Ihren avantgardistischen Textexperimenten ihren Zeitgenossen weit voraus war. The Making of Americans, eines ihrer ersten weitreichenden Experimente, verfaßte sie, wie oben erwähnt, zwischen 1903–1911, Tender Buttons entstanden zwischen 1912–1914. Jedoch sind ihre Texte niemals oder nur am Rande, in die Kanonbildung der Literaturwissenschaft eingegangen. Für die Auslassung können unterschiedliche Gründe herangezogen werden: Marianne DeKoven vermutet für das Herausfallen Gertrude Steins aus der literaturwissenschaftlichen Kanonbildung die Heterogenität ihres Gesamtwerks, das sich nicht hierarchisch in wichtigere und unwichtigere Texte strukturieren läßt und an dem nicht, wie im Fall von James Joyce, eine klare Entwicklungslinie des experimentellen Schreibens aufzuzeigen ist.34 Darüberhinaus verabschieden sich die Texte ihrer avantgardistischen Kollegen niemals mit der gleichen Radikalität von einem referentiellen Gebrauch von Sprache. Selbst Joyces Ulysses oder Faulkners The Sound and the Fury von 1929 besitzen immer noch eine narrative Linie. Auch Steins „poetry“ erscheint viel radikaler als die ihrer Zeitgenossen. DeKoven vergleicht ihr „Susie Asado“ von 1913 mit Texten von Yeats und Pound des gleichen Jahrgangs und kommt zu dem Schluß, daß die männlichen Kollegen zu diesem Zeitpunkt fast ohne Ausnahme immer noch an eine festdefinierte Tradition anknüpfen und sich in diese auch einschreiben, wie z.B. Pound in Formulierungen wie „You were praised, my books“ oder „I make a pact with you, Walt Whitman“.35 Steins Schreiben indessen hatte sich zu dieser Zeit schon längst von der Tradition und von Referenzen auf die Außenwelt abgelöst, wie ihr „Gedicht“ Susie Asado vorführt:
Sweet sweet sweet sweet sweet tea.
aaaaaaaaaaSusie Asado.
Sweet sweet sweet sweet sweet tea.
aaaaaaaaaaSusie Asado.
Susie Asado which is a told tray sure.
A lean on the show this means slips slips hers.
When the ancient light grey is clean it is yellow, it is a silver seller.
This is a please this is a please there are the saids to jelly. These are the wets these say the sets to leave a crown to Incy.
aaaaaIncy is short for incubus.
A pot. A pot ts a beginning of a rare bit of trees. Trees tremble, the old vats are in bobbles, bobbles which shade and shove and render clean, render clean must.
aaaaaaaaaaDrink pups.
aaaaaDrink pups drink pups lease a sash hold, see it shine and a bobolink has pins. It shows a nail.
What is a nail. A nail is a unison.
