Giuseppe Ungaretti: Ein Menschenleben / Zeitgefühl

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Giuseppe Ungaretti: Ein Menschenleben / Zeitgefühl

Ungaretti-Ein Menschenleben / Zeitgefühl

STERNE

Wieder brennen in der Höhe die Märchen.

Werden fallen mit den Blättern im ersten Wind.

Doch ein anderer Hauch,
Und neues Funkeln kehrt zurück.

 

 

 

Zu diesem Band

Der vorliegende Band 2 der Werkausgabe Giuseppe Ungaretti bietet Ungarettis Gedichtbände der mittleren Zeit: Sentimento del tempo (1919 bis 1935) und Il Dolore (1937-1946). Der italienische Text und die Übersetzung folgen der Ausgabe „letzter Hand“ Vita d’un uomo – Tutte le poesie, Milano (Mondadori) 1969 (I Meridiani). Allerdings kann und darf eine ernsthafte Werkausgabe im Falle Giuseppe Ungarettis sich nicht darauf beschränken, einfach nur die „definitiven“ Textfassungen darzubieten. Wie kaum ein zweiter Dichter hat Ungaretti von Veröffentlichung zu Veröffentlichung an seinen Gedichten weitergearbeitet, gefeilt, geändert, überarbeitet, manchmal nur geringfügig, bisweilen in einschneidender Weise. Das betrifft nicht nur die Veröffentlichung von Gedichten in Zeitschriften oder Anthologien, das trifft auch für die Gedichtbände selbst zu, die von Neuauflage zu Neuauflage Unterschiede aufweisen. Wie sehr Ungaretti selbst die Vorstufen und Varianten seiner Gedichte als wesentlichen Bestandteil seines Werkes ansah, geht aus dem Vorschlag hervor, den er 1942 Giuseppe De Robertis machte, seine Gedichte zusammen mit den Varianten zu publizieren, woraus dann der dritte Band der Werkausgabe wurde, die seit 1942 im Verlag Mondadori unter dem Titel Vita d’un uomo erscheint (Poesie disperse, con l’apparato critico delle varianti di tutte le poesie e uno studio di Giuseppe De Robertis, 1945 u.ff.). Der Apparat der Varianten ist auch integraler Bestandteil der Gesamtausgabe von 1969 (S. 585-860). Inzwischen sind auch kritische Ausgaben der Allegria und des Sentimento erschienen (1982 und 1988), die auch die Autographen zugänglich machen.
Naturgemäß kann eine nicht in Italien erscheinende Werkausgabe, die auf Übersetzungen angewiesen ist, keine kritische Ausgabe sein. Doch muß auch sie in gebührendem Umfang die Entwicklungsgeschichte der Gedichte und Zyklen sichtbar machen und im „Spiel der Varianten“ nachvollziehen. Das bedeutet, daß die vorliegende Ausgabe dies zwar nicht vollständig und für sämtliche Gedichte leisten kann, daß jedoch für zentrale Gedichte und Gedichtkomplexe die wesentlichen Fassungen, Vorstufen, Varianten in Original und Übersetzung mitgeboten werden. Für den vorliegenden Band 2 betrifft dies im Hinblick auf den Sentimento del tempo zum einen den Komplex der frühesten Gedichte der Sektion „Prime“, die zunächst 1923 die Ausgabe Il Porto Sepolto einleiten, und zum anderen die Gedichte, die zwischen 1925 und 1930 auf italienisch, teils begleitet von Ungarettis eigenen Übersetzungen ins Französische, oder in direkt auf französisch entstandenen Erstfassungen zuerst in führenden französischen Literaturzeitschriften veröffentlicht werden; es handelt sich hierbei um die „Appunti per una poesia“ in Commerce IV (1925), die „Appunti per una poesia – Notes pour une poésie“ in Commerce XII (1927), sowie die „Hymnes“ in La Nouvelle Revue Française XVI, 183 (1928), die bewußt nicht zerrissen und über die Anmerkungen zu den einzelnen Gedichten verteilt werden, sondern im Zusammenhang im Anhang mitgeteilt werden, um die Struktur und Gesamtanlage der Gedichtfolgen hervortreten zu lassen. Im Hinblick auf Il Dolore betrifft dies zum einen die beiden einleitenden Gedichte auf den Tod des Bruders, „Tutto ho perduto“ und „Se tu mio fratello“, die zuerst 1936 auf französisch entstanden sind, sowie die Gedichte, die 1944 zuerst als ein langes Gedicht von 141 Versen zusammen mit Zeichnungen von Orfeo Tamburi unter dem Titel Piceola Roma erschienen sind. In Ergänzung zum Apparat der Varianten zu Il Dolore in der Mondadori-Ausgabe von 1969 wird in den Anmerkungen außerdem die Erstfassung des Gedichts „Tu ti spezzasti“ (aus dem Jahre 1939) mitgeteilt, die im August 1945 in der französischen Zeitschrift L’Arche erschien (unter dem Titel „Paesaggi“).
Aus dieser Aufzählung wird ein weiteres wesentliches Charakteristikum der vorliegenden Ausgabe deutlich. Wie schon Band 1 lenkt auch der vorliegende Band sein Augenmerk ganz entschieden auf die Tatsache, daß Ungaretti, schon seiner Herkunft nach als in Ägypten (in Alexandria) geborener Sohn italienischer Emigranten aus Lucca, der zudem dort eine französisch geprägte Schulbildung erhalten hat, zum Kosmopoliten bestimmt, immer auch ein Dichter zwischen den Kulturen, zwischen den Ländern, zwischen den Sprachen gewesen ist, insbesondere zwischen zwei Ländern und zwei Sprachen, nämlich Italien und Frankreich, dem Italienischen und dem Französischen. Schon Ungarettis erster Gedichtband Allegria di naufragi in der Ausgabe von 1919 war durch die letzte Sektion „La Guerre“ zweisprachig, Ungaretti hat vor und nach dem Ersten Weltkrieg entscheidende Jahre in Paris verbracht, war mit den führenden französischen Dichtern befreundet, erinnert sei vor allem an Apollinaire und Jean Paulhan, er war mit einer Französin verheiratet und hat, wie bereits angedeutet, vor allem in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, in geringerem Umfang auch in den Dreißigern immer wieder zentrale Gedichte bzw. Gedichtkomplexe zuerst in Frankreich veröffentlicht, selbst übersetzt, ja zum Teil sogar zuerst auf französisch geschrieben. Dem wird im vorliegenden Band dadurch Rechnung getragen, daß er neben den italienischen Texten auch sämtliche für den Zeitraum 1919-1946 relevanten französischen Texte Ungarettis enthält (die Eigenübersetzungen Ungarettis der „Notes pour une poésie“ von 1927, die „Hymnes“ von 1928, darunter mit „Hymne à la mort“ auch ein Text, der nur auf französisch existiert, „Caïn“, 1930 in Le Roseau d’or veröffentlicht, die französischen Erstfassungen der Gedichte „Tutto ho perduto“, „Se tu mio fratello“, insgesamt 16 Texte, dazu die wesentlichen Varianten). Fast alle dieser Texte wurden 1939 auch in die von Jean Chuzeville besorgte erste französische Ausgabe von Gedichten Ungarettis in Buchform (bereits unter dem Titel Vie d’un homme!) aufgenommen. Indem in den nachfolgenden Anmerkungen die (geringfügigen) Varianten dieser Ausgabe vermerkt werden, ergänzt die vorliegende Ausgabe in dieser Hinsicht die kritische Ausgabe des Sentimento, die sie nicht aufgenommen hat. Der Apparat der Varianten zum Sentimento und zum Dolore in der Mondadori-Ausgabe von 1969 nimmt von diesem „französischen“ Ungaretti überhaupt keine Notiz (ebensowenig übrigens die neueren französischen Ausgaben der Gedichte Ungarettis von Jean Lescure (1954) und Philippe Jaccottet (1973).
Die Anmerkungen verzeichnen so lückenlos wie bis zum jetzigen Zeitpunkt bekannt die Drucknachweise für jedes Gedicht des Sentimento und des Dolore (in Zeitschriften und Anthologien; auf die Ausgaben beider Gedichtbände wird nur dann verwiesen, wenn ein Gedicht nicht von der ersten Ausgabe an in dem betreffenden Band enthalten ist; die Ausgaben des Sentimento und des Dolore sind jeweils in der Bibliographie verzeichnet). Die Anmerkungen verzeichnen darüber hinaus die Übersetzungen der Gedichte ins Französische (die für die Übersetzungen der vorliegenden Ausgabe konsultiert wurden) und, soweit vorhanden, ins Deutsche; sie enthalten außerdem von Fall zu Fall Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Gedichte sowie wichtige Vorstufen und Varianten. Vorstufen werden in der Regel als vollständige Texte geboten und stets übersetzt. Den Anmerkungen zu den Gedichten der einzelnen Sektionen sind zum Teil jeweils zusammenfassende Erläuterungen zur Entstehung der jeweiligen Sektion bzw. von Gedichtgruppen, die in die jeweilige Sektion eingegangen sind, vorangestellt. Den Anmerkungen zum Sentimento del tempo sowie zu Il Dolore sind jeweils chronologische Bibliographien zur Entstehung beider Gedichtbände vorangestellt, die einen synoptischen Überblick über die Veröffentlichungslage vermitteln wollen. In Übersetzung werden außerdem Ungarettis Erläuterungen zum Sentimento sowie Alfredo Gargiulos Vorwort zum Sentimento mitgeteilt (beide übersetzt von Angelika Baader).
Ein Gutteil der Gedichte des vorliegenden Bandes wird erstmals ins Deutsche übersetzt. Während Il Dolore bis auf wenige Gedichte vor allem von Ingeborg Bachmann und Michael Marschall von Bieberstein ins Deutsche übersetzt worden ist (Giuseppe Ungaretti, Gedichte, italienisch und deutsch, Übertragung und Nachwort von Ingeborg Bachmann, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1961 (Bibliothek Suhrkamp 70); Giuseppe Ungaretti, Gesammelte Gedichte, Italienisch/Deutsch, Übertragung und Nachwort von Michael Marschall von Bieberstein, München, Zürich (Piper) 1988), ist der Sentimento der bislang am wenigsten ins Deutsche übersetzte Gedichtband Ungarettis; von 70 Gedichten sind von Ingeborg Bachmann (6) und Michael Marschall von Bieberstein (24) insgesamt 28 Gedichte (bei zwei Überschneidungen) übersetzt worden (die Übersetzung Träume und Akkorde von Erik Jayme und Joachim Lieser, Darmstadt [Die Villa Handpresse] 1960 war mir leider nicht zugänglich). Die Übersetzung der Sektion „La Fine di Crono“ erschien in einer ersten Fassung in Sirene I (1988), S. 13-39; sie wurde für die vorliegende Ausgabe gründlich überarbeitet.
Ungaretti zu übersetzen ist ein verzweiflungsvolles Unterfangen. Die Gedichte stellen den Übersetzer auf Schritt und Tritt durch semantische und syntaktische Mehrdeutigkeiten vor Probleme, die vielfach kaum zu lösen sind, so daß eine Übersetzung im Falle Ungarettis mehr noch als bei anderen Dichtern lediglich der Versuch einer Annäherung an das Original sein kann, immer in dem Bewußtsein unternommen, daß dabei zwangsläufig vieles verloren gehen und geopfert werden muß. Dennoch wurde nicht nur versucht, semantisch und inhaltlich „korrekte“ Übersetzungen der Gedichte zu geben, sondern auch sprachlich und rhythmisch die Übersetzungen so durchzuformen, daß sie als deutsche Gedichte neben den italienischen Originalen bestehen können. Zu beurteilen, wie weit dies gelungen oder auch nicht gelungen ist, mag dem Leser überlassen bleiben. Im Übrigen gilt dies nicht in gleichem Maße für die Übersetzungen der Vorstufen und Varianten, die in erster Linie den pragmatischen Zweck verfolgen, dem Leser diese zu erschließen und es ihm so zu ermöglichen, das „Spiel der Varianten“ zu verfolgen. Dieses „Spiel der Varianten“ setzt sich auch in der Übersetzung der Vorstufen fort, indem diese manchmal bei identischen italienischen Passagen eine alternative Version anbietet. Während der Arbeit an den Gedichten, die sich über Jahre hinzog, hat sich, nach Phasen und „Anfällen“ nachdichtender Entfernung von den Originalen, immer wieder gezeigt und bestätigt, daß es nicht nur möglich ist, eine möglichst große Nähe zum Original zu wahren, sondern daß dies bei einem Dichter, der so bewußt arbeitet wie Ungaretti, in den meisten Fällen auch zu den letztlich befriedigendsten Ergebnissen führt.
Zu besonderem Dank bin ich Angelika Baader verpflichtet für ihre gründliche und konstruktive Durchsicht der Übersetzungen. Ohne ihr Drängen auf stärkere Berücksichtigung der Etymologie der Wörter und ihre Hinweise auf Traditionen und geistesgeschichtliche Zusammenhänge, in denen die Gedichte stehen, wäre vieles noch stärker im Ungefähren stecken geblieben. Insofern war ihre konstruktive Kritik auch als Korrektiv im Sinne des selbstkritischen Überdenkens eigener Übersetzungsansätze wertvoll und fruchtbar. Weiterhin möchte ich meinem Verleger Peter Kirchheim dafür danken, daß er sich auf das Wagnis dieser Werkausgabe eingelassen hat, sowie für sein sorgfältiges Lektorat und die intensive Diskussion der Übersetzungen vor allem im Hinblick auf stilistische Fragen. Hilfreich beim Übersetzen war natürlich auch immer wieder die Beschäftigung mit den Varianten und Vorstufen. Außerdem wurden die existierenden Übersetzungen ins Deutsche und ins Französische eingesehen und konsultiert. Für die Anmerkungen wurde neben dem Apparat der Varianten in der Gesamtausgabe Tutte le poesie (1969) die kritische Ausgabe des Sentimento del tempo von Rosanna Angelica und Cristiana Maggi Romano ausgiebig und dankbar benutzt. Weiterführende Literaturangaben finden sich von Fall zu Fall in den Anmerkungen sowie in der Bibliographie, die den Anmerkungsteil abschließt.

