Gesualdo Bufalino: L’amaro miele / Bitterer Honig

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gesualdo Bufalino: L’amaro miele / Bitterer Honig

Bufalino-L’amaro miele / Bitterer Honig

TRÄGHEITEN

Mit Blicken in die Luft, Ohren aus Wachs,
versteinert entlang der Allee,
ein Volk von Marionetten;
die Fliege die flog fliegt nicht mehr.
Behaarung, Nägel, Flechten, haben zu sprießen aufgehört,
von der Lippe der Statue hängt matt ein Tropfen,
die Sonnenuhr auf dem Verputz
vertauscht Mittag und Mitternacht.
Ein Herz hat sich angehalten.

 

 

 

„Diese Verse,

auf Makulaturpapier geschrieben, mit einer Perry-Feder, vor vielen Jahren: fast zufällig haben sie die regelmäßigen Flammen zu Neujahr überlebt, denen es der Autor einst überließ, das Überflüssige und gehaßte aus seinen Schubladen zu beurteilen.“ (Aus dem Nachwort von Gesualdo Bufalino in der italienischen Ausgabe bei Einaudi.)
Zum Titel gibt es im Italienischen die beiden korrespondierenden Redewendungen „dolce come il miele“ / „süß wie der Honig“ und „dopo il dolce vien l’amaro“ / „Nach der Süße folgt die Bitternis“ oder „Das dicke Ende kommt noch“. Die Poesie des Sizilianers Bufalino ist auch in diesem Punkt unbestechlich. Mit einem wie doppelten Blick ist diesen Gedichten das dicke Ende längst eingeschrieben. Ihre Reihenfolgen erinnern an die von Tränen und Alpträumen, denen der Schlaf ausgetrieben wurde. Das führt mitunter zu Hellsicht, in jedem Fall verweist es auf eine weitere Bedeutung des Titels: Bitterer Honig als Medizin.

Wolfgang Schlenker, Druckhaus Galrev, Frühjahrkatalog 1995

 

Anmerkung zur ersten Auflage (1982)

Diese Verse auf Makulaturpapier geschrieben, mit einer Perry-Feder, vor vielen Jahren, fast zufällig haben sie die regelmäßigen Flammen zu Neujahr überlebt, denen es der Autor einst überließ, das Überflüssige und Gehaßte aus seinen Schubladen zu beurteilen. Gealtert wären sie rührselig geworden, wie die Rollen eines Pianola oder alte Photographien; wahrscheinlich hat es keinen anderen als einen privaten Wert, diese Verse ans Licht zu bringen, damit sie für einen Moment lächeln machen, wo ein Poltergeist der Jugend die Lippen noch dazu befähigt. Der wird euch wiederfinden und wiedererkennen können, im Zusammenhang mit den Relikten seiner alten, an der Küste des Mittelmeers verlorenen Liebesmühlen, mit der Erinnerung an eine lange Erwartung und Überredung des Todes, im lastenden Schatten des Krieges; und der schnellen Freuden, der langen Einsamkeiten nach der Rückkehr in den Süden.

 

Der Sizilianer Gesualdo Bufalino war bereits 61 Jahre alt,

als er 1981 sein erstes Buch, den Roman „Das Pesthaus“ veröffentlichte. 1982 folgte der Lyrikband BITTERER HONIG, der jetzt in einer deutsch-italienischen Ausgabe in der Edition Galrev erschienen ist.

Nach weiteren Romanveröffentlichungen gehört Gesualdo Bufalino inzwischen zu den herausragenden italienischen Prosaautoren der Gegenwart. Und auch die Gedichte, die teilweise schon vor Jahrzehnten („…im lastenden Schatten des Krieges“) entstanden sind, weisen ihn mit ihrer großen sprachlichen Präzision und kraftvollen Metaphorik als einen Poeten von hohem Rang aus. Diese Verse, so lässt uns Bufalino in einer Anmerkung zu seinem Buch wissen, hätten fast zufällig die regelmäßigen Flammen zu Neujahr überlebt, denen er es einst überlassen habe, das Überflüssige und Gehasste aus seinen Schubladen zu beurteilen. Dem Zufall sei Dank! Er hat dazu beigetragen, dass wir nun auch in Deutschland einen bemerkenswerten Lyriker entdecken können.