Sweet sweet sweet sweet tea.36
Die nicht zu imitierende Eigenart der Steinschen Texte sucht DeKoven dahingehend von den Produktionen der Zeitgenossen und -genossinnen zu unterscheiden, daß sie zwischen ,modernist‘ und ,experimental‘ writing differenziert: Alle Texte der zeitgenössischen Schriftsteller/Innen, bis auf die Ausnahme von Finnegans Wake, lassen sich noch als referentielle lesen. Die Texte von Gertrude Stein verweigern Referentialität, weswegen DeKoven sie auch als „experimental“ einstuft.37
Eine andere Erklärung entwickelt Klaus Reichert aus dem Strukturvergleich der unterschiedlichen Texte. Reichert zufolge verdichten die Texte Joyces den „Gesamtbestand kleinbürgerlicher Denk-, Fühl- und Körpermodi“ in einer äußersten Individualisierung der Figuren in sich. Hinzu kommt, daß die Texte Joyces ein Höchstmaß an semantischer Dichte verkörpern, während diejenigen Steins den gegenteiligen Prozeß anstreben: Steins Texte verfolgen die Entsemantisierung der Sprache, da sie nicht intertextuell mit kulturellen Versatzstücken operieren wollen, sondern intendieren, „Wahrnehmungen in Sprache“ zu vermitteln.38 Folgerichtig sucht Reichert den Gegensatz als einen von palimpsestischer textueller Anhäufung, die in ihrer Gesamtbedeutung niemals erfaßt werden kann einerseits, und von Entindividualisierung, Typisierung und Abstraktion auf der anderen Seite darzustellen.39 Mit dieser Beschreibung stimmt er dann auch mit anderen vorgenommenen Unterscheidungen wie z.B. Jürgen Schlaegers und David Antins überein: Schlaeger sieht als einzig mögliche Rezeptionshaltung den Steinschen Texten gegenüber eine theoretische Einstellung, da jegliche Illusionsbildung, und diese ist, wenn auch als fragmentierte, bei Texten von z.B. Joyce oder Pound immer noch möglich, ausgeschlossen ist. Damit nimmt Stein schon eine Entwicklung in der Kunst vorweg, die sich erst Jahrzehnte später einstellen wird.40
Antin dagegen will Stein radikal als den einzigen „modernist writer“ überhaupt anerkennen, da sie nicht wie ihre Kollegen mit intertextuellen Verdichtungen arbeitet, sondern Materialität und Funktionsweise von Sprache in den Vordergrund stellt und damit auf die Willkürlichkeit des Signifkantensystems verweist.41
Eine weitere Eigenschaft der Steinschen Texte besteht darin, daß ihnen kein menschliches Subjekt mehr zugrundeliegt, wie es bei den Texten der avantgardistischen Zeitgenossen noch der Fall ist. Im Gegensatz zu Joyce, der im Ulysses durchaus immer wieder auch große Gefühle anspricht, indem er im Ulysses den Alltag zum „Weltalltag“ macht und seine Protagonisten definitiv gegen die Außenwelt abgrenzt, findet sich bei Gertrude Stein genau das gegenteilige Verfahren: Sie weitet in The Making of Americans ihr Figurenrepertoire dahingehend aus, daß sie möglichst alle lebenden Menschen erfassen und kategorisieren will. Dadurch nimmt sie den Figuren ihre Charakteristika und schafft statt dessen Banalitäten und Unbestimmtheiten.42
DeKoven vermerkt als Unterschied zusätzlich, daß Joyce sich in seinen Texten immer auf ein bestimmtes Bewußtsein konzentriert, während es bei Stein eben die oben beschriebene Ausweitung zu beobachten gibt. Sowohl DeKoven als auch Reichert und Schlaeger nehmen an, daß die Überschreitung der Grenzen der Moderne, wie sie Gertrude Stein vornimmt, nur einer Künstlerin gelingen konnte, die sich in jeder Hinsicht an den Rändern der abendländischen Kultur befand: als Amerikanerin in Europa, als Jüdin in einer christlich geprägten Tradition und schließlich als Frau in der männlich konnotierten Situation des Schriftstellers. Reichert weitet das Fremdsein Gertrude Steins noch weiter aus
Mir scheint, hier ist zum erstenmal bewußt durchgespielt, daß es literarische Erkenntnis im Unterschied zur wissenschaftlichen gibt, und zwar nicht durch die Alternative der Phantasie, sondern an einem der Wissenschaft strittig gemachten Beispiel und Verfahren. Das bedeutet eine Korrektur des bisherigen literarischen Selbstverständnisses und konnte so radikal vielleicht nur von einer Frau vorgenommen werden, deren Sozialisationstyp auf keine Zunfterwartungen vereidigt war.43
Gertrude Steins ästhetische Theorie
Unglücklicherweise besitzen Gertrude Steins experimentelle Texte die Tendenz, die in ihnen enthaltenen ästhetischen Reflexionen beim Lesen schwer nachvollziehen zu lassen. Aus diesem Grund verfaßte sie in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Anzahl von Essays und Vorträgen, die ihre ästhetischen Positionen und Errungenschaften beleuchten und sie dadurch einem größeren Publikum näherbringen sollten. Der erste dieser Beiträge war „Composition as Explanation“ den transition 1926 veröffentlichte.