Ich möchte meine Übersetzung und insbesondere die des Dolore dem Dichter Ludwig Greve widmen, der, kurz nach Beendigung der Arbeit an diesem Band, auf so tragische Weise gestorben ist.

Michael von Killisch-Horn, Nachwort

 

Dieser 2. Band der Werke Giuseppe Ungarettis

enthält sämtliche Gedichte der mittleren Lebensperiode 1919-1946. Nach der Erneuerung der lyrischen Sprache in den frühen Gedichten der Allegria – Die Freude (1914-19919) beeinflussen die Zyklen Sentimento del tempoZeitgefühl und Il DoloreDer Schmerz nachhaltig eine neue Generation von Lyrikern. Der Ungaretti vorgeworfene „Hermetismus“ wird später zum (positiven) Kennzeichen des Neuen. 1933 erscheint Zeitgefühl und beendet die erste römische Periode des Dichters, der für die Jahre 1936-1942 in Brasilien eine Professur annimmt. Als 1939 dort sein neunjähriger Sohn Antonietto stirbt, entsteht der Zyklus Der Schmerz.
Der vorliegende Band bietet die erste vollständige Übersetzung sämtlicher Gedichte dieser beiden Zyklen. Darüber hinaus wird zum erstenmal die für seine Dichtung entscheidend wichtige Zweisprachigkeit Ungarettis dokumentiert, der seine Gedichte teilweise zuerst auf französisch schrieb und vieles zuerst in Frankreich veröffentlichte. Durch die abgedruckten und ebenfalls übersetzten Varianten und die Anmerkungen wird dem Leser der Zugang zu einem der bedeutendsten Werke der Dichtung des 20. Jahrhunderts erleichtert.

P. Kirchheim Verlag, Klappentext, 1991

 

Ein Menschenleben

– „Zeitgefühl“ und „Der Schmerz“ ein großartiger Beginn der ersten deutschsprachigen Gesamtausgabe Giuseppe Ungarettis. –

Unbekannt ist Giuseppe Ungaretti auch hierzulande nicht geblieben. Vor allem durch die Übersetzungen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan fand der 1970 mit 82 Jahren Gestorbene Eingang in den deutschen Sprachraum, ohne daß jedoch die Beachtung seinem Range wirklich entsprochen hätte: dem eines der größten Dichter des 20. Jahrhunderts. Den Übertragungen durch die berühmten Kollegen schlössen sich weitere, mehr oder weniger geglückte Versuche an, und wer sich die Mühe machte, all die verschiedenen Näherungen an dieses Werk nebeneinander zu lesen und miteinander zu vergleichen, der erkannte langsam so etwas wie den Umriß eines deutschen Ungaretti.
Mit der im Peter Kirchheim Verlag erscheinenden Werkausgabe Ein Menschenleben wird endlich der gesamte Ungaretti zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgestellt, und nach den verschiedenen, bereits vom Konzept her sehr unterschiedlichen Verdeutschungen werden durch Michael von Killisch-Horns neue Übersetzung nun auch Kontinuität und Entwicklung in Ungarettis Poesie deutlich. Zum ersten Mal ist diese nun als das zu lesen, als was sie der Dichter selbst verstand: als lyrischer Ausdruck eines ganzen, langen Menschenlebens.
Die Übersetzung ist eine Überraschung. Was Michael von Killisch-Horn hier geleistet hat, das ist tatsächlich der deutsche Ungaretti. Immer wieder ist man zu sagen versucht — und auch gerade im Vergleich mit den berühmten Vorgängern — genauso mußte es gemacht werden; es mußte doch „einfach nur“ der Bewegung des italienischen Originals gefolgt werden. Natürlich, das klingt viel einfacher, als es tatsächlich ist; doch immer wieder sind Verse und Strophen dieser Übertragung von einer solchen Evidenz, daß man sich eine andere überzeugende Möglichkeit daneben kaum noch vorstellen kann. Nirgendwo spürt man ein Suchen nach Originalität um jeden Preis, auch nicht das Bestreben, sich unbedingt von dem großen Vorbild Ingeborg Bachmann absetzen zu wollen. Dies rundum positive Urteil über Killisch-Horns Leistung kann auch durch den einen oder anderen Zweifel in Einzelfällen nicht getrübt werden, denn die Übersetzung von Lyrik zwingt immer zu Entscheidungen, bei denen eindeutige Antworten unmöglich sind.
Tatsächlich kommt einer Gesamtausgabe im Falle Ungarettis noch eine ganz besondere Bedeutung zu, die der Dichter selber dadurch deutlich machte, daß er ihr den poetischen Gesamttitel Ein Menschenleben gab. Die verschiedenen Stationen seines literarischen Weges sollten nichts anderes sein als die Stationen eines Lebenslaufs, die dichterische Kristallisierung von Jugend, Reife und Alter. Am klarsten tritt das in den frühen und in den späten Gedichten zutage, die den Kreis des Lebens eröffnen und schließen und in denen die Vergegenwärtigung von Aufbruch und von nahem Ende die unmittelbarste, persönlichste Form gefunden hat. „Dieses Buch ist ein Tagebuch“, schrieb Ungaretti zu seinem ersten Band: „Der Autor hat kein anderes Ziel und glaubt, daß auch die großen Dichter kein anderes hatten, als eine eigene schöne Biographie zu hinterlassen.“
Mit den Gedichten des Bandes Die Freude brach die Moderne in die klassizistisch und rhetorisch gewordene italienische Lyrik des Jahrhundertbeginns ein. Die in den Schützengräben entstandenen Gedichte gleichen selber Splittern, Fragmenten einer auseinandergebrochenen Einheit; sie sind die Reste jener lyrischen Formen, die der Gewalt der Wirklichkeit nicht mehr standhielten. Der junge Soldat Ungaretti schrieb buchstäblich um sein Leben, und die Atemlosigkeit seiner Verse entspricht dem seelischen und körperlichen Druck, unter dem sie entstanden: „Dort zwischen Tod und Toten war keine Zeit; daher kam die Notwendigkeit, sich mit ganz wenigen Worten auszudrücken und nur zu sagen, was wirklich nötig war.“
Das Außergewöhnliche in Ungarettis Entwicklung ist darin begründet, daß er mit seinem, hauptsächlich von Celan übersetzten, Spätwerk wiederum zum fragmentarischen Charakter der frühen Gedichte zurückkehrte. Obwohl dieses Spätwerk keinerlei Nachlassen der lyrischen Kraft erkennen läßt, wird man darin auch ein Element des Scheiterns seiner Poetik sehen müssen: Der Versuch, im 20. Jahrhundert noch so etwas wie ein „Lebenswerk“ zu schaffen, mit allem, was an Geschlossenheit, Gerichtetheit, an Vollendung in diesem Begriff liegt, mißlingt angesichts der Erfahrung des Abbrechens und Zerbrechens, des nicht Abschließbaren und Unvollendeten der Existenz. Ungarettis späte Lyrik wurde deshalb zum Höhepunkt seines Werkes, weil er diese Erfahrung des Scheiterns nicht für die Geschlossenheit seines Œuvres opferte; der alte Ungaretti machte sich noch einmal auf den Weg, den der junge begonnen hatte, und er scheute sich nicht zu bekennen, daß der Gedanke des vollendeten „Menschenlebens“, der „eigenen schönen Biographie“ eine Illusion gewesen war.
Es war ein glücklicher Gedanke des Verlages, das Erscheinen der deutschen Ausgabe nicht chronologisch, sondern mit dem zweiten Band zu eröffnen — also mit den Gedichtzyklen „Zeitgefühl“ und „Der Schmerz“, die Ungarettis mittlere, reife Periode zwischen 1919 und 1946 darstellen. Dem deutschsprachigen Leser wird dadurch etwas ganz Neues geboten, da der größte Teil dieser Gedichte hier zum ersten Mal übersetzt erscheint. Beigegeben ist dem Band ein editorischer Anhang, in dem schlechthin alles über Herkunft und Entwicklung jedes einzelnen Gedichtes zu erfahren ist, denn der unermüdliche Verbesserer Ungaretti feilte zeitlebens auch an schon veröffentlichten Versen weiter. Das gebotene Material kann unendlich viel zum Verständnis dieser oft als hermetisch bezeichneten Lyrik beitragen.
Nach den lakonischen, konzentrierten Fragmenten von Die Freude dokumentiert sich nun die intensive Beschäftigung mit den klassischen Dichtern Italiens, hauptsächlich mit Petrarca und Leopardi. Ungaretti macht den Versuch, auch formal und sprachlich an die Tradition anzuknüpfen und so die Krise zu überwinden, die er selbst mit seiner frühen „Non-poesia“; wie es ein Kritiker nannte, sichtbar gemacht hatte. Gleichzeitig sind diese Gedichte ein Zeugnis für eine tiefe geistige Verunsicherung Ungarettis in den Jahren nach der Katastrophe des Weltkrieges, durch die er sich zunehmend auf das Gedankengut des Christentums zurückverwiesen fühlt.
Die große Hymne „Die Barmherzigkeit“ zeigt eine solche Aneignung christlicher Begriffe — und sie ist zugleich ein Beispiel für die Gelungenheit der neuen Übertragung.

Ein verwundeter Mensch bin ich
Und ich möchte fortgehen
Und endlich Barmherzigkeit erlangen
Wo man den Menschen erhört
Der allein ist mit sich

Aus dieser Version Ingeborg Bachmanns wurde nun:

Ich bin ein verwundeter Mensch
Und ich möchte fortgehen
Und endlich anlangen Barmherzigkeit, wo man anhört
Den Menschen der allein ist mit sich.

Killisch-Horn berichtigt nicht nur, daß die Verse tatsächlich nicht über die Barmherzigkeit sprechen, sondern sich vielmehr an sie selber wenden; er gibt das ascolta auch völlig richtig wieder: Der verwundete Mensch bittet nicht, erhört — sondern viel einfacher nur angehört zu werden mit seinem Schmerz. Und der so ganz lakonischen, ganz betonungslosen Feststellung „Sono un uomo ferito“ entspricht wirklich nur die vollkommen schnörkellose Wortstellung „Ich bin…“
Die überwältigende Wirkung von Ungarettis Frühwerk beruht nicht zuletzt darauf, daß „Die Freude“ ein Zyklus von großer Geschlossenheit und Konsequenz war. Diese formale Überzeugungskraft haben die Gedichte der mittleren Periode nicht mehr, und „Zeitgefühl“ ist eine Sammlung, deren inhaltliche und formale Spannweite erheblich gewachsen ist. Mehr noch, es läßt sich nun ein Widerspruch zwischen zwei Elementen feststellen: der Dramatik der großen religiösen Hymnen und der Idyllik. Die sinnliche Erfahrung Roms und der Campagna, wo Ungaretti in den zwanziger Jahren lebt, die Erfahrung von Landschaft und Architektur sind zumindest ebenso prägend wie die religiöse, und es ist kein Zufall, daß „Zeitgefühl“ auch eine erhebliche Zahl erotischer Gedichte enthält.
„Abend“ ist ein solches Gedicht landschaftlicher Idyllik. In der bisher umfangreichsten Auswahl aus „Zeitgefühl“, in Michael Marschall von Biebersteins Übersetzung, heißt es:

Unten, wo die Schritte des Abends gehen, fließt ein lichtes Wasser, olivenfarben, und trifft auf ein kurzes vergessenes Feuer.

Im Rauch höre ich Grillen und Frösche, Wo zart die Gräser erzittern.

Killisch-Horn macht daraus:

Zu Füßen der Schritte des Abends Rinnt ein Wasser, klar Olivenfarben, Und gelangt zum kurzen erinnerungslosen Feuer.

Im Rauch hör ich jetzt Grillen und Frösche, Wo Gräser zart zittern.