Axel Kutsch, Das Gedicht 3/1995

Die Wolken bauen eine Mauer

− Meide das Abstrakte: Gesualdo Bufalino in seinen frühen Gedichten. −

Bitterer Honig, der Titel einer Gedichtsammlung von Gesualdo Bufalino, ist ein Oxymoron, ein „Sauersüß“. So heißt die rhetorische Figur, bei der das Adjektiv dem Substantiv, zu dem es gehört, widerspricht. Aber „bittersüß“ ist eigentlich kein Widerspruch, sondern, wie wir spätestens seit der Einführung der Schokolade wissen, eine gute Mischung, und der Autor mit dem Namen der beinahe schon selbst ein Gedicht ist, weiß das auch. Er hat, bevor er mit sechzig zum Dichter und Romanautor wurde, der jüngst auch in dieser Zeitung zu Wort kam, Lateinisch und Italienisch unterrichtet. Außerdem ist er Sizilianer mit allen besonderen Süßigkeiten und Bitterkeiten, die das mit sich bringt. Seine Melancholie ist ebenso abgründig, wie seine Liebeserinnerungen hinschmelzend und leidenschaftlich sind. Der Mischung gemäß ist der erste Zyklus dieser Sammlung mit „Annalen des Übels“ überschrieben (aber wie mild melodisch klingt das auf italienisch: „Annali del malanno“!), der zweite Teil aufmunternd, wie ein Scherzo, mit „Das kurze Fest“.
Es sind, wie Bufalino selbst im Vorwort berichtet, frühe Gedichte, die der zu jedem Neujahr veranstalteten Verbrennung entgingen, und man darf vermuten, daß sie einer Reifezeit angehören, die schon vieles – die Teilnahme am letzten Krieg und Sanatoriumsjahre wegen Tuberkulose – verarbeitet hatte. Sie überwinden nicht die Schule, die in Italien seit Ungaretti, Montale und Quasimodo herrscht, die „hermetische“, aber sie führen sie mit großem Kunstverstand weiter, in der Annäherung an das Lakonische der lateinischen Vorfahren und in der Hochschätzung für das Einzelwort, so daß in zehn oder fünfzehn Versen schon alles gesagt ist. Auch Sonette mit ihren vier Strophen und vierzehn Versen finden sich, reimlos oder mit wie zufällig einander treffenden Zusammenklängen. Befolgt wird auch das Hauptrezept der Hermetiker, die Dunkelheit. Man versteht nicht auf den ersten Blick und erst recht nicht beim ersten Hören. Nachdenken wird verlangt.Man liest solche Gedichte nicht, ohne sich auszukennen. Man muß wissen, daß Boreas der Nordwind ist, aber als solcher auch ein Halbgott und Machthaber, der „die Wolke wie eine Mauer errichtet“, und es zittern die Armstümpfe der Bäume, und es wird zu Kohle der Tierkreis hoch über uns. Das Gedicht hat den Titel „Malonotte“, „Bösnacht“, und bedeutet mehr als Schlaflosigkeit, nämlich Unglück und Verwünschung. Es fährt fort: „Wie viele Wappenzeichen der Trauer, wie viel Aufzucken eines Engels oder eines Blitzes und wie das Auge der Nacht sich bewegt: von Steinen geschwollen wird der Schoß der Mütter sein, wir hören, wie sie den Schatten schelten, der unser Herz umklammert, wie sie mit schwieligen Füßen Tritte austeilen gegen die Brandungswelle, die sich naht.“
Das lyrische Grundgesetz, dem Bufalino gehorcht, lautet: Setze alles in Bewegung, verbanne die Abstrakta, laß die Welt tanzen, liebe die Gegenstände. Dafür als Beispiel ein Acht-ZeilenGedicht, das auch im Original den deutschen Teil „Eine kleine Nachtmusik“ trägt: „Die Musik kommt von den fernen Terrassen / wir liegen im Sand / die Haare wirr und glückselig, / zwischen den Mauern der weißen Flut, / überrascht, zu zweien zu existieren / unter der sanften Decke der Luft, / entfleischlicht und fleischlich, vollkommen / wie zwei nackte Palmen, vereint.“
Wahrhaftig, schade wäre es gewesen, wenn Bufalino das verbrannt hätte! Aber schade ist es auch, wie der Übersetzer das Gedicht zugerichtet hat (Gott sei Dank kann man mit dem Original vergleichen). „Bianco diluvio“ übersetzt er mit „Regenschauern“ (als ob die Liebenden dann so ruhig beieinanderblieben) und „Aria“ statt mit „Luft“ mit „Musik“. Man erfährt über ihn, dass er 1964 geboren ist, aus dem Englischen und Italienischen übersetzt und Lyrik sowohl wie Prosa schreibt. Er trifft manchmal den Ton Bufalinos gut, indem er „hart“ übersetzt, nicht „poetisch“, aber manchmal stellt sich auch heraus, daß er zu wenig Italienisch kann, wenn er etwa „minuto“ mit „Minute“ statt mit „klein“, „winzig“ wiedergibt und den Groll des Dichters sozusagen mit der Stoppuhr mißt oder wenn er den zwischen vier Wänden („canti“) Eingesperrten zwischen vier Gesänge (auch „canti“) platziert. Bekanntlich hassen Dichter das Ungefähre, dieser Übersetzer probiert es hingegen mit Vergnügen aus. Es ist wie bei der modernen Musik: Für den, der keine Ohren hat, sie zu hören, klingt alles falsch; da kommt es doch auf eine zusätzliche falsche Note gar nicht an.
Im übrigen ist das Bändchen – keine hundert Seiten – hübsch gedruckt, mit einem Bildnis des hochgetürmten sizilianischen Städtchens Comiso versehen, aus dem Bufalino kommt, und für den, der sich ins Italienische mit Hilfe der deutschen Übersetzung und eines guten Wörterbuches einliest, ein Leckerbissen.