Ausgehend von ihren theoretischen Erläuterungen soll im folgenden die von Gertrude Stein entwickelte ästhetische Theorie dargelegt werden. Wie eingangs erwähnt. werden ihre im Nachhinein verfaßten Erläuterungen seitens der Stein-Kritik mit Vorsicht betrachtet, da sie einen nachträglichen Kommentar zum experimentellen Schreiben darstellen und sie die Mängel der experimentellen Texte aufheben und eine kontinuierliche Entwicklung des Schreibens vorzutäuschen suchen, die so nicht existierte.44 Da in diesem Zusammenhang aber die ästhetischen Konzepte Gertrude Steins vorgestellt werden sollen, scheint der Verfasserin ein Rückgriff auf die theoretischen Äußerungen nicht nur methodisch unbedenklich, sondern auch geradezu vonnöten, da Stein hier relativ explizit ihre Experimente ausführt.
Einer der Gründe für die Vorreiterstellung. die Gertrude Stein vor ihren avantgardistischen Schriftstellerkolleginnen und Kollegen einnahm, liegt wohl an ihrer Orientierung an der Malerei der Kubisten und daneben besonders an derjenigen Cézannes. Wie sie in der Autobiography of Alice B. Toklas berichtet, verfaßte sie ihre Erzählung Three Lives unter einem Bild Cézannes, was mehr als eine avantgardistische Pose bedeutet. Die Wichtigkeit Cézannes für ihr Schreiben erläutert sie ein weiteres Mal in dem 1946 gegebenen „Transatlantic Interview“.
Up to that time composition had consisted of a central idea to which everything else was an accompaniment and separate but was not an end in itself, and Cézanne concelved the idea that in composition one thing was as important as another thing. Each part is as important as the whole, and that impressed me enormously, and it impressed me so much that I began to write Three Lives (…) I was more interested in composition at that moment, this background of word-system, which had come to me from this reading I had done.45
Weiterhin wird Im Interview deutlich, daß Gertrude Stein als einen wichtigen konzeptionellen Punkt ihres Schreibens nicht mehr die realistische Darstellung von literarischen Figuren ansieht, sondern daß sich ihr Interesse zugunsten der Komposition verschoben hatte. „The realism of the composition which was the important thing, the realism of the composition of my thoughts“.46 Damit markiert sie nochmals den Umbruch vom 19. Jahrhundert und dessen narrativer, auf die Figurendarstellung konzentrierte Literatur zum Experiment der Moderne des 20. Jahrhunderts und dessen Betonung der kompositionellen Elemente.