Der Vergleich mit dem Original zeigt, daß Killisch-Horn überall genauer ist, ohne daß man ihm eine nur philologische, poetisch schwächere Übersetzung vorwerfen müßte. Der Unterschied zwischen „Unten, wo…“ und „Zu Füßen der Schritte…“ für das italienische appie, zwischen dem „vergessenen“ und dem „erinnerungslosen Feuer“ für smemorato zeigt die Konsequenz, mit der er Ungarettis Metaphorik folgt, ohne sie im Deutschen zu vermeintlich „sinnvollen“ Aussagen abzuschwächen.
Ein ähnlicher Bruch wie durch „Zeitgefühl“ zieht sich auch durch „Der Schmerz“. Die Jahre 1937 bis 1942 verbrachte Ungaretti als Professor in Brasilien, wo ihn mit dem Tod seines kleinen Kindes und dem seines Bruders das größte Unglück seines Lebens traf. „Der Schmerz“ ist ihrem Gedächtnis gewidmet, aber auch dem Gedenken an die Opfer des Krieges. Als diese Gedichte in den vierziger Jahren erschienen, sorgten sie durch ihre Einfachheit und Unmittelbarkeit für eine große Überraschung. „Alles habe ich verloren von der Kindheit / Und niemals werd ich / mich vergessen können in einem Schrei“ — die Endgültigkeit des Todes, des letzten Abschieds, läßt keine Rhetorik mehr zu, und der tiefste Ausdruck des Schmerzes ist am Ende gar kein Gedicht mehr, sondern nur noch ein hilfloses Stammeln: „Und ich lieb dich, lieb dich, und es ist endlose Qual!…“
Einige dieser Verse gehören ganz sicher zu den Höhepunkten nicht nur von Ungarettis Kunst; das persönliche Unglück wird zugleich zu einer Reflexion über Verlust und Vergeblichkeit, die trotz aller Offenheit nie in die Nähe von Wehleidigkeit und Narzißmus gerät.
Diejenigen Gedichte jedoch, die sich mit der geschichtlichen Situation Italiens und Europas befassen, sind von ganz anderer Art. Vor allem das Kapitel „Besetztes Rom“ knüpft an die großen Hymnen von „Zeitgefühl“ an, läßt sich dann aber vor allem durch das römische Barock, die Architektur Michelangelos zu einem Pathos der Größe hinreißen, das darüber noch weit hinausgeht:

Dein rosiges unerwartetes Zeichen, Gebärender Geist, steige wieder herauf Und beginne erneut mich zu überraschen; Unverhofft laß dir wieder auferstehen, Unglaubliches Maß, Frieden; Laß in der ausgewogenen Landschaft, erneut Mich buchstabieren die arglosen Worte.

So ist den beiden Sammlungen des vorliegenden Bandes eines gemeinsam: Sie sind nicht mehr das in sich geschlossene Zeugnis einer einzigen, zugleich geschichtlichen und persönlichen Erfahrung, wie es der Erste Weltkrieg für den Soldaten war, sondern der Versuch, mit der sehr viel komplexeren Realität der dreißiger und vierziger Jahre fertig zu werden. Ungaretti war kein politischer Autor; seine Faszination durch manche Seiten des italienischen Faschismus und durch Mussolini selbst zeigt sehr deutlich, daß er der europäischen Katastrophe eher hilflos gegenüberstand. Auch die Häufigkeit von existentiellen, gleichsam „ewigen“ Begriffen wie Schmerz, Hoffnung, Leben, Liebe und Menschheit sind ein Zeichen für den Versuch, der Zerstörung der Gegenwart durch ein Anknüpfen an „überzeitliche Werte“ und verbürgte Traditionen zu widerstehen — oder vielleicht eher: ihr zu entkommen.
So findet man bei Ungaretti den bemerkenswerten Fall, daß die späten Gedichte, die im nächsten Band der deutschen Ausgabe erscheinen werden, ästhetisch radikaler sind und den Bogen zu den frühen eher zurückschlagen, als das Werk der Reifezeit. Hier, in „Zeitgefühl“ und „Der Schmerz“, macht Ungaretti deutlich, wie wenig ihm, einem der Wegbereiter der Moderne, der Begriff des Modernen an sich überhaupt zählt. Und er unternimmt das Abenteuer, im Gedicht selber die Verbindung zu den geschichtlich gewordenen Vorgängern sichtbar zu machen. Wenn überhaupt, dann hat der Begriff einer klassischen Moderne hier seinen Sinn: In dem Augenblick, in dem der Dichter den Anspruch erhebt, nicht länger nur die avantgardistische Abweichung von der klassischen Regel zu sein, sondern vielmehr selbst die gültige Dichtung seiner Zeit zu repräsentieren.
Die Möglichkeit, diesen Weg in einer einheitlichen, durchweg vertrauenswürdigen Übersetzung nachvollziehen zu können, wird das bleibende Verdienst dieser deutschen Werkausgabe sein, die natürlich für einen kleinen Verlag auch kein unbedeutendes Wagnis darstellt. Neben den anderen Gedichtsammlungen werden Prosaschriften und Essays die insgesamt auf sechs Bände geplante Edition fortsetzen, die übrigens auch in ihrer äußeren Gestalt und handwerklichen Qualität dem hohen Rang ihres Autors angemessen ist. Wenn die folgenden Bände halten, was der erste verspricht, dann wird damit einer der größten Dichter der europäischen Moderne endlich auch im deutschen Sprachraum eingebürgert. Nun ist es Sache der Leser, ihn dort auch zu begrüßen.

Wolfgang Matz, Die Zeit, 27.3.1992

Giuseppe Ungaretti: Vita d’un uomo / Ein Menschenleben

Der 1888 geborene und 1970 gestorbene italienische Dichter Giuseppe Ungaretti ist seit langem auch in Deutschland als einer der großen Dichter des Jahrhunderts berühmt. Immer wieder gab es Auswahlbände, er selbst war stolz auf seine beiden berühmtesten deutschen Nachdichter: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Zuletzt erschien zum 100. Geburtstag eine umfangreiche Auswahl in der Übersetzung Michael Marschall von Biebersteins. Nun ist eine bewundernswerte, ziemlich tollkühne Unternehmung des kleinen Kirchheim Verlages in München anzuzeigen. Mit dem zweiten Band erschien unlängst der erste einer auf sechs Bände angelegten Werkausgabe des Dichters, herausgegeben von Angelika Baader und Michael von Killisch-Horn. Die ersten drei Bände werden das dichterische Werk enthalten, die andere Hälfte das Prosawerk, die Reiseprosa, Schriften zur Poetik, Vorlesungen, die kunstkritischen Arbeiten und die Interviews, die teils nur an entlegenem Ort gedruckt waren und selbst im Original niemals vollständig gesammelt wurden. Vieles, das die deutsche Ausgabe bringen wird, ist also auch in den beiden italienischen Bänden der gesammelten Werke Ungarettis, auf denen die deutsche fußt, nicht enthalten. Da die deutsche Ausgabe in ihrer lyrischen Abteilung zweisprachig ist, verspricht sie für jede Beschäftigung mit dem Werk Ungarettis unabdingbar zu werden.
Pasolini, ein maßgeblicher Leser des eine Generation älteren Patriarchen der modernen italienischen Poesie, formulierte seine Erfahrung mit dessen Werk folgendermaßen:

Bei Ungaretti finden wir in natürlicher Weise ausgedrückt, was eine der möglichen Definitionen des italienischen Hermetismus sein könnte: eine petrarkesk-leopardianische Patina auf einer zutiefst expressionistischen Sprache (mit barocken und romantischen Einschlägen)…

Pasolini sagt damit nichts anderes, als daß er in Ungarettis Werk, das in seiner Abkehr vom Schwulst des späten 19. Jahrhunderts einen Neubeginn markierte, gleichzeitig nochmals eine letzte Vereinigung aller italienischen (und europäischen) Dichtungstradition erkennt. Allerdings auf anderer Stufe, in rigoros modernem Gewand. Daß die einst auf Ungaretti gemünzte, als Schmähwort gemeinte und später zur Epochenbezeichnung gewordene Charakterisierung ,Hermetismus‘ besagt, daß etwa Ungarettis Dichtung von vorneherein unverständlich sei, gleichsam mutwillig im Elfenbeinturm einer reinen Nachfolge Mallarmés verharre, dies ist ein altes und längst widerlegtes Mißverständnis. Andererseits besagt Pasolinis Diktum aber auch, welcher Bedeutungsfracht man bei dieser Dichtung gewärtig sein muß. Ungaretti selbst betrachtete schon bei seinen Anfängen sein Dichten als eine Art Tagebuch, als eine, natürlich künstlerisch überhöhte, Autobiographie. Er sammelte sie deswegen am Ende seines Lebens nach dem Vorbild von Petrarcas Canzoniere zu einem einzigen Buch: Vita d’un uomo, Ein Menschenleben. Bereits 1916 schrieb er:

Dieses Buch ist ein Tagebuch. Der Autor hat keinen anderen Ehrgeiz, und glaubt auch, daß die großen Dichter keinen anderen Ehrgeiz hatten, als eine eigene schöne Biographie zu hinterlassen. Die Gedichte sind daher seine formalen Qualen, aber er wünscht ein für allemal begreiflich zu machen, daß die Form ihn bloß quält, weil er von ihr fordert, daß sie den Veränderungen seines Sinnes, seines Gemüts entspreche, und wenn er irgendeinen Fortschritt als Künstler gemacht hat, so möchte er, daß dies nichts anderes bedeute, als daß er auch einige Vollkommenheit als Mensch erreicht hat.

Programmatische Abkehr von einem reinen ,l’art pour l’art‘ geht also Hand in Hand mit einer hochkonzentrierten sprachlichen Verknappung der Lebenserfahrung. Im Gedicht will Ungaretti gleichzeitig das Persönlichste sagen wie eine gewisse Anonymität erreichen, das heißt das für alle Menschen Gültige und Nachvollziehbare.
Ungaretti kam 1888 in Alexandria, Ägypten, zur Welt, als Sohn italienischer Einwanderer aus Lucca. In Alexandria wuchs er in zwei kulturellen Traditionen auf, der französischen und der italienischen. Hinzu kamen die arabischen und griechischen Einflüsse dieses kulturellen Schmelztiegels. Erst mit 24 Jahren betrat er europäischen Boden; zunächst verbrachte er weitere prägende Jahre in Paris, wo er namentlich mit Apollinaire befreundet war. Der erste Weltkrieg verschlug Ungaretti an die Isonzofront. Die Gedichte jener Jahre, gesammelt in L’Allegria, werden im ersten Band der vorliegenden Ausgabe erscheinen, der wohl auch deswegen später erscheinen muß, weil neben den bekannten erst kürzlich wieder verstreut gedruckte frühe Gedichte Ungarettis entdeckt wurden. Der jetzt erschienene 2. Band der Ausgabe enthält mithin die beiden Gedichtbücher der mittleren Periode von Ungarettis Schaffen, nämlich Sentimento del Tempo (Zeitgefühl) (1920–1935) und II Dolore (Der Schmerz) (1937–1946).
Waren die Gedichte in L’Allegria die Frucht einer aus der Erfahrung der Todesnähe in den Material- und Vernichtungsschlachten des Weltkrieges gesteigerten und geschärften Hinwendung zum Leben, befreit von jeder überkommenen rhetorischen und ornamentalen Schlacke, reine lyrische Notate in freier, aufgebrochener Form, gleichsam Zeugnisse eines „grausamen“ Frühlings, so ist Zeitgefühl Ungarettis „römisches“ Buch und als solches Buch des Sommers und der Liebe. Buch auch einer Lebenskrise und religiösen Rückbesinnung. 1921 läßt sich Ungaretti mit seiner im Jahre zuvor geehelichten französischen Frau in Rom nieder. Alexandria, die Stadt der Kindheit, entschwindet zur „Afrikanische(n) Erinnerung“:

Nicht mehr werde ich jetzt zwischen der unermeßlichen Ebene
Und dem weiten Meer mich absondern

(…)

Doch Ungaretti ist das Nomadendasein eingeboren, seine Wüste, darin zu wandern, wird die Zeit sein, das ihm zugemessene Menschenleben. Rom bleibt ihm zunächst fremd. Zeitgefühl ist Zeugnis einer mühsamen Anverwandlung der ,ewigen‘ Stadt Rom – caput mundi –, und zwar in ihrer antiken und barocken Gestalt. Mehr noch: Ungaretti schreibt:

Rom wird in meiner Dichtung zu der Stadt, in der meine religiöse Erfahrung sich mit einem unerwarteten Initiationscharakter versehen findet.

Die Stadt und die Landschaft um Rom werden zur übermächtigen Kulisse für Ungarettis Rückkehr zum Glauben. Der Michelangelo der Pietà und der Sixtina wird zum ästhetischen Schlüsselerlebnis, enthüllt Ungaretti die „Geheimnisse des Barock“, die ihm nicht „abstraktes Wissen“ sind, sondern sein inneres Erleben zutiefst berühren.
Sentimento del tempo ist das Buch des großen Konflikts in der Mitte des Lebens: „Ich bin ein verwundeter Mensch. / Und ich fühle mich verbannt inmitten der Menschen“, heißt es im Gedicht „Die Barmherzigkeit“ von 1928. In der Darstellung Christi und des „Fleisches“ in der Sixtina erkennt Ungaretti die „Verzweiflung“ und den Riß durch die Schöpfung, die Michelangelo in seinem Werk zusammenschmolz. Erotik, gesteigerte sommerliche Sinnlichkeit und die Meditation des Todes werden eng zusammengeführt in Ungarettis Erfahrung der Zeit, die ihm „flüchtiges Zittern“ ist zwischen Jugend und Alter, Geburt und Tod. „Liebe, mein jugendliches Emblem / Tod, ausgetrockneter Fluß?“ Ungaretti erfährt „Im Fleisch der Tage / Immerwährende Spur, eine verhüllte Wunde…“. Angesichts des neu und schmerzhaft in sein Bewußtsein gedrungenen Risses in der Schöpfung berührt Ungaretti das abgründige Problem der „felix culpa“, der „glücklichen Schuld“, die nach Erlösung verlangt, ohne die Erlösung nicht nötig wäre. Der Mensch ist ihm ein „Müder Schatten im staubigen Licht“, der „friedlos hofft“. Und:

Glaubt an sich und ans Wahre, wer verzweifelt?