Werner Ross, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.7.1995

Das Palastgefängnis eines Poeten

– Die Kleinstadt Comiso liegt am Rand – von Sizilien, von Italien, von Europa. Doch für den Schriftsteller Gesualdo Bufalino war ihre Piazza „der einsame Pol des Universums“: Höchste Zeit, ihn nicht nur dort zu feiern. –

Einen Flughafen hat die kleine Stadt auch. Schon vor Corona war dort wenig los, kaum eine Handvoll Flüge am Tag – nach Mailand-Malpensa, Frankfurt-Hahn oder Brüssel-Charleroi. Der Aeroporto di Comiso, der seit 2014 nach einem Mafiaopfer Pio La Torre heißt, hat bessere Zeiten gesehen, die eigentlich schlechtere waren: 1937 im Faschismus erbaut, wurde er 1981 von der Nato als Stützpunkt ausgewählt, die Amerikaner stationierten 112 Marschflugkörper mit atomaren Gefechtsköpfen, die Friedensbewegung protestierte mit Demonstrationen und Sitzblockaden. Nach dem Ende des Warschauer Pakts wurde die militärische Nutzung stark eingeschränkt und 2002 aufgegeben. Comiso blieb ein Synonym für Cruise Missiles. Wie Seveso für Dioxin.
Schon 1988 schrieb Gesualdo Bufalino:

Es ist möglich, ja wahrscheinlich, dass die Mächtigen wieder vernünftig werden und Comiso morgen aus Cruisetown zurückkommt, um sich Comiso zu nennen.