Mit genau diesem Umschwung beschäftigt sie sich auch in ihrem Vortrag „What is English Literature“.47 Hier beschreibt sie die englische Literaturtradition, die Stein zufolge von der Verbildlichung des Alltagslebens auf der Insel ihre Identität erhielt. Die etwas ungenaue Kategorie des „daily island life“ wird im Verlauf ihrer Ausführungen deutlicher: Das tägliche Leben diente nicht als Grundlage der mimetischen Beschreibung, sondern eher als Repertoire, dessen sich Schriftstellerinnen traditionell für ihre Kompositionen bedienten. Damit knüpft sie an eine aus der Antike übernommene und seit der Renaissance gültige Trennung von Repräsentation und Komposition an, wobei sie immer wieder betont, daß auch Kunstwerke, die anscheinend die Welt mimetisch abbilden, keine reinen Abbildungen von Welt sondern Kompositionen sind, die die Außenwelt neu erschaffen. Diese Trennung gilt sowohl für die traditionelle Literatur als auch für die Malerei, wie aus ihrem Essay „Pictures“ deutlich hervorgeht:
When I look at landscape or people or flowers they do not look to me like pictures, no not at all. On the other hand pictures for me do not have to look like flowers or people or landscapes or houses or anything else. They can, they often do, but they do not have to. (…) The painting must be an oil painting and any oil painting whether it is intended to look like something and looks like it or whether it is intended to look like something and does not look like it it really makes no difference, the fact remains that for me it has achieved an existence in and for itself, it exists as being an oil painting on a flat surface and it has its own life and like it or not there it is and I can look at it and it does hold my attention.48
Im 19. Jahrhundert jedoch sieht Stein einen Wendepunkt in der englischen Literatur, da diese sich weg von der Beschreibung des Alltagslebens hin zu dessen Erklärung bewegt, was in Steins Augen bedeutet, daß sie die kompositionellen Aspekte zugunsten von Mimesis vernachlässigt. Damit hört die Literatur auf, als ein für sich abgeschlossenes Kunstwerk zu existieren. Die Erneuerung der Moderne geschah dann von Amerika aus, weswegen Stein in einem kühnen Schluß „the modern thing“ und „the American thing“ gleichsetzt. Die amerikanische Literatur kann die Erneuerung bewirken, da die Amerikaner, Stein zufolge, noch nicht eine so ausgeprägte Alltagskultur und -identität besitzen wie die Engländer und deshalb zum Verfassen von Kompositionen gezwungen sind. Zwar erwähnt Gertrude Stein niemals die modernen Fabrikationstechniken des 20. Jahrhunderts und deren ungeheueres Potential der maschinellen Produktion und Reproduktion, jedoch scheint auch die amerikanische Vorrangstellung innerhalb der Industrialisierung und bei der Fließbandproduktion einen Einfluß auf das Denken Gertrude Steins gehabt zu haben, die in ihren Essays ja auch beständig die Idee der „continuously moving parts“ innerhalb eines statischen Ganzen variiert:
And so we come to American literature and why they went on and we are the twentieth century literature. (…) This makes what American literature is, something that in its way is quite alone. As it has to be, because in its choosing it has to be, that it has not to be, it has to be without any connection with that from which it is choosing.49
Hierbei wird nochmals ersichtlich, daß die amerikanische oder besser die moderne Literatur auf jede Art von Repräsentation verzichten muß, da diese nicht mehr auf einen intersubjektiv erfahrbaren Alltag rekurrieren kann. Der strukturellen Verschiebung von der Repräsentation zur Komposition hin muß sich auch die Sprachstruktur anpassen. Stein vermeint dieses zu bewirken, indem sie sich vom Satz als übergeordneter sprachlicher Einheit verabschiedet und statt dessen den Absatz (paragraph) als Kompositionseinheit annimmt.
The phrases the emotion of phrases, the explaining in phrases that made the whole nineteenth century adequately felt and seen no longer sufficed to satisfy what anybody could mean. And so they needed a paragraph. A phrase no longer soothed, suggested or convinced, they needed a whole paragraph. And so slowly the paragraph came to be the thing, neither the words of the earlier period, the sentence of the eighteenth century, the phrases of the nineteenth century, but the paragraphs of the twentieth century and, it is true, the English have not gone on with this thing but we have we in American literature.50
Um dem selbstgeschaffenen Bild von der eigenen Genialität zu genügen, läßt Gertrude Stein jedoch überhaupt keinen Zweifel daran, wer dafür, die Innovationen der „American Literature“ weiterzuführen, vorbestimmt war, „and now, the paragraph having been completely become, it was a moment when I came and I had to do more with the paragraph than ever had been done“.51
Die Privilegierung einer formalen sprachlichen Einheit mag befremden und seltsam inhaltsleer erscheinen, erwartet man doch als Konzept der Moderne zumeist eine vorgenommene Fragmentarisierung und/oder Intertextualisierung von Sprache. Bei näherem Hinsehen jedoch erscheint der Wechsel vom Satz zum Absatz für Gertrude Steins Art des experimentellen Schreibens mehr als einleuchtend. Denn während Sätze noch dazu dienen, Sinnzusammenhänge darzustellen, erlaubt der Absatz das Abrücken von festen Sinneinheiten und er favorisiert statt dessen das experimentelle Spiel mit Sprache, wie es folgende Textstelle aus The Making of Americans verdeutlichen soll. Gerade dieser Text stellt den ersten Versuch Steins dar, sich von der Ebene der Sätze auf die der Absätze zu begeben, wie sie es neben der Erwähnung in „What is English Literatur“ nochmals nachdrücklich in ihrem Vortrag „Poetry and Grammar“ mitteilt.