Mit der metaphysischen Thematik geht in Sentimento del Tempo einher Ungarettis Rückwendung zu klassischen Versmaßen, zumal dem traditionellen Elfsilbler. Petrarca und Leopardi sind während jener Jahre Ungarettis bevorzugte Dichter. Beide stehen in einer Opposition: Leopardi versuchte, so Ungaretti, im Bewußtsein des Endes einer Kulturepoche voller Verzweiflung einer Untergangsstimmung Raum zu verschaffen, Petrarca befand sich in einer entgegengesetzten Situation. Ihm galt es, die lebende Sprache mit klassisch-antiker Tradition zu befruchten und zu erneuern. Trotz allem ist Zeitgefühl auch ein Buch des Sommers, gerade weil in dieser Jahreszeit die Schatten am intensivsten sind. Dennoch gibt es auch:

RUHE

Die Traube ist reif, das Feld gepflügt,
Von den Wolken löst sich der Berg.
Auf die staubigen Spiegel des Sommers
Gefallen ist der Schatten,

Zwischen den unsicheren Fingern
Ist ihr Schein hell,
Und fern.

Mit den Schwalben flieht
Die letzte Qual.

Qual und Schmerz sind das bestimmende Moment des zweiten Gedichtbuches, das der vorliegende Band enthält, Il Dolore, mit Gedichten von 1937–1946. 1936 war Ungaretti als Professor für italienische Literatur nach São Paolo gegangen. Er erfährt die überbordende Vegetation Brasiliens, sieht die brasilianischen Städte des 16., 17. Jahrhunderts, begegnet dem Werk des Aleijadinho, den er „eine Art verrückten Michelangelo“ nennt. Ungaretti hält Vorlesungen, übersetzt Gedichte brasilianischer Freunde, darunter Mario und Oswald de Andrade. Eigenes entsteht wenig, die Arbeit an den Shakespeare-Übersetzungen stockt. 1939 stirbt ihm der erst neunjährige Sohn. Aus diesem Schmerz seines Lebens entsteht Il Dolore. Der Schmerz – bekennt Ungaretti – „ist das Buch, das ich am meisten liebe, das Buch, das ich in jenen schrecklichen Jahren geschrieben habe, als mir der Schmerz die Kehle zuschnürte.“ Der Verlust des Kindes, den Ungaretti lebenslang nie verwandt, ist der Einbruch des wirklichen Todes in sein Leben, wird als grausamer erfahren als der eigene:

Alles habe ich verloren von der Kindheit
Und niemals mehr werd ich
mich vergessen können in einem Schrei…

Ungaretti beschwört das Gedächtnis, zumal das Gedächtnis der Toten:

Haltet ein die Toten zu töten,
Schreit nicht mehr, schreit nicht
Wenn ihr sie noch hören wollt,
Wenn ihr hofft nicht unterzugehen.

1942, nachdem Brasilien Italien den Krieg erklärt hat, muß Ungaretti wegen drohender Internierung nach Italien zurückkehren, zurück an den Tiber, den „Tevere fatale“, seinen letzten Schicksalsfluß nach dem Nil, der Seine, dem Isonzo und dem Tietê.
Die vorliegende Ausgabe bietet den Text der Gedichte vollständig und zweisprachig, in sorgfältiger Druckgestaltung. Die Übersetzung von Michael von Killisch-Horn ist philologisch skrupulös und wurde unter Heranziehung der bisherigen Übersetzungen ins Deutsche und auch Französische angefertigt. Gleichzeitig strebte der Übersetzer mit einigem Erfolg an, deutsche Gedichte herzustellen, die auch, soweit es möglich ist, dem Rhythmus der Originale folgen. Zu beanstanden sind Kleinigkeiten, wie etwa die Übertreue, die den Übersetzer aus „La Luna“ „die Mondin“ und aus „la Morte“ „die Todin“ machen läßt. Dies ist leider nur ,gut gemeint‘ und wirkt im Deutschen etwas lächerlich. – Ich erwähnte bereits, daß die Ausgabe in Teilen über die grundlegende italienische hinausgeht. Das betrifft vor allem die Zweisprachigkeit des Dichters Ungaretti, der vieles zuerst auf französisch schrieb und veröffentlichte und sich dann selbst übersetzte. Dem deutschen Leser wird Ungaretti so erstmals als französischer Autor deutlich. Den größten Gewinn bietet der gut siebzigseitige, engbedruckte Anmerkungsteil, der Selbstkommentare Ungarettis sowie hochinformative Einführungen in die beiden Gedichtbände und Anmerkungen zu den einzelnen Gedichten enthält. Ungaretti soll einmal, als er beim Signieren einer Dame einige Verse aufs Vorsatzpapier eines seiner Bücher geschrieben hatte und diese immer noch etwas unzufrieden schien, nachgefragt haben:

Was wollen Sie noch? Varianten?

Wahr ist, was der Herausgeber schreibt:

Wie kaum ein zweiter Dichter hat Ungaretti von Veröffentlichung zu Veröffentlichung an seinen Gedichten weitergearbeitet, gefeilt, geändert, überarbeitet, manchmal nur geringfügig, bisweilen in einschneidender Weise.

Das Ungarettische „Variantenspiel“ wird dem deutschen Leser in den Anmerkungen nun zum ersten Mal vorgestellt, intelligenterweise samt Übersetzungen, die wiederum Varianten des Verständnisses anbieten, andere Möglichkeiten der Übertragung des vieldeutigen Originals.
Diese Ungaretti-Ausgabe hat also viele Verdienste, sie ist hervorragend gedruckt und gestaltet; naturgemäß ist sie nicht ganz billig. Im Eigeninteresse der Leser Ungarettis ist ihrem Gelingen und Fortgang der größte Erfolg zu wünschen.

Dietrich Lückoff, Park, 41/42, Mai 1992

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Hansjörg Graf: Freude, Schmerz, Licht und Finsternis. Giuseppe Ungaretti Zwischenbilanz einer Werkausgabe
Merkur, Heft 553, April 1995

 

Giuseppe Ungaretti

Das erste gewichtige Zeugnis der „modernen“ Poesie erschien 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, in der Etappenstadt Udine. Sein Titel: Der versunkene Hafen; sein Verfasser: der achtundzwanzigjährige Giuseppe Ungaretti. Ein Wiederabdruck von 1919 war um die nun titelgebende neue Folge Heiterkeit der Schiffbrüche vermehrt; in endgültiger Fassung wurde das Bändchen, als Heiterkeit ohne Zusatz, vom Dichter zum ersten Kapitel seines lyrischen Gesamtwerks Ein Menschenleben erklärt. Die Intention seines jugendlichen Erstlings umschrieb Ungaretti in einem sehr viel späteren Vorwort wie folgt: „Dieses lang zurückliegende Buch ist ein Tagebuch. Der Autor hat keinen anderen Ehrgeiz – und er glaubt, daß auch die großen Dichter keinen anderen hatten – als den, eine schöne Biographie seiner selbst zu hinterlassen. Seine Gedichte stellen also sein Ringen mit der Form dar, doch sollte es ein für allemal klar sein, daß die Form ihm nur deshalb zu schaffen macht, weil er von ihr fordert, daß sie den Wandlungen seines Gemüts entspreche und weil er – sollte er Fortschritte als Künstler gemacht haben – wünscht, daß diese Ausdruck auch seiner menschlichen Vervollkommnung seien. Er ist als Mensch inmitten außerordentlicher Ereignisse herangereift, denen er niemals fremd gegenübergestanden ist. Ohne je die Notwendigkeit einer Ausrichtung der Poesie aufs Universale zu leugnen, hat er immer dafürgehalten, daß das Universale, um vorstellbar zu werden, durch ein lebendiges Geschichtsbewußtsein mit der einzelnen Dichterstimme im Einklang stehen muß.“
Das sind Sätze, die seit langem zu den obligaten Belegen der Ungaretti-Kritik gehören; doch ist man sich anscheinend nie recht klar darüber geworden, wie seltsam, ja sensationell sie sich als Selbstaussage eines „hermetischen“ Dichters ausnehmen – denn mitten in der Arbeit am angeblich hermetischen Sentimento del tempo sind sie von Ungaretti niedergeschrieben worden. In einer Zeit, da Erlebnispoesie modisch verpönt ist, erklärt unser Dichter unerschrocken, seine Verse seien, als Ausdruck wechselnder Gemütsregungen, Spiegelungen eigensten Erlebens. Während die literarische Avantgarde der außeritalienischen Romania Dichtung als selbstgenügsame, ahistorische Blüte des Intellekts versteht, betont Ungaretti ihre Bedingtheit durch die „Zufälle“ der äußeren Geschichte. Und während sich die dort entstehende Lyrik alle unmittelbare Gegenständlichkeit – und nicht zuletzt die humanitäre – versagen möchte, macht Ungaretti nicht nur sein Ich zum zentralen Thema des Dichtens, sondern stellt einen programmatischen Zusammenhang zwischen seinem technisch-formalen und seinem menschlich-sittlichen Streben her.
Bezieht man diese Erklärung auf ihre geschichtlichen Orientierungspunkte, so lassen sich drei Momente herauslösen, die für die Genese des Ungarettischen Dichtens von entscheidender Bedeutung sind. Der ethische Ernst, den Ungaretti für sich in Anspruch nimmt, ist der gleiche, den in seiner Jugend die Zeitschrift La Voce dem geistigen Antlitz Italiens aufzuprägen versucht hatte. Das Ideal einer „schönen Selbstbiographie“ setzt eine illustre Überlieferung der italienischen Lyrik fort, an deren Anfang Petrarcas Canzoniere steht. Und mit den „außerordentlichen Ereignissen“, unter denen er zum Dichter herangereift sei, spielt Ungaretti – wir wissen es aus dem Einleitungskapitel – auf seine Erlebnisse an den Fronten des Ersten Weltkriegs an.
Auch zu diesem letzten Punkt hat sich der Dichter in einem diskursiven Bekenntnis besonders geäußert: „Man lebte in solcher Vertrautheit mit dem Tod, daß alles ein Schiffbruch ohne Ende war. Es gab kein Ding, das ihn nicht widergespiegelt hätte; unser eigenes Leben war von Anfang bis Ende jener beliebige Gegenstand, auf den zufällig unser Blick fiel. In Wahrheit war unser Leben selbst nur noch dinglich, das erste beste Ding. Jenes Sich-Versenken in den Augenblick eines Dings war ohne Maß. Die Ewigkeit war beschlossen im Augenblick…“
Nachdrücklicher noch als in vorausgehenden Zitat spricht sich hier der Zusammenhang zwischen Lebenserfahrung und künstlerischem Wollen aus. Wo der Mensch sich in so bestürzendem Grade als verlorenes Ding am Rande des Nichts erfährt, muß das hochgespannte historische, patriotische oder imperialistische Pathos von Carducci und D’Annunzio einem stilleren Stil des Menschseins und Dichtens Platz machen; und wer den „Augenblick“ immer aufs neue als Summe der Existenz erlebt, dem muß das großbogige, folgerichtig gebaute Gedicht der lyrischen Tradition widersinnig werden.
Man versteht nun, was die dichterische Revolution des Futurismus für Ungaretti bedeutete, wie begierig er auf Grund seines besonderen Lebensgefühls und Geschichtsbewußtseins ihre Errungenschaften aufgegriffen haben muß. Die Zertrümmerung der latinisierenden Periode, die Beseitigung des dekorativen Adjektivs, der logisierenden Interpunktion, die Verwendung des unvermittelten Vergleichs, der Verzicht auf den „geheimen Leierkasten“ der Reime, die Auflösung der strophischen Bindungen: all diese „modernen“, jegliche italienische Tradition umstürzenden poetologischen Grundsätze macht sich Ungaretti zu eigen; aber die laute, extrovertierte Emphase der Futuristen bildet er um in einen strengen und kompromißlosen Zug zur Wesentlichkeit.
Bei diesem Streben fand er einen Nothelfer in einem Dichter, den bereits die Futuristen – Uneingestandenermaßen – ausgebeutet hatten: in Mallarmé. Doch nicht nur dem unverwechselbaren „murmelnden Ton“ begegnete er dort; aus Mallarmés noch der Romantik verhafteten Frühwerk schöpfte er auch die meisten lyrischen Motive der Heiterkeit, soweit sie nichts mit dem Kriegserleben zu tun haben: Nacht und „noia“, die Melancholie und ihre Gegengifte Schlaf und Fleischeslust, die Frühlingsschwermut, die Qual der Widerständlichkeit des endlichen Raums. Noch hat Ungaretti von Mallarmé nicht das Ethos der strengen Form gelernt – er bedarf einstweilen nicht dieses Gegengewichts, da die Stücke seines ersten Bändchens zumeist in menschlich-normaler Sphäre liegen, weit diesseits des Mallarméschen Absoluten; wohl aber hat er ihm eine Reihe kleiner technischer Kunstgriffe abgeschaut, die sich unter dem von H. Friedrich geprägten Oberbegriff der „Unbestimmtheitsfunktion der Determinanten“ vereinigen lassen (Vorliebe für den unbestimmten Artikel, für unbestimmte hinweisende Fürwörter oder für bestimmte mit unbestimmter Sinngebung und so weiter). Von Mallarmé scheint schließlich sogar der Titel Heiterkeit der Schiffbrüche herzukommen. Klippe und Schiffbruch gehören, als Metaphern für das tragische dichterische Ringen mit dem Absoluten, zum festen Wortschatz des Mallarméschen Werkes. Im gleichen Sinne verwendet sie Ungaretti, jedoch mit jenem grundsätzlichen Unterschied in der Haltung, der sich im Titel andeutet und im Titel-Gedicht ausspricht. Nicht zum „bitteren Fürsten der Klippe“ lassen den jungen Ungaretti seine dichterischen Abenteuer werden, sondern zum wetterharten, heiter-resignierten „Seebären“, der in unbesiegbarem Optimismus nach jedem Schiffbruch die gefahrvolle Fahrt von neuem aufnimmt.
Was also Ungaretti in der Heiterkeit als erstes Ergebnis vorlegt, sind Gedichte, in denen die Klang- und Sinnschwere des einzelnen Wortes, ja der einzelnen Silbe wiederentdeckt wird, in denen sich die strophischen Einheiten nicht nach objektiven Regeln, sondern nach den Bedürfnissen des dichterischen Augenblicks formen und in denen selbst die typographische Anordnung, mit ihren säulenhaften Vertikalismen und ihren freien Zwischenräumen, sich als optisches Pendant des lyrischen Ausdruckswillens zum Klanglichen fügen will. An zwei Stellen des Bändchens verleiht Ungaretti seiner „poetica della parola“, der Entdeckung und Neusetzung des reinen, jungfräulichen Worts im geistigen, das „Lebensfieber“ klärenden Akt, dichterischen Ausdruck:

(…)
Dichtung                                                      erblüht aus dem Wort
ist die Welt die Menschheit                    glasklares Staunen
das eigene Leben                                       aus fiebriger Gärung
Finde ich                                                      gräbt es sich in mein Leben
in meinem Schweigen                              wie ein Abgrund
ein Wort

In stärkerer symbolischer Verrätselung heißt es im Programmgedicht der ersten Sammlung, Der versunkene Hafen:

Dort kommt der Dichter an
und wendet sich dann zum Licht mit seinen Gesängen
und verstreut sie

Von dieser Dichtung
bleibt mir
jenes Nichts
aus unversiegbarem Geheimnis

Es liegt im Zuge dieses fortwährenden und immer strengeren Wegwaschens des Unwesentlichen – alles Erläuternden, Faktischen, Füllenden und Verbindenden −, daß die Quantität des Ausgesagten mehr und mehr zusammenschrumpft, bis der letzte und ideale Gipfel der Reinheit und des „Geheimnisses“ erreicht ist: die Kurzform des Fragments. Im lyrischen Telegrammstil liegt die kennzeichnende dichterische Leistung des frühen Ungaretti.
Hierfür einige Beispiele, zunächst aus dem Bereich eines romantisch empfundenen und manieristisch formulierten Naturerlebens:

Heute abend

Brüstung aus Brise
um heute abend
meine Schwermut aufzustützen

Universum

Mit dem Meer
habe ich mir
eine Bahre aus Frische
gemacht

Eine epigrammatische Version der Kriegserfahrung, die man mit den Beispielen des ersten Kapitels vergleichen mag:

Soldaten

So
wie im Herbst
am Baum
Blatt um Blatt

Die folgenden Zeilen, die an die barocken Sinnsprüche erinnern, sind sicherlich als Hinweis darauf zu verstehen, wie der Dichter seine Verse „aufgefaßt“ sehen möchte:

Teppich

Jede Farbe breitet sich aus und gibt sich auf
in den anderen Farben

Um einsamer zu sein wenn du hinsiehst

Und schließlich, als äußerster Fall, jener berühmte und unzählige Male angeführte Zweizeiler, den Horst Rüdiger als ein „echtes Kuriosum des lyrischen Lakonismus“ bezeichnet und für den, nach vielen Versuchen anderer, Michael Marschall v. Bieberstein die meines Erachtens überzeugendste Übersetzung gefunden hat:

Morgenfrühe

Ich erleuchte mich
aus Unermeßlichem

Man sieht: diese lyrischen Splitter sind für den erfahrenen Leser keineswegs „dunkel“, sie bedienen sich einer geradezu „leichten“ Bildersprache, einer schlichten und hellen Syntax. Ihre scheinbare Irrationalität ist fast allein das Ergebnis einer radikalen Verkürzung des Stofflichen, derart, daß der Anlaß des Gedichts vieldeutig-unbestimmt wird und sich da und dort (wie im Beispiel „Soldaten“) nur über die Eselsbrücke des Titels entschlüsseln läßt. Auch Ungaretti bedient sich also, wie die meisten modernen Lyriker, der Suggestionstechnik, auch er richtet an den Leser die stillschweigende Aufforderung, sich selbsttätig in den poetischen Prozeß einzuschalten; diese Aufgabe stellt sich in der Heiterkeit hauptsächlich als eine solche des Auffüllens und Rekonstruierens.
Den, der von der italienischen Dichtungsgeschichte her auf diese Neuerungen blickt, wird das heftige Für und Wider, das sie auslösten, nicht überraschen. Die „Modernen“ suchten nach Beglaubigungen in anderen Zeiten und Völkern und dachten sie in der angeblichen (in Wahrheit überlieferungsbedingten) Bruchstückhaftigkeit der griechischen Lyrik und in den japanischen Haikus zu finden; die „Passatisten“ waren nicht gewillt, den geforderten Glaubensakt mitzuvollziehen und sprachen von Anmaßung und Mystifikation. Relativ spät faßte der Crocianer Francesco Flora in seinem Pamphlet „La poesia ermetica“ alle gängigen Einwände in der wohl schlagkräftigsten Form zusammen: Ungarettis „Gedichte“ seien überhaupt keine Gedichte, sondern Themen von Gedichten, Notizen zu Gedichten, oder gar „eine Folge kleiner Fehlgeburten in einem toten Raum“. Verdächtig sei schon die Unsicherheit und Willkür der Titelwahl. Der angeführte Zweizeiler, ursprünglich „Himmel und Erde“ überschrieben, wurde später zu „Morgenfrühe“. Gibt es – so fragt der Kritiker – einen zwingenden Grund, ihn keinesfalls „Mittag“ oder „Nacht“ zu nennen? Aus Ungarettis zweiter Sammlung Gefühl der Zeit zitiert Flora den Einzeiler „Einer Taube lausche ich aus anderen Sintfluten“ und kommentiert mit sarkastischer Pedanterie: »Hier ist vor allem die peinliche Zurückhaltung zu beobachten, mit der uns der Autor verschweigt, was die Taube eigentlich sagt und was für uns im Grunde alles zu bedeuten hätte. Auch wird man sich wundern über all diese ungeahnten Sintfluten außerhalb aller Geschichte und jedes vernünftigen Grundes. Und schließlich ist festzustellen, daß ein solcher Vers sehr stark an Zitate erinnert, wie man sie als verstechnische Belege in den Handbüchern der Metrik anführt. Immerhin steht dort das Gedicht dahinter, dem das Zitat entnommen war. Hier dagegen ist das Gedicht nicht vorhanden, und was mit den neuen, auf die biblische folgenden Sintfluten gemeint war und was die neue Taube bedeutet – das alles hätte in lyrischer Klarheit gesagt werden müssen. Ein Gedicht aus einem einzigen Vers? Warum nicht – vorausgesetzt, daß es vollendet ist, daß seine Strahlenbündel aus einem Mittelpunkt kommen und nicht willkürlich vorgestellt werden müssen! Evokation – warum nicht? Aber kein Caprice! Suggestion – warum nicht? Aber keine Mystifikation! Und sei es auch nur die, welcher der Dichter als erster zum Opfer gefallen ist.“
Es ist hier gewiß nicht der Ort, noch einmal das lang verhallte Streitgespräch um Sinn oder Unsinn des lyrischen Fragmentismus aufzuwärmen. Flora sperrt sich gegen die experimentelle Absicht der Ungarettischen Versuche, die von einer allzulangen rhetorischen Praxis abgenutzte italienische Dichtersprache von Grund auf zu erneuern; er konnte diesen Versuch wohl auch gar nicht billigen, da er von seinem Blickpunkt aus nicht notwendig war. Die grundsätzliche ästhetische Möglichkeit der lyrischen Kurzform vermochte er, bei allem kritischen Witz, wohl kaum ad absurdum zu führen. Den Kritiker hat im übrigen die weitere Entwicklung der modernen italienischen Lyrik ausgiebig widerlegt. Das Fragment ist seit Ungaretti nicht wieder aus der italienischen Lyrik verschwunden. Ungaretti selbst streut noch in seine späten Werke lyrische Splitter ein, Montale und Quasimodo kennen und benutzen die lyrische Minimalform, und Saba findet am Ende eines langen und ganz andersartigen Weges in ihr die höchste Verwirklichung seines Talents. Natürlich gibt es gute und schlechte, überzeugende und flaue „frammente“, so wie es eben gute und schlechte, geglückte und mißglückte Gedichte gibt; oder – um es mit einem scherzhaften Bilde Sabas zu sagen: „Auch Verse gleichen den Seifenblasen: die eine fliegt auf, die andere nicht.“
Das stärkste Argument für die Ernsthaftigkeit des ungarettischen Suchens lieferte indessen die Veröffentlichung seiner Verstreuten Gedichte (1945) mit den Varianten zu den ersten beiden Zyklen. Daß Ungaretti hier (und später von seinem „Gelobten Land“) die Vorstadien seiner Resultate bekanntmachte, entspricht einer grundsätzlichen Auffassung des modernen Dichters, der zufolge der Prozeß des Dichtens unauflöslich zum Werk gehört und selbst schon Poesie ist. Seitdem ist es also möglich, die vorletzten und letzten Phasen der dichterischen Arbeit Ungarettis zu betrachten; seine lyrischen Destillate erscheinen nun als Restbestände eines künstlerisch verantwortungsvollen Reduktionsprozesses und keinesfalls mehr als augenblicksgeborene, unkritische Setzungen. Eines der frappierendsten Beispiele für einen solchen Reinigungsvorgang bietet das Gedicht mit dem fragmentistischen Rätseltitel „Entspringt vielleicht“. In der Endfassung von 1943 lautet es auf deutsch:

Da ist der Nebel der uns auslöscht

Entspringt vielleicht ein Fluß hier oben

Ich lausch’ dem singen der Sirenen
Aus dem See darin die Stadt war

In der avantgardistischen Zeitschrift Lacerba war 1915 das gleiche Gedicht in der für jeden Kenner des definitiven Ungaretti kaum glaublichen Version erschienen:

Mamma mia! quanto hai pianto!
C’è la nebbia che ci cancella.
Nasce forse un fiume quassú.
Non distinguo piú.
Ascolto il canto delle sirene del lago
dov’era la città

So populär, emphatisch und „unrein“ wie nur immer möglich hatte der Einsatz dieser Fassung den biographischen Anlaß des Gedichtes verraten: die melodramatische Auseinandersetzung zweier Liebender vor den Toren einer Stadt, im Schutze des Nebels. Mit prosaischer Schulmeisterlichkeit hatte der Dichter im vierten Vers erklärt, der Nebel raube ihm das optische Unterscheidungsvermögen, und wie von ungefähr hatte sich der Klingelreim quassú – piú eingestellt. Nachdem aber diese beiden Verse im selbstkritischen Läuterungsprozeß vom Dichter verworfen und der ursprüngliche Titel „Sintflut“ (ärgerliche Assoziation mit dem Tränenstrom des weiblichen Subjekts!) durch das unbestimmte „Nasce forse“ ersetzt worden war, bei dem nicht ganz klar wird, ob es eine Frage oder eine Feststellung ist, hatte sich ein scheinbar gänzlich neues, unbestreitbar suggestives lyrisches Gebilde herausgeschält. Am Rande sei schließlich erwähnt, daß die veränderte Anordnung der beiden letzten Verse eines der zahlreichen Beispiele dafür ist, mit welch rastloser künstlerischer Disziplin Ungaretti das Problem des Freiverses auffaßte.
Soviel zu Ungarettis vielberedeten „frammenti“. Obwohl wir einige unter ihnen bewundern, glauben wir, daß der frühe Ungaretti sein Bestes in Gedichten mittlerer Länge gegeben hat, in denen er der lyrischen Bewegung, bei aller verkürzenden Stilisierung, ein freieres Ausschwingen verstattet. Hier zwei Beispiele, die uns nicht zuletzt inhaltlich interessieren sollen, da sich in ihnen ein öfter wiederkehrendes, offensichtlich originales Motiv der Ungarettischen Empfindungswelt gestaltet. Da ist zunächst das Gefühl des nomadenhaften Unbehaustseins, am wirkungsvollsten gefaßt im Gedicht „Landstreicher“:

In keiner
Gegend
der Erde
kann ich hausen

In jedem
neuen
Klima
dem ich begegne
schmachte ich
doch
schon einmal
war ich seiner
gewohnt gewesen

Und immer trenne ich mich
ein Fremder

Werde geboren
wiederkehrend aus
abgelebten Zeiten

Einen einzigen Augenblick
anfänglichen Lebens
genießen

Ich suche
ein unschuldiges
Land

Man beachte, wie stark die unmittelbar sinnliche Erfahrung dieses Bewußtsein heimatloser Unruhe bestimmt und wie das gesuchte „unschuldige Land“ viel mehr ethisch: als Land der arglosen Kommunikation, denn metaphysisch: als Reich des Absoluten gemeint ist. Das bejahende, euphorische Gegenstück zu solchen Momenten der Depression bilden jene gelösten Augenblicke, in denen sich der Dichter als eine „gelehrige Fiber des Alls“ fühlen darf, als kleine, aber erfüllte und sinnvolle Parzelle des Kosmos, Derartige Höhepunkte pantheistischer Stimmung sind meist auch solche des lyrischen Gelingens wie in „Verklärung“:

Ich stehe
gelehnt an einen Haufen
sonnenbraunen Heus

Quälende Unrast
steigt brodelnd
aus fetten Furchen

Entsprossen fühl’ ich mich
den Menschen dieser Erde

Ich fühle mich in den Augen
die achten auf die Wandlungen
des Himmels
in den Augen jenes Alten
dessen Antlitz zerfurcht ist
wie die Rinde
der Maulbeerbäume
die er beschneidet

Ich fühle mich in kindlichen Gesichtern
glühend
wie eine rosige Frucht
zwischen kahlen Bäumen

Wie eine Wolke
löse ich mich
in der Sonne

Weit tu’ ich mich auf
in einem Kuß
der mich verzehrt
und beruhigt

Abermals frappiert der Gehalt an Wirklichkeitsfülle, an ungenierter Sinnenfreude, der dieses „moderne“ Gedicht kennzeichnet. Man darf vermuten, daß hier D’Annunzio, der große Magier der Sinnlichkeit, mit „Alcyone“ nachwirkt. Nur sind bei Ungaretti, auf den ersten Blick erkennbar, sowohl D’Annunzios Pansexualismus wie seine selbstgefällige Artistik in menschliche, „unanimistische“ Wesentlichkeit verwandelt; so darf auch dieses Gedicht, obwohl das Pendel sehr weit nach der Seite der normalen Dinglichkeit ausschlägt, zum lyrischen Essentialismus gezählt werden.
Es sei uns gestattet, das – gewiß äußerliche – Kriterium der Ausdehnung noch eine kleine Weile beizubehalten und festzustellen, daß sich auch einige im herkömmlichen Sinne lange Gedichte in der Heiterkeit finden. Das berühmteste sind die oft zitierten – und gerühmten – „Flüsse“, in denen Ungaretti, innerhalb seiner diffusen Lebensbeichte, eine kompakte lyrische Selbstbiographie gibt, deren Stationen er in vier Flüssen zugleich bestimmt und versinnbildlicht: im toskanischen Serchio, von dessen Ufern seine Ahnen stammten; im Nil, an dem er geboren wurde und Kindheit und Knabenzeit erlebte; in der Seine, in deren Wasser der Pariser Student geblickt hatte, und schließlich im Isonzo, dem Schauplatz seiner Kriegserfahrungen. Wie der größte Teil der Heiterkeit überhaupt, so bieten auch die „Flüsse“ keinerlei Verständnisschwierigkeiten, sondern wollen gerade durch ihre gesammelte Schlichtheit auf den Leser wirken. Freilich kommt anderwärts diese Schlichtheit der ungebundenen, mitteilenden Rede oft bedenklich nahe, ja sie wird zur ausgesprochenen, lediglich vertikal aufgegliederten Prosa in dem „In Memoriam“ betitelten Stück, das im Stil eines poetischen „fait divers“ vom Selbstmord eines arabischen Freundes in Paris berichtet. Wir treffen hier auf das Residuum einer literarischen Erbschaft, die – neben den bisher erwähnten – ebenfalls noch in Ungaretti spürbar ist: die der „Dämmerungsdichter“, welche, wie wir inzwischen wissen, im polemischen Gegenzug gegen die Rhetorik der letzten Dichter-Trias den Stil des lyrischen Understatements gepflegt hatten.
Andererseits, und ganz im Gegensatz hierzu, bezeugen einige wenige Beispiele der Heiterkeit des Dichters Willen, die bare Realität im eigenwilligen, abrupten, verschiedene Wirklichkeitsbereiche zusammenzwingenden Bild schöpferisch zu transzendieren. Als Beleg wähle ich „Volk“, den metaphernträchtigen Gesang des heimkehrenden „Ägypters“, sein „Salve sacra tellus“ beim Gewahren des italienischen Landes:

Es floh das einsame Rudel der Palmen
und der Mond
unendlich über dürren Nächten

Verschlossenste Nacht
müht sich eine düstere
Schildkröte

Eine Farbe dauert nicht

Die trunkene Perle des Zweifels
rührt schon die Morgenröte auf und
zu ihren flüchtigen Füßen
die Glut

Schon wimmeln Schreie
eines neuen Windes

Bienenstöcke bilden sich in den Bergen
verirrter Fanfaren

Kehrt wieder alte Spiegel
ihr verborgenen Wassersäume

Und
während nun schneidend
die Schößlinge des hohen Schnees
den Anblick säumen
der meinen Alten vertraut
reihen sich
in der ruhigen Helle
die Segel

O Vaterland
alle deine Zeiten
sind wach geworden in meinem Blut

Sicher rückst du vor und singst
über einem hungrigen Meer

Diese wenigen Beispiele müssen genügen, um die lyrische Situation des jungen Ungaretti zu illustrieren. Zwei Impulse bestimmen offensichtlich sein Dichten, ein geschichtlicher und ein literarischer: das Kriegserleben und das Studium der symbolistischen Lyrik. Aus der Vitalerfahrung rührt sein besonderes Lebensgefühl her und der Drang, dieses dem gleichgestimmten Leser mitzuteilen; aus der geistigen Erfahrung dagegen die Erkenntnis, daß es der moderne Dichter mit einem Sprachmaterial zu tun habe, welches durch die Praxis entheiligt sei und daß die dichterische Sprache erneuert und sublimiert werden müsse; und schließlich, daß die Aufgabe des modernen Dichters nicht Mitteilung, sondern Ausdruck heiße, nicht Abbilden der Wirklichkeit, sondern deren Verdichtung und Erhöhung im Sinnbild. Auch wenn entsprechende Äußerungen unseres Dichters fehlen, so besteht kaum ein Zweifel, daß Ungaretti diesen Gegensatz als Spannungsverhältnis empfand. In der Tat zeigt nicht nur die Heiterkeit, sondern sein gesamtes, späteres Werk diese Polarisierung in Mitteileilung und Ausdruck, in Realität und Metapher. Die beiden Aspekte lösen einander ab, können aber auch an dichterischen Gipfelpunkten eine Synthese eingehen. In der Heiterkeit läßt sich besonders deutlich dieses Wechselspiel beobachten: wo die objektive geschichtliche Erfahrung im Vordergrund steht, wählt Ungaretti eine klare, kommunikative Sprache mit wenigen und stets transparenten Bildern; wo er von subjektiven Empfindungen spricht, strebt er nach einer esoterischen, oft preziösen Metaphorik. (Mit Recht hat Gustav René Hocke das oben angeführte Fragment „Heute abend“ in seine Anthologie europäischer Concetti aufgenommen. Andererseits steht ein Gedicht wie „Die Flüsse“ als Beispiel für eine geglückte Harmonisierung von Bild und Sinnbild, wobei freilich das Schwergewicht entschieden auf der Seite des Sinnlich-Wirklichen bleibt.
Läßt sich die Doppelung in Hell und Dunkel bei genauerem Hinsehen schon im Innern der einzelnen Ungarettischen Werke beobachten, so bestimmt sie im ganzen die Stationen dieses dichterischen „Menschenlebens“. Während in der Heiterkeit das Exoterische vorherrscht, steht das zweite Bändchen, Gefühl der Zeit, stärker im Zeichen des Esoterischen.
Die neue Sammlung vereinigt Gedichte, die zwischen 1919 und 1935 entstanden sind. Ungaretti nennt sie: „il mio secondo tempo d’esperienza umana“. Abermals haben wir in dem „urnano“ zugleich die Vokabel „künstlerisch“ mitzuhören, da – wir sahen es an früherer Stelle – Menschsein für Ungaretti Künstlersein bedeutet und umgekehrt. In künstlerischer Hinsicht beschreitet Gefühl der Zeit manch neuen Weg. Dem Zug seiner literarischen Weggenossen in Italien folgend, hat auch Ungaretti sich nun den lyrischen Traditionen seines Landes zugewandt: während es in der Heiterkeit sein Anliegen war, „die Natürlichkeit, die Tiefe und den Rhythmus im Sinne des einzelnen Wortes wiederzufinden“, ist er jetzt bestrebt, einen Einklang „zwischen der überlieferten Metrik und den heutigen Ausdrucksgeboten“ herzustellen. Noch kehrt er nicht zu den traditionellen Strophenformen (oder gar zum Reim) zurück, wohl aber zu den vertrauten Maßen der italienischen Versgeschichte: zum Sieben-, Neun- und vor allem zum Elfsilbler. Wie die italienischen Modernen der zwanziger Jahre ist Ungaretti bei Petrarca und Leopardi in neue Schule gegangen: das Resultat waren inhaltliche Reflexe, es waren bei ihm vor allem formale Errungenschaften.
Zugleich mit jener Rückbesinnung intensivierte sich jedoch auch das Vorwärtsgerichtete. Dessen Erscheinungsweisen sind einmal die stärkere Verselbständigung des Musikalischen, zum andern der häufigere Gebrauch der unvermittelten, auf das rationalisierende Zwischenglied verzichtenden Analogie. Hören wir zu beiden Aspekten dieser zweiten Manier den Dichter selbst! Daß sein Streben nach Klangwirkungen einem Programm absichtsvoll „dunklen“ Dichtens entspreche, leugnet er resolut: „Möglich, daß sich da und dort eine Dunkelheit einstellt. Darauf ausgegangen bin ich nicht: dies zu denken, wäre töricht. Aber die Dichtung, wie ich sie verstehe, ist voller Fußangeln, Fesseln und Zwänge. Da bin ich z.B. hinter einem Klang her und es entsteht mir etwas Überzeugendes, aber der Sinn ist ein wenig aufgeopfert worden, oder der Rhythmus…“ Aber auch Ungarettis zeitgeschichtliche Interpretation der Technik der freien Analogie sei vermerkt. Technologische Formeln der Futuristen wiederaufgreifend, erklärt er: „Wenn für das 19. Jahrhundert der Drang kennzeichnend war, mit Hilfe von Geleisen und Brücken Verbindungen herzustellen, so wird der heutige Dichter versuchen, entfernte Bilder in drahtlosen Kontakt zu bringen…“
Ein weiteres Novum des Gefühls der Zeit ist das Zurücktreten der subjektbezogenen Aussage, der Zug zu einer objektiven Thematik. Sein ganzes Dichten seit 1919, erklärte Ungaretti in einem Gespräch über sein Gelobtes Land, sei Betrachtung, Projektion der Gefühle in die Objekte, ein Versuch, die eigene Lebenserfahrung zu Ideen und Mythen zu erheben. In der Tat werden nun Nymphen, Sirenen, Leda, Diana, Apoll evoziert; eine mythisch-irreale Szenerie, im Sinne eines „reinen Ereignisses“, gestaltet das mit Recht berühmt gewordene (bei H. Friedrich abgedruckte) Gedicht „Die Insel“. Abermals begegnen Bilder und Motive aus Mallarmé – jetzt aber aus dem reifen Werk des großen Vorbilds der lyrischen Modernität. Hinzu kommen einige Reminiszenzen aus Valery, besonders aus dem Umkreis des „Aurore“-Gedichts. Doch gilt hier das gleiche wie für die Übernahmen in der Heiterkeit: Ungaretti entleiht dies oder jenes, aber er absorbiert es, beschneidet es, macht es zum Baustein des eigenen, um andersartige Notwendigkeiten kreisenden Werks.
Wir sagten an früherer Stelle, daß im Gefühl der Zeit die dunklere Seite vorherrscht. Doch gibt es auch so transparente und „leichte“ Gedichte wie das „Ruhe“ betitelte:

Die Traube ist reif, das Feld gepflügt.
Von den Wolken löst sich der Berg.

Auf die staubigen Sommerspiegel
ist der Schatten gefallen.

Zwischen den unsicheren Fingern
ist ihr Licht klar
und fern.

Mit den Schwalben flieht
die letzte Qual.