Inzwischen heißt Comiso wieder nur noch Comiso, und Bufalino hat es auf die literarische Landkarte gesetzt. Immer wieder hat er, einer der bedeutendsten Schriftsteller Italiens im zwanzigsten Jahrhundert, sich der Stadt schreibend zugewandt, sein Leben lang ist er von ihr nicht losgekommen. In Comiso wurde er 1920 geboren, etwas außerhalb ist er 1996 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt.
Nur zum Studium, zunächst in Catania, später in Palermo sowie dazwischen als Soldat im Zweiten Weltkrieg und anschließend für den Aufenthalt in einem Sanatorium, wo er eine Lungenschwindsucht auskurierte, hat Bufalino die Stadt für längere Zeit verlassen. Seine Sesshaftigkeit überwand er, indem er sich in die Gegenwelt der Literatur zurückzog. Schon für das introvertierte, wenig kontaktfreudige Kind wurde die kleine Bibliothek des Vaters, eines Eisenschmieds, zum Fluchtort.
Comiso liegt am Rand von Sizilien, von Italien, von Europa. An vielen Rändern. Auch am Rand der „Val di Noto“ im Südosten der Insel: Von dem Erdbeben, das 1693 Noto, Modica und Ragusa zerstörte, wurde Comiso nicht so verheerend getroffen, und so fiel der im warmen gelben Kalkstein der Gegend gehaltene Wiederaufbau nicht so prächtig aus. Auch am Rand des Küstenstreifens: Nach Marina di Ragusa, wo die Feriensiedlungen aus dem Boden schießen und die Immobilienpreise Mailänder Niveau erreichen, sind es gut zwanzig Kilometer.
Abgehängt? Auf den ersten Blick sieht es so aus, der Haushaltswarenladen auf der Ecke ist im Ausverkauf, das Reisebüro bereits dicht, überall Schilder, die „Vendesi“ und „Affittasi“ rufen, aufgegebene Palazzi, deren Verfall oft weit fortgeschritten und kaum mehr aufzuhalten ist. Um die Mittagszeit eine Bar zu finden, die geöffnet hat, ist nicht ganz leicht, die Geschäfte der Bestatter laufen besser als die der Makler. Wer das Fremdenverkehrsbüro der Stadt aufsucht, wird freudig begrüßt und bekommt eine kunsthistorisch solide Broschüre aus dem Jahr 2010 in die Hand gedrückt.
Für Gesualdo Bufalino liegt Comiso nicht am Rand, im Gegenteil: „Die Mitte unserer Piazza ist das weit offene Herz der Windrose, der Nabel und der einsame Pol des Universums“, schwärmt er. Aber „nicht, weil dieser Ort schöner oder humaner oder zivilisierter wäre als andere, sondern weil wir gerne glauben, dass dem so ist, und uns einbilden, dass jeder das glaubt. Trotz des bitteren jüngsten Ruhms“ – und damit meint er den Militärflughafen – „der uns bedroht.“ Bufalino sieht die Stadt auf der Grenze zwischen Johannisbrotbäumen und Feldern, zwischen den Ausläufern der Hybläischen Berge und der Ebene um Vittoria, dem „Königreich der Gewächshäuser, deren weiße Plastikbahnen, wenn die untergehende Sonne sie berührt, wie weit entfernte Reisigbündel aufflammen“. Aber er weiß, wie schwer Comiso zu erreichen ist, „um Himmels Willen nicht mit dem Zug“, denn dann dauere die Fahrt, und das ist nur eine kleine Übertreibung, „von Catania fast länger als die von Catania nach Rom“.
Schon die Anreise kann ein Ereignis sein:

Nehmen Sie die von Osten, von Ragusa aus, wenn Sie die Hybläischen Berge hinuntersteigend von Haarnadelkurve zu Haarnadelkurve eine Landschaft von seltener Schönheit bewundern wollen, mit dem Meer von Gela in Sichtweite und halb Ostsizilien zu Füßen, grün und braun, soweit das Auge reicht, unter einem ungemein zarten Himmel.