Nobody knows, nobody can know, and I am telling it very often, nobody knows nobody can know how I am wanting to know everything about every one. I am seeing so many just now having living being in them succeeding or failing much or some in living, nobody knows, nobody can know how I want to know all the bring ever in them. Nobody can know how tired I get looking so hard at them, nobody knows how much I want to know all the being there is or was or will be in any man or woman ever living. Nobody knows and I tell it very often, nobody knows this thing. Nobody can know this thing being in me that I am telling very often, nobody knows what I am wanting, that I am wanting to know completely all the being there ever was or is or will be in any one.52
Ungeachtet der inhaltlichen Mitteilung, daß das Erzählmedium alles über alle anderen erfahren möchte, spielt der Text mit den Möglichkeiten der Mitteilung. Anstatt die Mitteilung auf einen Satz zu beschränken, erhält diese durch das immer wiederholte „nobody knows“ schon fast inkantatorische Qualitäten. Die beständige Wiederholung sprengt die semantische Einheit des Satzes, da sich die Phrase eben nicht auf einen Satz beschränkt, sondern den gesamten Abschnitt bestimmt. Damit wird der Abschnitt zur Klammer, der die textuelle Figuration von „nobody knows“ formal umschließt. Jetzt handelt es sich nicht mehr um eine innerhalb von festumrissenen grammatikalischen Strukturen getätigte Mitteilung, sondern um den durch den Absatz definierten Verdichtungspunkt „nobody knows“ sammeln sich schillernd die durch den jeweiligen Kontext hergestellten Konnotationen. Diese oszillieren zwischen den dargestellten Möglichkeiten des Wissens von „nobody knows“, I want to know“, und „this thing being in me“, das sich niemandem erschließen kann. Damit führt der Text die unauflösliche Grenze zwischen individuellem und allgemeinem Wissen vor, die auch, bezogen auf das erkennende Subjekt, eine zwischen erlebtem Innen, „I want to know“, und dem Außen, „nobody can know this thing being in me“, ist. Ein demgemäßes schriftstellerisches Vorgehen entzieht sich schon fast der diskursiven Beschreibbarkeit, da die Texte sowohl in so hohem Maß hermetisch als auch heterogen sind, daß sie diskursiv nur noch Annäherungen erlauben. Zu der Heterogenität gesellt sich ein dichtes Spiel der einzelnen Elemente untereinander, wobei jedes Element eine gleiche Gewichtung erhält. Die hierdurch bewirkte Enthierarchisierung von Sprache und die Aufsprengung der narrativen Logik bedeuten einen weiteren wichtigen Punkt innerhalb von Gertrude Steins Ästhetik, die natürlich, ähnlich wie die Priviligierung des Absatzes, die Referentialität ihres Schreibens mindern.
Ein zusätzliches Charakteristikum der Texte, das durch die inkantatorischen Wiederholungen hervortritt, ist die Angleichung der Textstruktur an das Bewußtsein des Lesers. Ausgehend von den Perzeptionstheorien William James’, denen zufolge das menschliche Bewußtsein niemals den aktuellen Moment des Erkennens faßbar machen kann, sondern immer hinterherhinkt, ist Steins textuelles Experiment darauf angelegt, den aktuellen Moment des Bewußtwerdens zu greifen und zu bezeichnen. In „Composition as Explanation“ beschreibt sie ihre Auffassung von „time in composition“, wie sie das aktuelle Erkenntnismoment benennt.