Von solchen Versen sagte seinerzeit der Kritiker Alfredo Gargiulo, ihre Diktion wirke wie eine Folge natürlicher Atemzüge. Auf einer etwas höheren Stufe der Verdichtung steht das folgende Stück, das, wie „Die Insel“, des Dichters Wunschtraum von der Überwindung der Zeit gestaltet, die Suche nach einer Windstille der Gefühle, einem mythisch unbewegten Glück

Wo das Licht

Wie wogende Lerche
Im heiteren Wind über jungen Wiesen
Leicht wissen dich die Arme, komm.

Vergessen werden wir, was ist,
Das Böse und den Himmel,
Und mein kriegerisch rasches Blut,
Schritte erinnerungsschwerer Schatten
In den Gluten neuer Morgenstunden.

Wo das Licht reglos im Laub,
Träume und Ängste zu anderen Ufern entflohn,
Wo der Abend ruht,
Komm, dorthin will ich dich tragen
Zu den goldenen Hügeln.

Befreit vom Alter, wird
Die dauernde Stunde
In ihrem verlorenen Glanz
Unser Laken sein.

Es fällt auf, daß viele Gedichte des Gefühls der Zeit die Windstille, die Ruhe, das erreichte Ende einer (besser wohl: jeder) Bewegung thematisieren. Ist es banausisch, darin eine geheime Entsprechung zum oder ein Symptom für das Ende der jugendlichen Auflehnung gegen die Tradition (im weiten Sinn), für die Rückkehr zur „Ordnung“ zu erblicken, die den Ungaretti der zwanziger Jahre geprägt haben? Zu dieser Gruppe rechne ich auch eines der schönsten Gedichte, die Ungaretti geschrieben hat, veranlaßt durch den Freitod eines sechzehnjährigen Mädchens aus seinem Bekanntenkreis:

Gedenken an Ofelia d’Alba

Zu früh
tranket ihr, vorzeitig gedankenvoll,
all dies eitle Licht, schöne Augen,
gesättigt hinter gesenkten Lidern −
schwerelos nun.
In euch Unsterblichen
suchen die Dinge,
denen ihr folgtet unter verfrühten Zweifeln,
glühend ob ihres Wandels,
Frieden.
Zur Ruhe kommen werden sie bald
auf dem Grunde eures Schweigens −
verbraucht:
ewige Embleme, Namen,
reine Beschwörungen…

Die Aufgabe für den Leser dieses teils mit neu platonischen, teils mit barocken Reminiszenzen unterlegten Textes (angemessen ist nur ein lautes Lesen) besteht darin, die weise gesetzten Pausen wiederzufinden und so die entscheidenden Elemente (aber welche wären es bei dieser Art des Dichtens nicht?) „ans Licht zu heben“. Man sieht hieraus, daß Ungaretti in seiner zweiten Phase keineswegs die Poetik des isolierten Wortes verabschiedet hat: er hat sie nur in einen neuen, größeren syntaktisch-metrischen Zusammenhang gestellt. Ähnliches gilt für das kurze Gedicht „Gefühl der Zeit“, das dann den Titel des ganzen Zyklus hergegeben hat. In ihm ist der Dichter so weit gegangen, daß er, zugunsten des beschwörenden Charakters der Einzelteile, sogar auf die Setzung eines finiten Verbums verzichten wollte. (Inhaltlich finden wir hier die erste Anspielung auf das Gefühl des Alterns.)

Und schauend das rechte Licht,
während ein leichter lila Schatten
auf das tiefere Joch fällt,
die Ferne offen dem Maß,
jeder Pulsschlag, wie das Herz es gewohnt,
doch jetzt hör’ ich ihn,
beeil dich, Zeit, auf meine Lippen
deine letzten Lippen zu drücken.

Eine Sonderstellung im Ganzen des Gefühls der Zeit nimmt die Folge „Hymnen“ ein. In ihnen spreche sich, gibt Ungaretti an, eine religiöse Krise aus, die von Millionen Menschen und ihm selbst in einem der dunkelsten Jahre der Nachkriegszeit (1929) durchlebt worden sei. Schon in der Heiterkeit war da und dort die Frage aufgeklungen: Was ist Gott? „Warum giere ich nach Gott?“ Die geschichtlichen Ereignisse der frühen zwanziger Jahre (Machtergreifung und erste Untaten des Faschismus) lassen nun die Gottsuche und das Rechten mit dem Kainsmenschen zum beherrschenden Thema werden – gelegentlich wiederum in hintergründiger Verknüpfung mit dem Problem der Inspiration, des dichterischen Schaffens. Nach seiner Rückkehr zum Katholizismus fühlt sich der Dichter als stellvertretender Dulder, „ausgestoßen inmitten der Menschen“, doch leidend für sie; nicht mehr zu ihrem Führer berufen wie die Seher-Dichter Carducci und D’Annunzio, auch nicht mehr selbstherrlicher Außenseiter wie die „poètes maudits“, sondern gewillt, für seine leidenden und irrenden Brüder zu beten. Für diese Phase stehe als Beispiel das (ziemlich deklamatorische) Gebet:

Wie friedlich mußte kreisen
Die Welt, ehe der Mensch war.

Der Mensch machte aus ihr Gespött von Dämonen,
Seine Zügellosigkeit nannte er Himmel,
Seinen Wahn erhob er zum Schöpfer,
Als ewig setzte er den Augenblick.

Das Leben ist ihm unmäßige Last,
Wie drunten jener Flügel der toten Biene
Der Ameise, die ihn schleppt.

Von dem, was dauert, zu dem, was schwindet,
O Herr, gefesteter Traum,
Laß wieder gelten einen Pakt.

O erhelle diese Kinder,
Laß den Menschen wieder fühlen,
Daß du, als Mensch, aufstiegst zu deiner Gottheit
Durch unermeßliches Leiden.

Sei du das Maß, sei du das Geheimnis!
Reinigende Liebe,
Laß wieder eine Treppe der Erlösung sein
Das Fleisch, das trügende.

Laß mich wieder dein Wort vernehmen,
Daß, in dir endlich vernichtigt,
Die Seelen sich vereinigen
Und droben bilden,
Ewige Menschheit,
Deinen seligen Schlaf.

In diesem Gedicht begegnen wir der spezifisch Ungarettischen Weise von Zeitkritik, von dichterischem In-der-Welt-Sein; daran wird sich auch nach 1943 nichts ändern. Zweifellos war unter dem Faschismus, von dem sich der Dichter inzwischen diskret distanziert hatte, eine solche moralisch-metaphysische „Opposition“ die einzige, welche die herrschende Diktatur als unverfänglich betrachten und dulden konnte. So erklärt es sich, daß Ungaretti nicht in die innere Emigration zu gehen brauchte wie viele seiner italienischen Dichterkollegen (Mitte der dreißiger Jahre ergriff er jedoch die willkommene Gelegenheit, sich – wenn auch ohne äußeren Druck – geographisch zu distanzieren); so erklärt sich letztlich die reale Möglichkeit seines doppelgleisigen, bald esoterischen, bald exoterischen Dichtens.
Die Thematik der „Hymnen“ nahm Ungarettis nächstes Werk Der Schmerz (1937–1946) vorweg. Drei Leiderfahrungen bilden den biographischen Hintergrund des neuen Zyklus: der Tod des Bruders, der Tod des neunjährigen Söhnchens Antonietto in São Paulo, wo der Dichter seit 1936 einem Lehrauftrag an der Universität nachkam, und schließlich der objektive Schmerz, das Mit-Leiden am Krieg, am Schicksal Roms, seines Landes und der Menschheit nach der Rückkehr, 1943.
Was sich indessen an diesem dritten Kreuzweg des Ungarettischen „Menschenlebens“. durchgreifend gewandelt hat, ist der dichterische Stil. Nur die Folge Tag für Tag setzt im großen und ganzen den gedrängten, aber überwiegend schlichten Fragmentismus fort, der einst die dichterische Handschrift Ungarettis gekennzeichnet hatte. Die übrigen Stücke dagegen zeigen einen bisher unbekannten Zug zum Extensiven. An die Stelle der Aufreihung syntaktischer Parzellen, die wir soeben noch am Beispiel des „Gebets“ beobachten konnten, treten nun große Satzkonstruktionen, die sich über viele Verse hinweg erstrecken und denen besessene Worthäufungen, Hyperbata und zyklopisch übersteigernde Vergleiche ihr Gepräge geben.
Am kürzesten und populärsten läßt sich die neue Manier Ungarettis als barock kennzeichnen. Barockes Antithesenspiel war auch in den früheren Werken da und dort begegnet. So war in der Heiterkeit das Gedicht „Nostalgia“ in die paradoxe Pointe ausgeklungen: „Und wie fortgetragen – Bleibt man zurück.“ Im Gefühl der Zeit war von „flammenden Schatten“, von „stimmlosen Schreien“ die Rede gewesen, und auch die „Verdinglichung pastoraler Thematik“ im Gedicht „Die Insel“ hat Leo Spitzer, Friedrichs Deutung korrigierend, mit preziösen und barocken Verfahrensweisen in Verbindung bringen und einleuchtend begründen können. Im Schmerz nun steigert sich einerseits die besagte Antithetik über perfekte Gongorismen („die feuerlosen Feuer der Vergangenheit“) bis zur Verbindung von Wortspielen zweiten Grades mit barocker Ich-Spaltung („Und mir selbst bin ich selber schon nichts mehr als das vernichtende Nichts des Gedankens“); andererseits wird immer wieder Erhöhung und Überhöhung der psychologischen oder sachlichen Aussage durch eine aufs Körperhaft-Große zielende Metaphorik angestrebt. (Die „zyklopische“ brasilianische Tropenlandschaft und die grausige Ungeheuerlichkeit der Zeitereignisse mochten dieses Verfahren dem Dichter als angemessen erscheinen lassen.) Obwohl nun all diese Kunstmittel mit erfahrener Hand gesetzt werden, kann sich der Leser wohl kaum des entschiedenen Eindrucks erwehren, daß das Dichterische in diesem Zyklus spärlich ist und die Deklamation bei weitem überwiegt. Rhetorisch überspannte Prosa: das ist das erstaunliche Ergebnis, bei dem der Dichter des leisen Tons, des lyrischen Essentialismus in den schwächeren Momenten seiner dritten Station angelangt ist.
Hiervon ein einziges Beispiel- das dichterisch bei weitem geglückteste -, in dem die verzehrende Gewalt der Tropenlandschaft in eine packende Antithetik zur grazilen Menschlichkeit des verstorbenen Knaben gebracht ist.

Du zerbrachst

I
Die vielen, grausigen, verstreuten, grauen Felsen
Bebend noch unter den geheimen Schleudern
Erstickter Urflammen
Oder unter den Schauern jungfräulicher Ströme
Dahinbrausend in unerbittlichen Liebkosungen −
Steil über dem Geflimmer des Sandes
In einem leeren Horizont, erinnerst du dich nicht?
Und der überhängenden Araucaria,
Aufgetan dem einzigen Schattenfleck im Tal,
Ins Riesenhafte gewachsen vor Sehnsucht

……………………

Erinnerst du dich nicht der stummen Fiebernden
Über drei Handbreit eines runden Kiesels
In vollkommener Schwebe
Magisch erscheinend?

Von Ast zu Ast, ein leichtes Vöglein,
Wundertrunken die gierigen Augen,
Erobertest du den zerrissenen Wipfel,
Verwegenes, musisches Kind,

Um auf dem klaren Grund
Eines tiefen und ruhigen Meeresschlundes
Märchenhafte Schildkröten
Unter den Algen erwachen zu sehn.

Der Natur äußerste Spannung
Und der Prunk der Meerestiefe −
Düstere Mahnungen.

2
Wie Flügel hobst du die Arme
Und gabst neue Geburt dem Wind
Dahinlaufend in der Schwere der reglosen Luft.

Niemand sah dich je
Zur Erde setzen
Den leichten Tänzerfuß.

3
Glückliche Anmut.
Du mußtest zerbrechen
In soviel harter Blindheit −
Du, bloßer Hauch und Kristall,

Allzu menschlicher Blitz für dieses
Ruchlose, waldene, erbitterte, summende
Gebrüll einer nackten Sonne.

Mit Recht hat die Ungaretti-Philologie auf eine sich schrittweise entwickelnde Leitmotivik und auf bestimmte Verzahnungen zwischen den verschiedenen Stufen des Werkes hingewiesen; im Verein mit den natürlichen Stationen dieses „Menschenlebens“ ergibt sich so im ganzen zwar keine strenge Architektonik, wie sie manche französischen und spanischen Symbolisten anstrebten, aber immerhin ein organischer Zusammenhang, der dazu beiträgt, Ungarettis Lebenswerk geistig zu legitimieren. Wir sahen bereits, wie sich in den letzten Gedichten der Heiterkeit das Gefühl der Zeit ankündigt und wie dessen Hymnen wiederum die Thematik des Schmerzes vorausnehmen. Der biographische Ansatz zum vierten „Akt“, dem Gelobten Land, liegt unverkennbar in den „Glückwünschen zum eigenen Geburtstag“ am Ende des Gefühls der Zeit:

Sanft neigt sich die Sonne.
Vom Tage trennt sich
Ein allzu heller Himmel.
Einsamkeit ergießt sich,

Wie aus großer Ferne
Bewegung von Stimmen.
Schmeichelnde Kränkung,
Seltsame Kunst dieser Stunde.