Der Weg zu Bufalino führt über Comiso. Und umgekehrt. Die Recherchen und Reflexionen, die er vor den virtuosen Romanen veröffentlicht hat, vermitteln poetische Nahaufnahmen auf Geschichte, Kunstschätze und Alltag der Stadt.
Gesualdo Bufalino, blass, hager, hochgewachsen, kahler Schädel, dicke Brille, war eine auffällige Erscheinung und ein scheuer Autor. Fast wäre ihm gelungen (und damit hat er später gehadert oder auch nur kokettiert), was Giuseppe Tomasi di Lampedusa mit dem Gattopardo zum tragischen Schicksal wurde: dass er seinen literarischen Erfolg nicht mehr erlebt. Nachdem Bufalino zwischen 1946 und 1948 Lyrik und Prosa in Zeitschriften publiziert hatte, führte er ein unscheinbares Leben als Gymnasiallehrer; in der sieben Kilometer entfernten Nachbarstadt Vittoria unterrichtete er bis zur vorzeitigen Pensionierung 1976, die ihm als Kriegsteilnehmer zustand, Italienisch und Geschichte. Drei Jahrzehnte lang schrieb er für die Schublade.
Doch dann hat er sich verraten: Für den Fotoband Comiso ieri, der um 1900 entstandene Amateuraufnahmen des Lebens von Bauern und Bürgern ans Licht holte, verfasste er ein langes Vorwort. Dieser Text fiel der Verlegerin Elvira Sellerio, die ihn 1978 in einer kulturgeschichtlichen Reihe veröffentlichte, und ihrem Berater, dem Schriftsteller Leonardo Sciascia, auf: „Wer so schreibt, hat einen Roman in der Schublade“, war der sich sicher. Die beiden hakten nach, Bufalino stritt es ab und bot Übersetzungen aus dem Französischen an. Erst 1981 wurde er, inzwischen mit Sciascia befreundet, geständig: Seit 1950 hatte er an dem Roman Diceria dell’untore (deutsch: Das Pesthaus, 1989), seinem „Zauberberg“, gearbeitet, in dem er vom Leben am Rande des Todes in einem Lazarett für Lungenkranke oberhalb von Palermo kurz nach Kriegsende erzählt.
Sein spätes Debüt machte ihn schlagartig bekannt, es wurde mit dem Premio Campiello ausgezeichnet und 1990 verfilmt. In kurzem Abstand folgten weitere Bücher, bemerkenswert verschieden in Stil und Genre: Der Lyrikband Bitterer Honig (1982) in der hermetischen Tradition von Ungaretti, Montale und Quasimodo, der „Die Träume der Erinnerung“ untertitelte Roman Mit blinden Argusaugen (1984), die Erzählsammlung Der Ingenieur von Babylon (1986), der historische Roman Die Lügen der Nacht (1988) und der verwirrspielerische Krimi Klare Verhältnisse (1991), um nur die auf Deutsch (bei Suhrkamp [außer Bitterer Honig bei Druckhaus Galrev]) erschienenen Titel zu nennen.
Dass Bufalino sich im gleichen Jahr als Schriftsteller zu erkennen gab, in dem die Nato den Flugplatz von Comiso beanspruchte, dürfte Zufall sein und hat doch Symbolwert. Die Übernahme musste er als Fortsetzung der Fremdbestimmung Siziliens verstehen, gegen die er Schriftsteller anschrieb: Seine Archäologie des Alltagslebens entdeckt ein anderes Comiso als das, für das die Stadt fortan in der Welt bekannt und gehalten wurde.
Museum der Schatten – Geschichten und Bilder aus Sizilien hieß das erste, zunächst wenig beachtete Buch von Bufalino, das 1982 in Deutschland (bei Wagenbach) erschien. Seine Miniaturen stellen verschwundene Berufe (wie Lampenanzünder, Lupinenverkäufer oder Sieber), Orte von einst, alte Redewendungen und Porträts vor – eine Sammlung von Relikten, materiellen wie immateriellen, die nicht mehr gebraucht werden, aber die Wirklichkeit ärmer machen und es wert sind, in Erinnerung gehalten zu werden. Bufalino ist kein Nostalgiker, sondern ein Chronist der verlorenen Zeit und Zeuge des Verschwindens, der sehr genau die Veränderungen einer Welt registriert, die immer einheitlicher, immer gleicher wird:

Wenn ich mich umschaue, sehe ich, dass die jungen Leute der neuen Generationen ihren Gleichaltrigen in Tokio oder Miami ähnlicher sind als ihren leiblichen Vätern und Müttern. Ein Homogenisierungsprozess ist im Gange, unaufhaltsam. Das Sizilien meiner Kindheit, das der kleinen Läden und Werkstätten und Laternen, gibt es nicht mehr – außer im nekrophilen Gejammer der Überlebenden. Im eigentlichen Sinne gehöre ich nicht zu ihnen. Obwohl auch ich den überstürzten Schritt der Zeit bedaure und an der gegenwärtigen Lage nicht viel Gefallen finde.