The time of the composition is a natural thing and the time in the composition is a natural thing it is a natural thing and it is a contemporary thing.
The time of the composition is the time of the composition. It has been at times a present thing it has been at times a past thing it has been at times a future thing it has been at times an endeavour at parts or all of these things. In my beginning it was a continuous present a beginning again and again and again and again and again, it was a series it was a list it was a similarity and everything different it was a distribution and equilibration. That is all of the time some of the time of the composition.53
Mit dieser Zeitauffassung bewegt sich Stein schon über die Ästhetik der Moderne hinaus und antizipiert ein in dieser noch nicht herausgearbeitetes Zeitverständnis: Geht man davon aus, daß sich innerhalb der Moderne des 20. Jahrhunderts ein Zeitverständnis entwickelt hatte, das die ästhetische Erfahrung verdichtete und sie auf einen möglichst kleinen Zeitpunkt konzentrierte, erscheinen Steins Bemühungen das noch zu übertreffen, indem sie die ästhetische Erfahrung auf einen so geringen, niemals faßbaren Zeitpunkt richtet.54 daß infolgedessen die Zeiterfahrung umkippt und sich in ein potentiell unendliches „continuous present“ ausweitet. Das Umschlagen der Zeitstruktur negiert die reduktionistische, alles auf einen Punkt konzentrierende Zeitauffassung der Moderne dahingehend, daß zum einen die Subjektivität von Zeiterfahrung aufgewertet wird und auch die kürzesten Ereignisse als unendlich lang erfahren werden können, also die individuelle ästhetische Erfahrung auch eine eigene Zeitstruktur mit sich bringt. Darüberhinaus wird offensichtlich, daß sich das künstlerische Material nicht auf eine Leerstelle reduzieren läßt. Die Erkenntnis der Unmöglichkeit der Reduktion taucht bei John Cage in dem Satz „there is no silence“ wieder auf, und sie bildet zudem eine der Grundlagen für die für das Wilsonsche Theater charakteristische Langsamkeit, die plötzlich das kleinste Detail in den Vordergrund rücken läßt.
Vor allem das Aufzeigen der Unmöglichkeit einer künstlerischen Leerstelle wird in Lyotards Ausführungen zur Ästhetik der Postmoderne zum Kennzeichen derselben: Es erscheint als das Konzept des Erhabenen. das sich gerade dadurch auszeichnet. daß es das Kunsterleben nicht mehr auf das Werk und dessen Regelhaftigkeit bezieht, sondern es umlenkt auf die Rezeption. In diesem Zusammenhang erscheint das Erhabene als dasjenige, das sich nicht in das Bewußtsein einschreibt. Damit wird dem Kunstwerk der Objektcharakter genommen, es wird übergeben an den Prozeß seiner momentanen Wahrnehmung.