Ist’s nicht erstes Erscheinen
schon des freien Herbstes?
Mit unverschiedenem Geheimnis

Eilt in der Tat sich zu vergolden
Schöne Zeit, die fortnimmt
Das Geschenk der Narrheit.

Und doch und doch möchte’ ich schrein:
Rasche Jugend der Sinne
Die du mein Selbst mir verdunkelst
Und dem Ewigen Bilder verleihst:

Laß mich noch nicht, Leiden!

Den Übergang vom Sommer zum Herbst des Lebens hatte Ungaretti zunächst in wenigen „Quartine d’autunno“ (Herbstvierzeilern) poetisch zu gestalten versucht, aber die Zeit in Brasilien, das subjektive und objektive Leid hatten diese spärlichen Entwürfe zurückgedrängt und zur Entladung des Schmerzes geführt. Dann erst fand Ungaretti zur seelischen Disposition jener früheren Jahre zurück. Aber nun stellte sich wieder der für den Rhythmus seines Schaffens kennzeichnende Pendelausschlag ein: die allzu persönlichen, allzu mitteilsamen Ausbrüche des Schmerzes mußten Objektivierung und Verwandlung ins Mythische ablösen. Doch greift der Dichter diesmal nicht, wie im Gefühl der Zeit, zu Gestalten des klassischen Mythos, sondern zu solchen der klassischen Literatur: er nimmt Anleihen auf bei Vergil, dessen überraschende Neuentdeckung in der modernen italienischen Lyrik uns Herbert Frenzel in einem schönen Vortrag erkennen lehrte. Äneas, Dido und Palinurus sind die drei Masken, deren sich Ungaretti zur Transposition seiner Selbstaussage bedient. Äneas ist des Dichters sentimentalisches Idealbild: er ist Schönheit, Jugend, Naivität auf immerwährender Suche nach dem „gelobten Land“, in dessen – freilich vergänglicher – Schönheit er verzaubert die eigene wiederfindet und betrachtet. Dido hingegen ist Herbstgestalt, physische Erfahrung des unwiderruflichen Abschieds von den letzten Schauern der Jugend. In der Palinurus-Episode hat Ungaretti das geistige und seelische Problem des schaffenden Künstlers gestaltet, den Kampf zwischen der „Verführung des Schlafs“ und den „Impulsen zur Tat“, die Frage auch nach dem Sinn einer Arbeit, die unwiderruflich der Vergänglichkeit geweiht ist. Hervorzuheben ist wiederum, daß Ungaretti auch dieses Werk in ein geschichtliches Koordinatensystem gestellt wissen wollte (wobei nun allerdings die forcierte Esoterik ein Mißverhältnis zwischen Absicht und Verwirklichung argwöhnen läßt). Das Gelobte Land enthalte, so vermerkt er, viele Fakten seines eigenen Lebens „und des Lebens seiner Nation“. Und in den Klagen Didos spiegele sich nicht nur das Drama einer Person, sondern auch das einer Kultur, „denn auch die Kulturen entstehen, wachsen, neigen sich dem Untergang zu und vergehen“.
In der Form, wie es seit 1950 vorliegt, ist das Gelobte Land ein Torso: die geplanten Chöre des Äneas fehlen. Das einleitende Stück ist eine Canzone, deren Beginn sich an der Unterweltreise des Äneas inspiriert. Neunzehn „beschreibende Chöre“ sollen vom „Seelenzustand“ Didos künden. Das Palinurus-Gedicht endlich wird als „Rezitativ erzählenden Charakters“ vorgestellt. (Vier andere, kleinere und isolierte Stücke können hier übergangen werden.) Merkwürdig ist, daß die Titelbegriffe Strukturelementen der alten Oper entsprechen. Enthielt der unausgeführte Gesamtplan genauere Entsprechungen? Und wenn ja, in welchem Sinne ist dieser Parallelismus zu verstehen? Leider hat Ungaretti, soviel ich weiß, hierüber keinen Aufschluß gegeben, und auch keiner der zahlreichen Interpreten, die zu seinen Lebzeiten zu ihm gewallfahrtet sind, scheint diese naheliegende Frage an ihn gerichtet zu haben.
Während sich die Dido-Chöre in dem uns nun schon wohlvertrauten Bereich einer verschieden überhöhten Erlebnis- und Erscheinungspoesie halten, stellen die beiden großen Stücke, die „Canzone“ und das „Rezitativ des Palinurus“, den Gipfel der Esoterik bei Ungaretti dar. Die Canzone geht von einer auf die persönliche Problematik bezogenen Umdeutung der Unterweltsfahrt des Äneas aus, um Zug für Zug dem zuzustreben, was der Dichter selbst als „Realität zweiten Grades“ bezeichnet: der Verlagerung der Motive aus der Sphäre der Wirklichkeit der Sinne in die der intellektiven Wirklichkeit. Unnötig zu sagen, daß dieser zweite Realitätsgrad weder rational darzustellen noch rational zu erfassen ist. Die „Canzone“ ist tönende Suggestion, eine Aufeinanderfolge magischer Klangfiguren; und der Leser soll nun nicht mehr als ein Selbsttätiger in den dichterischen Prozeß einbezogen, sondern vielmehr in den Zustand einer unbestimmbaren poetischen Verzauberung versetzt werden, in dem sich die große Linie einer „Aussage“ soeben noch zweifelnd erahnen läßt.
Bemerkenswerterweise bezeichnen diese Höhepunkte der lyrischen Metaphysik bei Ungaretti zugleich auch die Momente der größten Formenstrenge in seinem Werk. Mit der „Canzone“ kehrt der Dichter zur klassischen Großform der italienischen Lyrik zurück; das „Rezitativ des Palinurus“ greift gar eine der schwierigsten aller lyrischen Formen wieder auf, die provenzalische Sextine: in sieben Strophen verweben sich in immer neuen Wandlungen die sechs gleichbleibenden Richt- und Reimwörter. Es ist nicht verwunderlich zu erfahren, daß Ungaretti dreizehn Jahre lang an diesen Gebilden geprobt und geformt hat. Sie zu übersetzen, ist ein verzweifeltes Beginnen – den Beweis liefert ein wohlgemeinter Versuch H. Frenzels. Doch hat Ungaretti sein unermüdliches Ringen um das poetische Bild – um Wirklichkeit und Schein und ihre dichterische Werthaftigkeit – bis zuletzt auch in die faßlichere Erlebnissphäre projiziert. Zwei seiner schönsten Gedichte sollen das belegen. Der neunte Dido-Chor objektiviert das Altersgefühl der wachsenden Distanz von der sinnlichen Wirklichkeit in einer Liebesklage der verlassenen Prinzessin:

Nicht ziehn mich mehr die Irrlandschaften
Des Meeres an, noch der Morgendämmerung
Zerreißende Fahlheit auf diesen oder jenen Blättern;
Nicht mehr kämpf’ ich auch mit dem Felsenblocke,
Uralte Nacht, die auf den Augen ich trage.

Die Bilder, wozu sie
Mir, der Vergessenen?

In einem Text des darauffolgenden Werkes (Notizbuch des Alten, 1960) hat sich die verhaltene Emphase dieses Rollengedichts zur Gelassenheit dessen abgeklärt, der sich selbst und die Rätsel dieser Welt schon mit jenseitigem Auge zu sehen beginnt; Vorgefühl der Erfüllung im Tod im Zeichen der Dialektik von Schein und Sein:

Jedes Jahr, wenn ich entdecke, wie Februar
Reizsam und, aus Scham, wirr und trübe ist,
Bricht, mit kleinen gelben Blüten,
Die Mimose herein. Sie fügt sich ins Fenster
Meiner Behausung von einst, der gleichen,
Wo ich nun die alten Jahre verbringe.

Während ich mich nahe dem großen Schweigen –
Soll sie ein Zeichen sein, daß nichts vergeht,
Wenn immerfort die Erscheinung zurückkehrt?

Oder werd’ ich endlich wissen, daß der Tod
Herrschaft nur hat über den Schein?

Das Notizbuch des Alten besteht in der Hauptsache aus 27 unzusammenhängenden lyrischen Meditationen, die der Verfasser überraschenderweise als „letzte Chöre des Gelobten Landes bezeichnet. Wohlgemerkt: es sind nicht die versprochenen Chöre des Äneas, und zur objektiven, mythischen Thematik des vorausgehenden Zyklus besteht kein erkennbarer Zusammenhang. Rechnet diese neue Folge als letzte Station des Menschenlebens? Ungaretti selbst erklärte damals in müder Bescheidenheit, für den Autor dürften die behandelten Motive eigentlich „gar nicht mehr als Bestandteile seines Werkes“ zählen.
Es sollten dennoch zwei weitere „Nachträge“ folgen. 1966 lernte der nunmehr Achtundsiebzigjährige Bruna Bianco, eine junge brasilianische Dichterin, kennen und tauschte mit ihr eine Folge von Liebesgedichten aus, die als Dialogo dem Gesamtwerk angeschlossen sind. (Eine limitierte Ausgabe war 1968 vorausgegangen, beide enthalten auch die – durchaus niveauvollen – Verse Brunas.) Und 1969 kam es noch zu einer Begegnung mit „Dunja“, einer jungen Kroatin („bebendes Langbein“), die den Dichter an die gleichnamige kroatische Kinderfrau („zärtlichste, vielerfahrene Fee“) erinnerte, der Ungarettis Mutter den kleinen Giuseppe in Alexandria hatte anvertrauen müssen. Dunja sind drei Texte gewidmet. Alle diese allerletzten Gedichte stehen unter dem ehrwürdigen Signum: Leidenschaft macht leiden. Brunda tritt zu Beginn in rotem Kleid auf, so wie Dante die kindliche Beatrice in der „Vita nova“ erschienen war. („Du erschienst im Tor / in einem roten Kleid, / mir zu sagen, daß du Feuer bist, das verzehrt und wieder entzündet…“) Noch einmal gelingt Ungaretti ein sehr impulsiver und quasi-jugendlicher Text, „Geschenk“:

Schlaf jetzt, unruhiges Herz,
schlaf jetzt, los, schlafe.

Schlafe, Winter ist bei dir
eingezogen, bedroht dich,
schreit: „Töten werde ich dich,
und keinen Schlaf wirst du mehr finden.“

Mein Mund, sagst du, schenkt
deinem Herzen Frieden,
los, schlaf, schlaf in Frieden,
hör, hör auf deine Liebste,
willst du den Tod besiegen, unruhiges Herz.

Am 2. Juni 1970 hat dieses unruhige Herz zu schlagen aufgehört.

Hans Hinterhäuser, aus Hans Hinterhäuser: Italienische Lyrik im 20. Jahrhundert, R. Piper Verlag, 1990.

Stimme zu Ungaretti

Man beachte, daß Ungaretti der einzige ist, der jederzeit einen aktuellen Status besessen hat: Andere Dichter wie Saba z.B. sind – obgleich sie ebenso beständig zu uns gesprochen haben – eher zu Randerscheinungen geworden (was, wohlgemerkt, nicht als Werturteil gemeint ist), und wieder andere, wie Sbarbaro, Rebora oder Campana, die mit ähnlicher Heftigkeit zu uns sprachen, sind an der Schwelle des 20. Jahrhunderts zurückgeblieben… Bei Ungaretti finden wir in natürlicher Weise ausgedrückt, was eine der möglichen Definitionen des italienischen Hermetismus sein könnte: eine petrarkesk-leopardianische Patina auf einer zutiefst expressionistischen Sprache (mit barocken und romantischen Einschlägen)…
Wenn man sprachliche Tradition und religiöses Bekenntnis unter dem Schlüsselbegriff der Autorität einerseits und sprachliche Revolution wie Häresie unter dem Schlüsselbegriff individueller und gewalttätiger Freiheit andererseits zusammenfaßt, wird es leicht, ein komplexes und vielsagendes Bild Ungarettis zu entwerfen… Unterhalb der gleichbleibend strengen, anspruchsvollen sprachlich-religiösen Suche (wahrscheinlich hegt kaum ein anderer Dichter ein so eingefleischtes Vertrauen in die Dichtung und in die Literatur wie Ungaretti) fließt der Strom seiner überschäumenden, äußerst lebhaften Sinnlichkeit: Ihr sind die köstlichsten Syntagmen der Freude – die üppigsten Satzgefüge des Zeitgefühls, die schwierigsten Versmaße des Schmerzes zu verdanken.

Pier Paolo Pasolini

Seine Unbedarftheit und seine Leidenschaft machen all seine Formstrenge zunichte, drängen sie auf eine Außenseiterposition zurück… Sein Klassizismus ist immer von einem romantischen Moment unterwandert, wie auch sein Katholizismus von einem häretischen Moment untergraben wird. So kommt es, daß das Credo des Schmerzes fast ein Glaubensbekenntnis ist, und seine Sprache fast die der Tradition. Ungarettis spätere Nähe und Treue zur Freude ist größer, als man gemeinhin annimmt.

Pier Paolo Pasolini

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber
Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Ungaretti: Die lichtvolle Hermetik
Die Tat, 10.2.1973

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Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
Nachruf auf Giuseppe Ungaretti: Tat

 

Giuseppe Ungaretti liest Inno alla morte.

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