So die Analyse in dem Sizilien-Essay „Das Land der Exzesse“ (1992). Bufalinos plötzlicher Ruhm, seine immense Bildung und intellektuelle Unabhängigkeit machten ihn für die „terza pagina“, das Feuilleton, interessant; regelmäßig schrieb er für Il Giornale von Indro Montanelli und bald für alle großen Zeitungen. Aber er blieb am Rande, in Comiso.
Schwarzes Loch, Falle, Heiligtum, Höhle, Bunker, Schutzbauch, Stahllunge, Palastgefängnis: Das sind einige der Attribute, mit denen Bufalino sein ambivalentes Verhältnis zu Cosimo bekundet, das ihm, so an anderer Stelle, wie ein lieber Mensch ans Herz gewachsen sei. Er bezeichnet es als „città teatro“, als Theaterstadt, und vergleicht es mit einem „umherziehenden Thespis-Wagen, der wie ein Fischerboot von Donnalucata auf der ersten trockenen Bodenwelle gestrandet ist. Das erklärt die Luft von wankelmütiger Erfindung und szenischer Improvisation, die man überall spüren kann.“ Die Topographie der Stadt, „unruhig und pittoresk in ihrer Verflechtung von Auf und Ab erscheint wie ein bereits arrangiertes Szenario, wie ein Angebot für die Überraschungen und Peripetien des Schauspiels“. Auch die (noch nicht) verschwundenen Typen des Alltags findet Bufalino hier und stellt sie in Szenen vor, die er nach dem griechischen Dichter Herodas Mimiamben nennt: den Verkäufer unter freiem Himmel, den Trinker, den Hausierer, den Heiratsvermittler, den Bettler, den Liebhaber. Theater des Lebens, das zu besonderen Anlässen, zu religiösen Festen und im Wahlkampf, dramatisch anschwillt.
Für acht Jahre hatte Bufalino die Rolle des öffentlichen Intellektuellen angenommen, dann fühlte er sich dem „ständigen Präsentsein“ nicht mehr gewachsen und kündigte seinen Rückzug an: „Ich befinde mich in einer Phase des Des-Engagement. Sie sprechen mit einem Menschen, der zurücktreten will; auch von seiner Rolle als Schriftsteller“, gestand er 1989 in einem Interview:

Ich glaube, ich bin einfach nicht imstande, die Mechanismen zu begreifen und zu erklären, die die Irrationalität, die Gewalttätigkeit unserer Welt beherrschen. Ich muss mich da raushalten.