Der avantgardistische Versuch schreibt das Vorkommnis eines sinnlichen Now in den Zerfall der großen repräsentativen Malerei ein, als ein Now, das nicht dargestellt werden kann, gleichwohl aber darzustellen bleibt. Wie der Mikrologie ist es der Avantgarde nicht um das zu tun, was dem ,Subjekt‘ wiederfährt, sondern um das Geschieht es?, die Blöße. Und in dieser Weise gehört sie der Ästhetik des Erhabenen zu.55
Insbesondere der immaterielle Aspekt von Kunst, der diese radikal auf die Rezeptionssituation beschränkt, findet sich auch bei Gertrude Stein, in ihrer unnachahmlichen Art ausgedrückt, wieder:
The composition is the thing seen by everyone living in the living they are doing, they are composing the composition that at the time they are living (…) composition is not there, it is going to be there.56
Durch die Verlegung des ästhetischen Aspektes in die Rezeption und durch die Radikalisierung der Gegenwart, kann Steins ästhetische Theorie einen Effekt, den Walter Benjamin in seinen Reflexionen über Kunst und Massenreproduktion beschreibt, ausschalten: Indem moderne Reproduktionstechniken die unendliche Reproduktion ermöglichen, wird das Kunstwerk eines, das seine Reproduktion schon zur Bedingung seines Entstehens macht, das Kunstwerk wird ein „auf Reproduktion angelegtes Kunstwerk“,57 wie es Benjamin formuliert. Indem Stein die „repetition“ zur Bedingung ihres Kunstwerkes macht, trägt sie den Techniken moderner Massenreproduktion und -verfertigung Rechnung; dadurch aber, daß sie das Kunsterleben radikal in die Rezeption verlegt, dementiert sie die Universalität moderner Reproduktionstechniken und erhält so die – wenn auch nicht faßbare, nicht darstellbare, in Lyotards Terminologie erhabene – Einzigartigkeit des Kunstwerkes.
Zwei weitere Aspekte, die sich aus der avantgardistischen Privilegierung der Gegenwart ergeben, sind das Vermelden semantischer Tiefe und die Betonung von Signifikationsprozessen, welches zu einer Aufwertung der Oberfläche von Sprache führt, da die Worte nicht mehr hinter sich auf eine tieferliegende Bedeutung verweisen. Da auch die syntaktische Struktur aufgebrochen ist, fehlt es den Texten – räumlich gesprochen – an Tiefe, das Auge des Lesers kann gezwungenermaßen nur an deren Oberfläche verweilen. Dadurch treten die multimedialen und multisensorischen Aspekte in den Vordergrund.
Als Konsequenz aus der Oberflächenästhetik und der fehlenden Semantik folgt für die Texte Steins, daß sie ein Schreiben gegen das Gedächtnis darstellen. Und damit steht sie fast alleine in ihrem avantgardistischen Element: Während, mit Ausnahme von Finnegans Wake, das sich am entgegengesetzten Ende der Experimentierskala befindet, alle anderen Texte der Moderne, trotz ihrer durch übereinandergeschichtete Sinnebenen, Fragmentierung und intertextuelle Vieldeutigkeit bewirkten Komplexität, noch narrativ erfaßbar sind, vermeiden Steins Texte jedes kulturelle Gedächtnis.58 Statt dessen suchen sie auf einer tabula rasa zu beginnen, die aktuelle Gegenwart und darin das Kunstwerk zu erleben. Diese Intention unterscheidet Gertrude Steins experimentelle Texte von den Fragmentierungen der Moderne dahingehend, daß sie nicht mehr das Herausschreiten aus den Traditionen thematisieren, sondern daß sie die Möglichkeit von Kunsterfahrung und deren Entstehungsbedingung ausloten wollen. Diesen Sachverhalt schildert Stein auch in ihrem Essay „Plays“, auf den später noch im Zusammenhang mit dem Theater Robert Wilsons eingegangen wird.
It is in short the inevitable problem of anybody living in the composition of the present time, that is living as we are now living as we have it and now do live in it.