Cosimo hat sich verändert, seit Bufalino es porträtierte. Die Zahl der Einwohner ist sogar leicht gestiegen, auf etwa 31.000, aber viele sind aus dem historischen Zentrum in Neubauten am Stadtrand gezogen. Ganze Straßen wirken verwaist und aufgegeben. Aber Bufalino ist präsenter denn je. An der Piazza delle Erbe, etwas unterhalb der Piazza Fonte Diana mit der Quelle, um die herum im siebten Jahrhundert vor Christus die erste Siedlung entstanden ist, wurde im alten Fischmarkt, einem neoklassizistischen Bau von 1867, der ähnlich einem Kreuzgang einen großen Innenhof einfasst, die Fondazione Bufalino untergebracht – Tür an Tür mit dem Fremdenverkehrsbüro.
Ihr Schauraum ist die Bibliothek des Schriftstellers, ein herrschaftlicher Saal, in dem, nach Nationalliteraturen und Sachgebieten geordnet, zehntausend Bände stehen, dazu siebenhundert Schallplatten des Charlie-Parker-Bewunderers, 350 Videokassetten des Stummfilm-Enthusiasten sowie die vielen Übersetzungen seiner Werke. Den meisten Platz nimmt die französische Literatur ein: Baudelaires Blumen des Bösen, die Bufalino im Alter ins Italienische übersetzte, hatten schon den Sechzehnjährigen derart fasziniert, dass er sie, in Ermangelung einer Originalausgabe, ins Französische zurückübertragen hat. Die elegante Portikus der Anlage war einer seiner Lieblingsorte, jeden Tag traf er sich hier am späten Vormittag mit Freunden; schon als Kind, als der Markt noch in Betrieb war, kam er vorbei, um alte Zeitungen, in die der Fisch eingeschlagen wurde, zu stibitzen und darin zu lesen.
Die Bibliothek ist auch Forschungsstätte, sie ediert eine Schriftenreihe und vergibt einen Preis für wissenschaftliche Arbeiten zu Bufalino. Alle Handschriften der Bücher, die im Manuskripten-Zentrum an der Universität Pavia aufbewahrt werden, sind auf Mikrofilm vorhanden und digital gespeichert. Giovanni Iemulo, der sie leitet, hat als junger Mann in der Stadtbibliothek mit dem Schriftsteller zusammengearbeitet. Dass in der Corona-Krise Das Pesthaus fast so stark nachgefragt werde wie Die Pest von Albert Camus, beweise, so sagt er, dessen Aktualität; dagegen sei Bufalinos Kritik der Massenkultur, die regionale Unterschiede und Eigenheiten nivelliert, in Italien anders als in Deutschland, wo ihm der Hamburger Romanist Martin Neumann eine große Studie widmete, noch kein Thema.
Die Stiftung ist Ausgangspukt eines literarischen Spaziergangs, der auf Bufalinos Spuren durch Comiso führt: zum frisch renovierten Geburtshaus in der Via Principe di Carignano 27, wo die Familie neben der Werkstatt des Vaters in einem Basso, das nur von der Straße her Licht hatte, wohnte, zur Grabstätte auf dem Friedhof oberhalb der Stadt, deren trapezförmiger Stein mit der Inschrift „Hic situs luce finita“ aus der Reihe der neoklassizistisch aufgedonnerten Mausoleen tanzt, auf die Piazza mit dem Dianabrunnen, an die archäologische Stätte mit der römischen Therme, zu dem (längst geschlossenen) Kino, in dem er viele Abende verbrachte, zu seiner Grundschule, die in ein Wohnhaus umgewandelt wurde, zum Kastell, das in seinen Kinderaugen ein verwunschenes Schloss wurde, und nicht so sehr zu den beiden mächtigen Barockkirchen als zu der kleinen Kirche Francesco all’Immacolata, die ihn früh begeisterte, „mit dem edelsten Beispiel einer Feierlichkeit, die mich noch heute beeindruckt“, einfach und nackt, einschiffig, mit offener Fachwerkdecke, spätes dreizehntes Jahrhundert. Äußerlich unscheinbar, steht sie mit byzantinischen Elementen in der Kuppel, gotischen Bögen und der arabischen Verzierung der Stalaktiten auch für die vielen Einflüsse, die in der Kultur Siziliens verschmelzen.
Bufalino schätzte an Comiso, dass es ihn vom Lärm der Außenwelt abschirmte. Längst hat die Stadt das umgekehrt und ihn zu ihrem Aushängeschild gemacht. Über dem Eingang zum alten Fischmarkt hing kürzlich zum hundertsten Geburtstag ein überlebensgroßes Porträt, das ihn zeigte, wie ihn die Menschen hier kannten: Hut, Sonnenbrille, Krawatte. Ein Festprogramm war vorbereitet – mit Autorengesprächen, Konzerten, Filmen und Podiumsdiskussionen. Doch die meisten Veranstaltungen konnten nur als Streaming stattfinden. Bufalino hätte das womöglich gefallen, nicht die Pandemie, aber diese Auswirkung, zurückgezogen und unbehelligt, wie er in Comiso gelebt hat. Auf ein Neues nun in diesem Jahr? Am 14. Juni steht Bufalinos fünfundzwanzigster Todestag an.

Andreas Rossmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.2.2021

 

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Gesualdo Bufalino wird am 15. November 1920 geboren. Der Tag und die Geschichte.

 

Gesualdo Bufalino: Erinnerungen.

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