The business of Art as I tried to explain in Composition as Explanation is to live in the actual present, that is the complete actual present, and to completely express that complete actual present.59
Gertrude Steins Forderungen beinhalten die Negation kultureller Tradition, das Vermelden intertextueller Bezüge, sowie die Demontage linearer Signifikation: Ihre Texte nähern sich der Grenze von Textualität überhaupt an, die sie sogar stellenweise überschreiten. Die Überschreitung wird seitens der neueren Stein-Kritik zwar gesehen, jedoch unterschiedlich beurteilt. Jürgen Schlaeger bezeichnet die Texte Gertrude Steins als „Endpunkte der Moderne“, als eine „Literatur der Sprachlosigkeit“,60 die überhaupt keinen Sinn mehr vermitteln kann. Seitens feministischer oder der französischen, an Barthes-Kristeva-Derrida orientierten Kritik, wie sie DeKoven, Walker und Chessman vertreten, wird das Schreiben Steins als eine Unterwanderung herrschender bzw. patriarchalischer Sprachstrukturen begriffen, allerdings variieren die Metaphern, die hier zur Verdeutlichung herangezogen werden: Kristeva beschreibt die Überschreitung der textuellen Grenze als Rückkehr zur präödipalen Mutter, denn jetzt erschiene in den Texten der bislang verdrängte Körper der Mutter und das an diesen gebundene heterogene Lusterleben. Bei Roland Barthes ist die Polarisierung nicht geschlechtsspezifisch vorgenommen, jedoch sieht auch er in der Unterwanderung linearer Textstrukturen ein erotisches Lusterleben, wie er es in The Pleasure of the Text, zwar charmant, jedoch weniger nachvollziehbar, als jouissance darlegt:
In short, the word can be erotic in two opposing conditions, both excessive: if it is extravagantly repeated, or in contrary, if it is unexpected, succulent in its newness (in certain texts, words glisten, they are distracting, incongruous apparitions. (…). In both cases, the same physics of bliss, the groove, the inscription, the syncope: what is hollowed out, tamped down, or what explodes, detonates.61
Fraglos ist in allen Ansätzen präsent, daß Gertrude Stein die lineare oder diskursive und wohl auch die literarische Sprache in ihren Experimenten bis an deren Grenzen getrieben hat. Die Beurteilung dessen jedoch, was jenseits der Grenzen erscheint, soll hier nicht begrifflich festgelegt werden. Vor allem scheut sich die Verfasserin, die seitens der Texte erreichte Offenheit durch die Belegung mit Begriffen wie Weiblichkeit oder gar weibliche Ästhetik zu schließen und dem Steinschen Experiment durch die Rückführung in eine diskursive Logik wieder dessen Sprengkraft zu nehmen. Als vorläufige Hypothese jedoch läßt sich formulieren, daß Gertrude Steins Texte eine Grenze der Moderne erreichen, die sich in der Gattung Literatur nicht weiter hinausschieben läßt. Da ihre Texte deutlich über ihren textuellen Charakter hinausweisen, da sie auch visuellen und klanglichen Ansprüchen genügen, können sie fast schon als „Textobjekte“ bezeichnet werden, die für bildende Künstler der nachfolgenden Generationen von großer Bedeutung sind. Denn wie oben angeführt. lassen die experimentellen Aufbrüche in der Sprache etwas erscheinen, das nicht faßbar ist, und das Jean Francois Lyotard gerade deswegen als Kennzeichen der Postmoderne bewertet.
Die Postmoderne wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, nicht aber um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt. (…) Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, daß es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann.62
Angela Krewani, in Angela Krewani: Moderne und Weiblichkeit. Amerikanische Schriftstellerinnen in Paris, Universitätsverlag C. Winter, 1993
Wow,
ich bin da.
Ich auch,
sagt mein Hund.
I am I because my little dog knows me, sagt Gertrude Stein.
Margret Kreidl
Zwiesprachen: Swantje Lichtenstein spricht über Gertrude Stein am 24.1.2017 9m Lyrik Kabinett, München
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Gertrude Stein
Brigitte Schwens-Harrant: Gertrude Stein: the Making of Sprache
Die Furche, 21.7.2021
Brenda Haas: Gertrude Stein – Eine komplexe Pionierin
dw.com, 27.7.2021
Lorina Speder: Gertrude Stein hat früh den Begriff von Queerness geprägt
queer.de 3.2.2024
Nuria Langenkamp: Die Frau, die Picasso und Hemingway gross machte
Neue Zürcher Zeitung, 10.2.2024
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